Rückkehr der Reaktion
Von Vijay Prashad
Vijay Prashad lebt in Chile und ist Direktor des Tricontinental-Instituts für Sozialforschung. Der vorliegende Text erschien zuerst im Onlinemagazin Peoples Democracy. Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung des Autors eine redaktionell gekürzte Übersetzung. (jW)
Brasiliens Jair Bolsonaro und Argentiniens Javier Milei wirken immer zornig. Sie sprechen stets laut und aggressiv. Testosteron scheint aus ihren Poren zu tropfen – ein toxischer Schweiß, der sich über die gesamte Region ausgebreitet hat. Es wäre leicht zu behaupten, dies sei die Wirkung von Donald Trumps eigener Spielart des Neofaschismus. Doch die extreme Rechte hat viel tiefere Wurzeln, verbunden mit der Verteidigung oligarchischer Familien, deren Geschichte bis in die Kolonialzeit und die damaligen Vizekönigreiche von Neuspanien bis zum Río de la Plata zurückreicht. Sicherlich lassen sich diese rechten Männer und Frauen von Trumps Aggressivität und vom Aufstieg Marco Rubios – einem leidenschaftlichen Verteidiger der extremen Rechten in Lateinamerika – zum US-Außenminister inspirieren. Diese Inspiration und Unterstützung sind bedeutend, aber sie erklären nicht die Rückkehr jener wütenden Flut, die in ganz Lateinamerika steigt.
An der Oberfläche sieht es so aus, als hätte die extreme Rechte einige Niederlagen erlitten: Jair Bolsonaro sitzt wegen seiner Rolle bei dem gescheiterten Staatsstreich vom 8. Januar 2023 für sehr lange Zeit im Gefängnis. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen in Chile erhielt die Kandidatin der Kommunistischen Partei, Jeannette Jara, die meisten Stimmen und wird das Mitte-Links-Bündnis in die zweite Runde (14. Dezember) führen. Trotz aller Versuche, die venezolanische Regierung zu stürzen, bleibt Präsident Nicolás Maduro an der Macht und mobilisiert große Teile der Bevölkerung zur Verteidigung der Bolivarischen Revolution gegen jegliche Bedrohungen. Und Ende Oktober 2025 stimmte die überwältigende Mehrheit der Staaten in der UN-Generalversammlung für eine Resolution, die ein Ende der Blockade gegen Kuba fordert. Doch unter der Oberfläche zeigen sich Anzeichen dafür, dass Lateinamerika nicht die Rückkehr der sogenannten Rosa Welle (nach der Wahl Hugo Chávez’ 1998 in Venezuela) erlebt, sondern den Aufstieg einer wütenden Flut, die langsam die Region von Zentralamerika bis zum südlichen Kegel erfasst.
Wahlen in Südamerika
Die erste Runde der chilenischen Präsidentschaftswahl brachte ein beunruhigendes Ergebnis. Während Jara von der Kommunistischen Partei 26,85 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 85,26 Prozent gewann, lag der Rechtsaußen José Antonio Kast mit 23,92 Prozent auf dem zweiten Platz. Evelyn Matthei von der traditionellen Rechten erreichte 12,5 Prozent, während der extrem rechte Kandidat Johannes Kaiser – früher an Kasts Seite, nun noch weiter rechts – 14 Prozent erhielt. Es ist wahrscheinlich, dass Jara einige Stimmen aus der Mitte gewinnen wird, jedoch nicht genug, um den Vorteil der extremen Rechten aufzuholen, die offenbar mehr als 50 Prozent der Wählerschaft hinter sich vereinen kann. Der sogenannte sozialliberale Franco Parisi, der auf Platz drei kam, unterstützte Kast bereits 2021 und wird dies vermutlich erneut tun. Das bedeutet, dass in Chile das Präsidentenamt wahrscheinlich in die Hände eines Mannes der extremen Rechten fällt, dessen Vater Mitglied der NSDAP war und der Justiz durch die Hilfe des Vatikans entkommen konnte. Er selbst hielt die chilenische Diktatur von 1973 bis 1990 rückblickend für eine gute Idee.
Nördlich von Chile gewann in Bolivien der neue Präsident Rodrigo Paz Pereria – Sohn eines ehemaligen Präsidenten – die Stichwahl gegen den Rechtsaußen Jorge »Tuto« Quiroga, ebenfalls ehemaliger Präsident. In dieser Wahl gab es keinen linken Kandidaten, nachdem die Bewegung zum Sozialismus (MAS) Bolivien von 2006 bis 2025 ununterbrochen regiert hatte. Pazʼ Partei hat nur eine Minderheit im Parlament, weshalb er sich wohl mit Quirogas Libre-Koalition arrangieren muss. Er wird vermutlich eine pro-US-amerikanische Außenpolitik und eine libertäre Wirtschaftspolitik verfolgen.
In Peru wird im April gewählt, wo der frühere Bürgermeister von Lima, Rafael López Aliaga, als Favorit gilt. Er weist die Bezeichnung »rechtsaußen« zurück, vertritt aber alle typischen Positionen der extremen Rechten (ultrakatholisch-konservativ, Befürworter harter Sicherheitsmaßnahmen und einer libertären Wirtschaftsagenda). In Kolumbien wird Iván Cepeda voraussichtlich der Kandidat der Linken für die Präsidentschaftswahl im Mai 2026 sein, da dort keine zweite Amtszeit erlaubt ist. Cepeda wird auf starke Gegenwehr der kolumbianischen Oligarchie treffen, die das Land wieder unter ihre Kontrolle bringen will.
Bolsonaros Liberale Partei (PL) ist der größte Block im brasilianischen Nationalkongress. Es ist wahrscheinlich, dass Luiz Inácio Lula da Silva aufgrund seiner starken persönlichen Bindung zur Wählerschaft im nächsten Jahr wiedergewählt wird. Der Kandidat der extremen Rechten – entweder Tarcísio de Freitas, der Gouverneur von São Paulo, oder ein Mitglied der Bolsonaro-Familie – wird es schwer gegen ihn haben. Doch die PL wird im Senat weiter an Einfluss gewinnen. Ihre Kontrolle über die Legislative hat die Regierung bereits jetzt in die Enge getrieben und ein Sieg im Senat würde ihre Macht weiter ausbauen.
Gemeinsame Agenda
Die meisten Politiker der wütenden Flut, die derzeit Wellen schlagen, wurden in der Zeit nach den Diktaturen politisch sozialisiert. Die 1990er Jahre setzten die wirtschaftliche Stagnation fort, die die 1980er – das verlorene Jahrzehnt (La Década Perdida) – geprägt hatte: geringes Wachstum, schwach entwickelte komparative Vorteile und eine erzwungene Integration in die Globalisierung. In diesem Kontext entwickelten sie ihre Agenda.
So befürwortet die extreme Rechte Lateinamerikas typischerweise die Ära US-gestützter Militärdiktaturen. Linke Ideen – ob aus der kubanischen Revolution von 1959 oder aus der Zeit der Rosa Welle nach 1998 – sind für diese politischen Kräfte inakzeptabel. Dazu gehören Agrarreform, staatlich gelenkte Finanzierung zur Industrialisierung, staatliche Souveränität und die Bedeutung von Gewerkschaften für Arbeiter und Bauern. Der Antikommunismus dieser wütenden Flut ist wie Muttermilch für ihre Politiker und wird geschickt eingesetzt, um Teile der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen.
Die wirtschaftlichen Vorstellungen der wütenden Flut werden stark von den chilenischen »Chicago Boys« beeinflusst, darunter Kasts Bruder Miguel, der Leiter von Pinochets Planungskommission, sein Arbeitsminister und Chef der Zentralbank war. Sie berufen sich direkt auf die libertäre Österreichische Schule (Friedrich Hayek, Ludwig von Mises, Murray Rothbard sowie Milton Friedman). Diese Ideen wurden in gut finanzierten Thinktanks kultiviert, etwa dem 1978 gegründeten argentinischen Centro de Estudios Macroeconómicos und dem zwei Jahre jüngeren chilenischen Centro de Estudios Públicos. Mileis berühmte Kettensägenstunts verdeutlichen diese Politik, die nicht nur auf Kürzungen der Sozialleistungen abzielt, sondern auf die Zerstörung der staatlichen Handlungsfähigkeit selbst.
Aufbauend auf Wellen der Antigenderideologie und der Antimigrationsrhetorik hat die wütende Flut schließlich konservative evangelikale Christen und große Teile der desorientierten Arbeiterklasse anziehen können. Die extreme Rechte behauptet, die Gewalt in den Vierteln der Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch die Drogenindustrie verursacht wird, sei durch »Liberalismus« gefördert worden und nur harte Gewalt – wie sie El Salvadors Präsident Nayib Bukele demonstriert – könne Abhilfe schaffen. Deshalb will sie Militär und Polizei stärken sowie verfassungsmäßige Beschränkungen des Gewalteinsatzes außer Kraft setzen.
Zusätzlich hat die extreme Rechte zahlreiche Verschwörungstheorien übernommen, wonach »Eliten« durch »globalisierte« Ideen angeblich die Kultur ihrer Nationen zerstören wollten. Diese Vorstellung ist absurd, zumal sie von politischen Kräften stammt, die die vollständige Öffnung ihrer Gesellschaften für US-Konzerne propagieren und keinerlei Respekt für die historischen Kämpfe der Arbeiter und Bauern haben. Ein Teil dieses Kulturkampfes ist die Verherrlichung des individuellen Unternehmers als Motor der Geschichte und die Abwertung der sozialen Reproduktion.
Diese drei Elemente bilden ein robustes ideologisches Fundament, um Teile der Bevölkerung glauben zu machen, sie seien die Retter des Kontinents. Die lateinamerikanische extreme Rechte wird von Trump und dem internationalen Netzwerk der spanischen extremen Rechten – dem 2020 von der Vox-nahen Fundación Disenso gegründeten Foro Madrid – unterstützt. Finanziert wird sie vor allem von alten Eliten, die die traditionelle Rechte zunehmend zugunsten dieser neuen, aggressiven Kräfte verlassen.
Krise der Linken
Die Linke hat bislang keine angemessene Analyse des Aufstiegs dieser neuen Parteien entwickelt und es nicht geschafft, eine überzeugende, lebendige politische Agenda zu formulieren. Eine tiefe ideologische Krise lähmt die Linke, die nicht entscheiden kann, ob sie ein Bündnis mit der traditionellen Rechten und liberalen Kräften zur Wahlteilnahme schmieden oder eine Volksfront aus Arbeiterklasse und Bauernschaft aufbauen soll, um gesellschaftliche Macht als Voraussetzung für einen ernsthaften Wahlantritt zu schaffen.
Das Beispiel der ersten Strategie (Wahlbündnisse) kommt aus Chile, wo zunächst 1988 die Concertación de Partidos por la Democracia gebildet wurde, um Parteien der Diktatur von der Macht fernzuhalten. Und dann 2021 Apruebo Dignidad, das Gabriel Boric aus dem gemäßigten Frente Amplio zum Präsidenten machte. Außerhalb Chiles gibt es jedoch kaum Hinweise, dass diese Strategie funktioniert. Die zweite Strategie wird schwieriger, da die gewerkschaftlichen Organisationsgrade drastisch gesunken sind und die Plattformökonomie (Uberisierung) die Arbeiterklasse vereinzelt und ihre Kultur untergräbt.
Bemerkenswert ist, dass Boliviens ehemaliger sozialistischer Vizepräsident Álvaro García Linera nach New York blickte, um Inspiration zu finden. Zohran Mamdanis Sieg bei der jüngsten Bürgermeisterwahl zeige, »dass die Linke mutig sein und eine neue Zukunft entwerfen muss«. Mandani selbst will vor allem eine veraltete New Yorker Infrastruktur sanieren, statt die Stadt zum Sozialismus zu führen. García Linera erwähnte seine eigene Zeit in Bolivien nicht, in der er zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten Evo Morales versuchte, eine sozialistische Alternative aufzubauen.
Die Linke wird mutig sein und eine neue Zukunft formulieren müssen – doch sie muss aus ihren eigenen Geschichten des Kampfes und des sozialistischen Aufbaus entstehen.
Übersetzung aus dem Englischen: Philip Tassev
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