»Die Blockade ist unmenschlich und hat dramatische Auswirkungen«
Interview: Thorben Austen
Kuba ist weltweit, vor allem aber im globalen Süden, für sein hohes Niveau bei der medizinischen Forschung bekannt. Der vom Partido Comunista de Cuba regierte karibische Inselstaat steckt aber in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Wie wirkt sich dies auf die Forschung aus?
Die Wirtschaftskrise wirkt sich weltweit auf die wissenschaftliche Forschung aus. Auch Kuba bleibt von der Begrenzung der Ressourcen nicht verschont. Wir mussten einige Forschungsprojekte, die wir nicht aus eigenen Mitteln finanzieren können, verschieben oder die Lizenzen an andere verkaufen. In anderen Fällen mussten wir die Protokolle für klinische Studien anpassen, um einige Laboruntersuchungen oder bildgebende Verfahren (Untersuchungen wie Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Ultraschall oder Endoskopie, jW) zu ersetzen, die nicht verfügbar waren.
Die Auswertung biologischer Proben von Patienten hat sich aufgrund des Ausfalls wichtiger Laborgeräte oder der Nichtverfügbarkeit von chemischen Substanzen verlangsamt. In einigen Fällen hatten wir keinen Zugang zu modernsten wissenschaftlichen Technologien, um die Wirkmechanismen der in der Entwicklung befindlichen Moleküle aufzuklären oder die Biomarker zu identifizieren, die eine bessere Reaktion der Patienten vorhersagen. Diese Einschränkungen wirken sich auch direkt auf den Entwicklungszyklus neuer Medikamente aus und verlängern die Zeit, bis diese den Patienten sowohl in Kuba als auch in anderen Ländern zugute kommen.
Welchen Anteil an den Engpässen hat die von den USA seit Jahrzehnten aufrechterhaltene Handelsblockade gegen Kuba?
Die Wirtschaftsblockade der Vereinigten Staaten verschärft diese Schwierigkeiten erheblich. Es sei daran erinnert, dass Kuba keine Geräte kaufen darf, die zu zehn Prozent oder mehr aus US-amerikanischen Komponenten bestehen, sowie keine chemischen Produkte oder Medikamente von US-Unternehmen oder deren Tochtergesellschaften in anderen Ländern. Der Erwerb von Rohstoffen wird verteuert und erschwert, da er über Zwischenhändler in Drittländern erfolgen muss. Die finanzielle Verfolgung und die Weigerung der Banken, mit Kuba Geschäfte zu machen, behindern die Herstellung von Medikamenten und deren präklinische und klinische Bewertung zusätzlich und berauben die Patienten wirksamer und sicherer Behandlungsmöglichkeiten.
Nach dem Sturz der Diktatur von Fulgencio Batista 1958 hat Kuba ein Gesundheitssystem geschaffen, das auf hohem Niveau arbeitet und für die Bevölkerung unentgeltlich zugänglich ist. Einigen Medienberichten zufolge hat dies aber nicht mehr die gleiche Qualität wie früher und mittlerweile Schwierigkeiten damit, der gesamten kubanischen Bevölkerung kostenlose Gesundheitsvorsorge zu bieten. Ist das zutreffend?
Das kubanische Gesundheitswesen leidet ebenfalls unter den Folgen der Wirtschaftskrise und der Blockade durch die Vereinigten Staaten. Die Grundprinzipien der Kostenfreiheit und des universellen Zugangs bleiben bestehen, aber die aktuelle Lage ist aufgrund des Mangels an einigen lebensnotwendigen Medikamenten, chemischen Substanzen für unsere Labore und medizinischen und pflegerischen Materialien sowie aufgrund der Verschlechterung oder des Ausfalls von Diagnose- und Behandlungsgeräten komplex. Trotz der materiellen Mängel leisten unsere Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger sowie das Gesundheitspersonal im allgemeinen mit großem humanitärem Engagement und Hingabe Außerordentliches, um die Kranken bestmöglich zu versorgen.
Seit 2009 leiten Sie die klinische Forschung am Zentrum für Molekulare Immunologie in Havanna. Wie ist Ihre Arbeit von dem Embargo betroffen?
Ohne Zweifel hat die Blockade der Vereinigten Staaten direkte und schwerwiegende Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit. Im Zentrum für Molekulare Immunologie forschen wir an Krankheiten mit sehr schlechter Prognose, wie Krebs und Alzheimer. Unsere Patienten, darunter auch Kinder, sind am stärksten benachteiligt, da sie viele hochwirksame Therapien, die von US-amerikanischen Unternehmen vermarktet werden, nicht erhalten können.
Unsere klinischen Studien können oft nicht den höchsten internationalen Standards entsprechen, da es unmöglich ist, modernste Technologien und Medikamente von US-amerikanischen Unternehmen zu erwerben. Eine besonders schwerwiegende Folge ist, dass unsere innovativen Medikamente trotz ihrer nachgewiesenen Wirksamkeit und Sicherheit auf Hindernisse bei der internationalen Zulassung stoßen.
Wie wird die Nichtzulassung begründet?
Sie entsprechen nicht den diagnostischen oder therapeutischen Richtlinien der Vereinigten Staaten oder Europas. Infolgedessen sind unsere Handelspartner gezwungen, klinische Studien zu wiederholen, was nicht nur die Entwicklung erheblich verteuert, sondern auch den Zugang von Patienten in anderen Teilen der Welt zu wirksamen Therapien kritisch verzögert. Im Falle der Vereinigten Staaten haben die Patienten keinen Zugang zu Originalmedikamenten aus Kuba, die manchmal in ihrem Wirkungsbereich weltweit einzigartig sind. Daher kann man sagen, die Blockade ist unmenschlich und hat dramatische Auswirkungen auf Kuba, aber auch auf die Bevölkerung der Vereinigten Staaten.
Sie haben im Oktober in Berlin am ESMO-Kongress zur Krebsforschung teilgenommen. Bei der Veranstaltung tauschten sich 34.000 Wissenschaftler und Ärzte aus aller Welt über Diagnose, Therapie und Immunisierung von Krebs aus. Was konnten Sie von diesem Kongress für Ihre Arbeit auf Kuba mitnehmen?
Die Teilnahme an dem Kongress bot eine außergewöhnliche Gelegenheit, sich über die neuesten Fortschritte in der klinischen Krebsforschung zu informieren. Die Veranstaltung dient als Plattform für die Veröffentlichung wichtiger medizinischer und kritischer wissenschaftlicher Erkenntnisse: von Phase-III-Studien, deren Ergebnisse die Behandlungsstandards neu definieren können, bis hin zu Phase-I-Studien, die erste Erkenntnisse über die Anwendung neuer Medikamente bei Patienten liefern. Gleichzeitig ist der Kongress eine einzigartige Gelegenheit, formelle und informelle Gespräche mit Kollegen aus anderen Ländern zu führen, die sich mit allen Aspekten des Themas Krebs befassen.
Krebs kann sich in praktisch allen Teilen des menschlichen Körpers entwickeln, ob als Hautmelanom, Brust-, Darm- oder Lungenkrebs. Wohl noch vielfältiger dürften die auslösenden Faktoren wie genetische Anfälligkeit und Umwelteinflüsse sein. Welche Krebsformen geben der Forschung derzeit die größten Rätsel auf?
Aus meiner persönlichen Sicht sind einige solide Tumore (feste, im Körper gewachsene Gewebemassen, die gut oder bösartig sein können; im Gegensatz zu flüssigen Tumoren, die sich über den Blutkreislauf ausbreiten, haben solide Tumoren einen festen Sitz in Organen oder Geweben, wie beispielsweise in den Lungen, der Brust, dem Darm oder den Knochen, jW) des Verdauungstraktes, wie zum Beispiel Tumore der Bauchspeicheldrüse, der Leber, der Speiseröhre, des Magens und der Gallenwege, trotz zahlreicher klinischer Studien und präklinischer Forschungen weniger empfindlich gegenüber den jüngsten therapeutischen Interventionen. Mit weniger empfindlich ist gemeint, dass diese Art von Tumoren aus dem Verdauungstrakt weniger auf die neuen immunologischen Krebstherapien ansprechen. Neben den klassischen Krebstherapien mit Zytostatika spielen ganz spezifische immunologische Therapien eine immer größere Rolle.
Ein anderer Aspekt sind Hirntumore, vor allem bösartige Tumore des zentralen Nervensystems. Hirntumore stellen sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern eine große Herausforderung für die Wissenschaft dar. Für Patienten mit solchen Tumoren sind die Behandlungsmöglichkeiten begrenzt, und die Langzeitüberlebensrate hat sich in den vergangenen fünf Jahren nicht wesentlich verändert.
In welchen Bereichen der Krebsforschung konnten dagegen die größten Fortschritte erzielt werden?
Zweifellos ist die Krebsimmuntherapie der Bereich, in dem in den vergangenen 15 Jahren die größten Fortschritte erzielt wurden. Dabei geht es darum, die körpereigenen Abwehrkräfte durch die T-Lymphozyten, auch T-Zellen genannt, eine Art von weißen Blutkörperchen, zu stärken. Damit soll die zytotoxische, also die schädigende oder zerstörerische Wirkung von T-Lymphozyten auf Tumore ausgebaut werden. Ein wichtiger Meilenstein war die Entwicklung monoklonaler Antikörper gegen sogenannte Immunkontrollpunkte, die im wesentlichen die »Bremsen« der T-Lymphozyten lösen und deren Antitumorreaktion wiederbeleben.
Ein weiterer großer Fortschritt wurde bei der Behandlung vieler hämatologischer Veränderungen, gut- und bösartiger Tumore und einiger solider Tumore mit einer Therapie auf der Basis der adaptiven T-Zell-Transplantation erzielt. Bei dieser Immuntherapie werden körpereigene T-Zellen des Patienten genetisch so verändert, dass sie Krebszellen gezielt erkennen und zerstören können. Es besteht zunehmend Einigkeit darüber, dass die Immuntherapie dazu beiträgt, Krebs selbst in fortgeschrittenen Stadien in eine chronische Erkrankung zu verwandeln, bei der eine langfristige Kontrolle erreicht werden kann. Schätzungen zufolge sind heute mehr als 50 Prozent aller Krebspatienten potentielle Kandidaten für eine immuntherapeutische Behandlung.
Welche Themen waren für Sie persönlich die interessantesten auf dem Kongress?
Er konzentrierte sich insbesondere auf die Diskussion der Fortschritte in der Krebstherapie. Zu den wichtigsten Themen zählten die Ausweitung des Einsatzes der Immuntherapie auf weniger fortgeschrittene klinische Szenarien, wie beispielsweise die Phasen vor, während und nach einer Operation. Ferner die Entwicklung neuer Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, also zielgerichteter Krebstherapien, die einen monoklonalen Antikörper mit einem zytotoxischen Wirkstoff, einem Chemotherapeutikum, koppeln. Diese Wirkstoffe werden direkt zu den Tumorzellen transportiert. Und die Entwicklung multispezifischer Antikörper, die verschiedene Populationen von Immunzellen wie T-Lymphozyten oder natürliche Killerzellen gegen den Tumor rekrutieren und aktivieren sollen.
Es gab auch eine intensive und ausführliche Diskussion über die Identifizierung und Validierung von prädiktiven Biomarkern, also molekularen oder zellulären Merkmalen, die vorhersagen, wie ein Patient auf eine bestimmte Behandlung ansprechen wird, sowie über den Umgang mit den Toxizitäten, die mit diesen neuen Therapien verbunden sind.
Bei dieser Veranstaltung wurden auch, wenn auch in geringerem Maße, Aspekte der Prävention oder Diagnose diskutiert. Für eine effiziente Krebsbekämpfung ist Prävention sehr wichtig, indem ungesunde Gewohnheiten und Lebensweisen wie Rauchen, Alkoholismus, Übergewicht, Bewegungsmangel und andere beseitigt werden. Einige Tumore wie Gebärmutterhalskrebs können durch Impfungen verhindert werden, da ein enger Zusammenhang zwischen der Infektion mit bestimmten Viren oder Bakterien und dem Prozess, bei dem eine normale Zelle zu einer unkontrolliert wachsenden Tumorzelle wird, besteht. Die rechtzeitige Diagnose von Krebs ist ebenfalls entscheidend für die Senkung der Sterblichkeitsrate. Im allgemeinen können Tumore, die in einem frühen Stadium diagnostiziert werden, besser und mit größeren Erfolgsaussichten behandelt werden.
Konnten Sie sich abseits von Vorträgen auch mit möglichst vielen Kolleginnen und Kollegen auf dem Kongress direkt austauschen?
Ich hatte tatsächlich die Gelegenheit, mich mit vielen Experten und Personen, die führend in der Forschung beteiligt sind, auszutauschen. Auch nahmen wir an formellen Treffen mit Forschungsteams teil, die neue klinische Studien mit innovativen Medikamenten starten werden.
An welchen Forschungsprojekten arbeiten Sie derzeit, und welche Projekte haben Sie für die Zukunft geplant?
Wir arbeiten weiterhin an neuen klinischen Studien zu Krebs mit etablierten Molekülen wie Nimotuzumab, einem monoklonalen Antikörper zur Krebsbehandlung, und dem therapeutischen Impfstoff Cimavax-EGF gegen Lungenkrebs. Parallel dazu beginnen wir mit ersten Untersuchungen an Patienten mit anderen therapeutischen Impfstoffen und immunmodulierenden Medikamenten. Schließlich treibt unsere klinische Leitung nicht nur die Forschung an Krebspatienten voran, sondern wir führen auch Studien zu anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, spinocerebellären Ataxien (eine Gruppe von vererbbaren, fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen, die hauptsächlich das Kleinhirn und das Rückenmark betreffen und zu Koordinationsstörungen der Bewegung führen, jW) und Atemwegserkrankungen wie dem akuten Atemnotsyndrom und der chronisch obstruktiven Lungenerkrankung durch.
Tania Crombet Ramos ist Allgemeinärztin und Spezialistin für Immunologie. Sie wurde 2022 mit dem Titel »Heldin der Arbeit der Republik Kuba« ausgezeichnet. Sie leitet seit 2009 die klinische Forschung am Zentrum für Molekulare Immunologie in Havanna. Seit 2022 ist sie gewähltes Mitglied der World Academy of Sciences mit Sitz in Triest. Nach deren Angaben ist sie außerdem Mitglied der Kubanischen Akademie der Wissenschaften, leitende Dozentin am Institut für Medizinische Wissenschaften in Havanna, Mitglied des Verwaltungsrats der Innovative Immunotherapy Alliance, einem Joint Venture zwischen den USA und Kuba, Mitglied der Kubanischen und Lateinamerikanischen Gesellschaft für Immunologie sowie Mitglied der Kubanischen und Amerikanischen Gesellschaft für Onkologie.
Tania Crombet Ramos wurde mehrfach mit dem jährlichen Nationalpreis der kubanischen Akademie der Wissenschaften, dem Preis für technologische Innovation des kubanischen Wissenschaftsministeriums ausgezeichnet. Ihre Arbeit hat demnach zur Zulassung von zwei Krebsimpfstoffen und zwei monoklonalen Antikörpern für verschiedene epitheliale Tumore, Autoimmunerkrankungen und Covid-19 in Kuba sowie im Ausland beigetragen
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