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Aus: Ausgabe vom 06.12.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Japan

Mitbestimmung verwehrt

Gewerkschaftsarbeit als Schwerverbrechen: Japan setzt alles daran, starke Beschäftigtenvertretungen zu verhindern – mit Erfolg. Ein Besuch in der Region Osaka
Von Igor Kusar
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Etwa 1.200 Menschen marschieren durch Osaka, um gegen die Unterdrückung der Gewerkschaft Kannama zu protestieren (16.11.2019)

Die Anwesenden im Saal des Tokioter Landgerichts verzogen ihre Mienen kaum, als das Urteil verlesen wurde. Doch innerlich brodelten sie. »Auf die anfängliche Enttäuschung folgte schnell einmal der Zorn«, sollte Koyano Takeshi Tage später die damalige Gefühlslage beschreiben. Koyano ist Generalsekretär der Gewerkschaft Zennikken, eines Zusammenschlusses von Lkw-Fahrern im Bausektor mit etwa 2.000 Mitgliedern. Es ist ein kalter Tag Ende Oktober. Fünfeinhalb Jahre hat die Gewerkschaft auf das Urteil gewartet – und jetzt das! Die Angeklagten – der japanische Staat und einige Präfekturen in Westjapan – wurden in allen Punkten freigesprochen. Sie hatten Polizei und Staatsanwaltschaft jahrelang freie Hand gelassen, um eine der landesweit aktivsten Gewerkschaften, die Kannama, in einer großangelegten Aktion zu zerschlagen. Zur Kannama – einer Untergruppe in Koyanos Vertretung Zennikken – gehören die Fahrer der Betonmischer-Lkw in der Region Osaka, Kansai genannt.

Beim Prozess standen die Methoden der Behörden auf dem Prüfstand: die vielen willkürlichen Verhaftungen, Untersuchungshaft bis zu fast zwei Jahren, die Drohung mit weiteren Verhaftungen und die Unverfrorenheit, vor Gewerkschaftlern offen mit dem offiziellen Ziel der Zerschlagung zu prahlen und zu drohen. »Wenigstens in einigen Punkten hofften wir auf Anerkennung«, meint Koyano. Sogar die linksliberalen Medien wie die auflagenstarke Asahi Shimbun hätten nach langem Schweigen vor der Urteilsverkündung Artikel über den Fall abgedruckt in der Erwartung, die Sache der Gewerkschaft werde Gehör finden. Doch so leicht lassen sich die Gewerkschafter um Koyano nicht entmutigen. »Wir werden den Fall weiterziehen«, sagt er bestimmt.

Für den jetzigen Chef von Kannama, Yukawa Yuji, ist die Sachlage klar: Die Gewaltenteilung funktioniere in Japan nicht, kommentiert er das Urteil. Die zuständige Richterin sei im Beziehungsgeflecht der Behörden gefangen, ihr gehe es nur darum, in diesem Netzwerk aufzusteigen. Sie werde sich nie gegen Polizei und Staatsanwaltschaft stellen und dadurch ihre Karriere gefährden. Natürlich gebe es unter den Richtern auch Ausnahmen, meint Yukawa. Trotzdem sei Japan kein moderner Staat. 644 Tage habe er in U-Haft verharrt, habe viel gelesen, fast jeden Tag ein Buch. Da sei ihm über vieles in seinem Land ein Licht aufgegangen. Die rechtlichen Standards, die im Westen herrschten, habe es in Japan nie gegeben. Auf meinen Einwand, da finde gerade ein Backlash statt, meint er nur, noch immer würden Welten zwischen hier und dort liegen, vor allem bei der Gewerkschaftsarbeit. Da könne es Japan nicht einmal mit Entwicklungsländern aufnehmen. Und ein Rechtsstaat sei Japan überhaupt nicht – fast alle Strafanklagen würden hier mit einem Schuldspruch enden.

Zu erfolgreich

Die Verhaftungen begannen im Sommer 2018 und dauerten über ein Jahr. Rund fünfzig Gewerkschaftler von Kannama und acht Unternehmer wurden für Aktionen, die oft Jahre zurücklagen, in Haft genommen. In vielen Fällen kam es zu einer Anklage, bei einigen gleich für mehrere angebliche Delikte. Yukawa, damals Vizechef, wurde achtmal verhaftet. Dies erlaubte es der Polizei, ihn nach einer Freilassung gleich wieder in Gewahrsam zu nehmen. Bei den meisten Anklagepunkten war er gar nicht direkt involviert. Sein »Verbrechen« war es vor allem, Vizechef gewesen zu sein.

Die Gewerkschaftsarbeit war bis 2017 eine Erfolgsgeschichte gewesen. Kannama schaffte es, durch forsches Auftreten in den Jahren zuvor die Betonproduzenten in Kansai unter einem Dach zu vereinen. Dies verschaffte der Branche immense Verhandlungsmacht gegenüber den Baufirmen. Die Betonpreise stiegen stark an und mit ihnen die Löhne der Fahrer. Doch diese für Japan ungewöhnliche Entwicklung stieß vielerorts auf Missfallen. Seit durch die Teilungsprivatisierung der nationalen Eisenbahn in den 1980er Jahren die Eisenbahnergewerkschaft geschwächt worden war, verschwanden Streiks allmählich aus dem japanischen Alltag.

Branchengewerkschaften hatten es danach schwer. Rund 95 Prozent der Beschäftigtenzusammenschlüsse existieren heute auf Firmenebene. Der Horizont der Gewerkschaftsarbeit hat sich dadurch verengt, der einstige Kampfgeist ist erlahmt – ganz im Sinne von Wirtschaft und Politik. Kannama ließ den alten Geist wieder aufleben und musste deshalb beseitigt werden, bevor ihr Beispiel Schule machen konnte. Man begann, entsprechende Pläne zu schmieden. Yukawa glaubt, dass höchste Regierungsstellen zumindest informiert gewesen seien. Die von der Yakuza – der japanischen Mafia – unterwanderte Betonbranche hat gute Verbindungen zur stärksten Partei in Kansai, der rechten Nippon Ishin no Kai. Und die unterhielt zu jener Zeit einen ständigen Draht zum damaligen Premierminister Abe Shinzo. Dieser wiederum hatte in seinem Führungsstab einige ehemalige Polizeibeamte sitzen.

Mit allen Mitteln

Die Chance zum Rundumschlag bot sich, als den Fahrern in Osaka versprochene Lohnerhöhungen vorenthalten wurden und Kannama Ende 2017 einen Generalstreik ausrief. Das Konglomerat aus Unternehmern und Polizei ging dabei nach einem perfiden Plan vor. Zuerst heuerte man eine Gruppe von ultrarechten Schergen um einen bekannten Rassisten an. Dieser hatte die Aufgabe, Kannamas Ruf zu zerstören. Bald schon wurden Falschmeldungen im Internet plaziert, die die Gewerkschaft als eine Organisation von Erpressern, Gangstern und asozialen Elementen diffamierten. Die Aktion war erfolgreich: Medien und Öffentlichkeit wandten sich von Kannama ab.

Kurz darauf begannen die Verhaftungen, gefolgt von einer Entlassungswelle der Gewerkschaftler. Die Polizei der verschiedenen Präfekturen in Kansai arbeitete bei den Festnahmen zusammen – eine Seltenheit. Außerdem waren es die für die Yakuza zuständigen Abteilungen, die ausrückten – die ultrarechten Schergen hatten mit ihrer Schmutzkampagne ganze Arbeit geleistet. Den Gewerkschaftern wurden vor allem vier Vergehen zur Last gelegt: Sie hätten durch Streiks und Gewaltdrohung die Firmengeschäfte behindert. Zweitens seien die angewandten Methoden und der ausgeübte Druck beim Zusammenschluss der Betonhersteller ungesetzlich gewesen. Drittens hätten sie mehrmals Vergleichszahlungen erpresst. Und schließlich seien ihre Compliance-Aktivitäten ungesetzlich.

Die Anklagepunkte wurden in acht getrennten Gerichtsprozessen verhandelt. Bis heute wurden zehn Gewerkschaftler für schuldig befunden und erhielten Gefängnisstrafen auf Bewährung, zwölf wurden freigesprochen, vier Gerichtsverfahren laufen noch. Die Staatsanwaltschaft beantragte in einem Prozess für Gewerkschaftsboss Yukawa eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Damit wird er in die Kategorie »Schwerverbrecher« eingestuft. Er wurde in diesem Gerichtsverfahren Anfang 2025 in erster Instanz in allen Punkten freigesprochen, die Staatsanwaltschaft hat den Fall jedoch weitergezogen.

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Seit 2018 sind die Fahrer der Betonmischer-Lkw Repressionen seitens des japanischen Staates ausgesetzt (Tokio, 22.11.2002)

Die japanische Nachkriegsgeschichte ist voll von Kämpfen und der Knebelung von Gewerkschaften. Diese Auseinandersetzungen wurden in den ersten Jahrzehnten nach 1945 mit enormer Wucht geführt. Doch eine U-Haft von 644 Tagen und ein Strafantrag von zehn Jahren sprengen den Rahmen der bisherigen Methoden und Strafmaße bei weitem. Es scheint, dass die Behörden ein Exempel statuieren wollten, das mögliche Nachahmer von Kannama ein für alle Mal abschrecken würde.

Auch Yamamoto Satorus Fall ist noch nicht abgeschlossen. Er erhielt 2023 von einem Gericht zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung aufgebrummt. Dies wurde Mitte November in zweiter Instanz bestätigt. Kannama will seinen Fall zusammen mit dem anderer verurteilter Gewerkschafter nun vors Oberste Gericht bringen. Yamamoto wird vorgeworfen, während seiner Compliance-Aktivitäten die »Geschäftstätigkeit der Baufirmen behindert« zu haben. »Die Idee, sich aktiver um die Überwachung von Standards auf Baustellen zu kümmern, geht aufs Jahr 1995 zurück«, erzählt mir Lkw-Fahrer Yamamoto. Damals seien beim Süd-Hyogo-Erdbeben (»Beben von Kobe«) Fahrbahnen kollabiert – etwas, was man in Japan für unmöglich gehalten hatte. Nachforschungen ergaben, dass die Qualität des Betons mangelhaft gewesen sei, da dieser mit zuviel Wasser vermischt worden war. »Eine Verdünnung erleichtert den Arbeitsprozess und ist kostengünstiger«, meint Yamamoto.

Kannama fühlte sich mitverantwortlich und handelte mit ihren Firmenbossen ein System aus, das es den Fahrern erlaubt, bezahlten Gewerkschaftsurlaub zu nehmen, um sich in Vollzeit der Compliance-Arbeit zu widmen. Yamamoto nutzte diese Gelegenheit drei Jahre lang. Jeden Tag habe er Baustellen besucht und auf Unzulänglichkeiten hingewiesen: Mal fehlte es an Sicherheitshelmen, mal war die Zahl des Wachpersonals ungenügend. In solchen Fällen verlangte er, mit dem Verantwortlichen zu sprechen. »Die Gesetze werden auf dem Bau oft nicht strikt eingehalten, um Kosten zu sparen«, sagt Yamamoto. Dies könne schnell einmal desaströse Folgen haben. Doch Ende 2018 wurde er jäh aus dem Alltag gerissen und von der Polizei festgenommen. Während der hunderttägigen Haft verhörte man ihn einige Male, wobei ihm stets der Gewerkschaftsaustritt nahegelegt wurde.

Bei solchen Verhören kristallisierte sich die Haltung von Polizei und Staatsanwaltschaft gegenüber der Gewerkschaftsarbeit klar heraus. »Mir wurde deutlich gesagt, dass ich das gewerkschaftliche Engagement auf den Bereich der Firma, für die ich arbeite, beschränken müsse«, erzählt mir Kannama-Chef Yukawa. »Branchengewerkschaften existieren im geistigen Horizont dieser Leute nicht«, fügt er hinzu. Dabei ist das Recht auf gewerkschaftliche Tätigkeit wie Tarifverhandlungen oder Streiks sogar in der Nachkriegsverfassung festgeschrieben – in Industriestaaten ist dies keine Selbstverständlichkeit. Dieser Verfassungsparagraph wird von den Behörden vollumfänglich ignoriert. Sogar einige Richter würden der Argumentationslinie folgen, wonach Streiks vor allem als Störung gelten und nicht geduldet werden sollten, meint Yukawa, der die gefällten Schuldsprüche gegenüber Kannama-Gewerkschaftern genauestens studiert hat.

Hoher Preis

Doch die Kriminalisierung der gewerkschaftlichen Arbeit durch die Behörden ist nur die Spitze des Eisbergs. Auch die japanische Öffentlichkeit, die sich an eine Ordnung gewöhnt hat, in der Streiks, Demonstrationen und öffentlicher Widerstand fast vollständig fehlen, steht aktiven Gewerkschaftlern wie auch zivilgesellschaftlichen Akteuren oft nicht wohlwollend gegenüber. Diese Tendenz hat sich während der Regierungszeit des rechten Hardliners Abe in den 2010er Jahren noch verstärkt. Zwar kam es 2015 zu einem Höhepunkt des zivilen Widerstands, als hunderttausend Menschen gegen die Einführung der »kollektiven Selbstverteidigung« demonstrierten. Trotzdem verschlechterte sich das Klima für Aktivisten zusehends; Gerichte fingen an, härter durchzugreifen.

In diese Zeit fällt auch die Verabschiedung neuer Gesetze gegen »Verschwörung« und »den Verrat von Staatsgeheimnissen«, die unter anderem der Einhegung ziviler Opposition dienen. Sogar das Verteilen von Flugblättern kann heute zu Zivilklagen oder – im Fall von Kannama – Strafklagen führen. Vor diesem Hintergrund begannen 2018 die Repressionen gegen die Fahrer der Betonmischer.

Natürlich gibt es dagegen auch Widerstand. 2019 veröffentlichten namhafte Arbeitsrechtler eine Erklärung und bezeichneten diese Repressionen als »schwer zu glauben«. Mehr als 80 Wissenschaftler haben sie bisher unterschrieben. Im selben Jahr gründete sich ein Unterstützungsverein für Kannama. Und bekannte Persönlichkeiten wie die Feministin und emeritierte Professorin der Universität Tokio, Ueno Chizuko, haben in den vergangenen Jahren zur Unterschriftensammlung für gerichtliche Freisprüche aufgerufen.

Trotzdem ist Kannama heute stark geschwächt. Die Mitgliederzahl ist von 1.800 auf 500 gesunken. Viele Gewerkschafter haben ihren Status als regulär Beschäftigte verloren und arbeiten heute auf Tagesbasis. Doch Zenniken-Generalsekretär Koyano möchte nicht nur schwarzsehen – es gäbe auch positive Ausblicke für die Gewerkschaftsarbeit: Die immer prekärer werdenden Lebensverhältnisse in Japan könnten in Zukunft wieder zu mehr Widerstand und neuen Zusammenschlüssen führen, hofft er.

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