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Aus: Ausgabe vom 06.12.2025, Seite 15 / Geschichte
Deutsche Geschichte

Für eine Handvoll Taler

Tödlicher Versicherungsbetrug: Vor 150 Jahren kostete ein Anschlag auf das Schiff »Mosel« 83 Menschen das Leben
Von Marc Püschel
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Nach der Explosion war der Hafen mit Leichen übersät. Zeichnung von H. Marutzky, 1876

Für 100 Prozent Profit stampfe das Kapital alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und »es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens«, heißt es in Marx’ Kapital. Doch nicht nur das bereits zu Kapital gewordene Geldvermögen wurde im 19. Jahrhundert auf der Suche nach der besten Anlage wagemutig. An seine Fersen heftete sich eine ganze Schicht aus halbseidenen Gestalten, Desperados und Hasardeuren. Denn der Kapitalismus steigerte nicht nur die Ausbeutung von Naturressourcen – man denke nur an die Goldsuche im Westen der USA –, sondern schuf auch weitere Betätigungsfelder für Kriminelle.

Die vielleicht lukrativste neue Profitmöglichkeit war der Versicherungsbetrug. Vorformen der Versicherung gab es zwar schon seit der Antike – etwa das griechische »Seedarlehen«, ein Kredit zur Finanzierung von Seefahrten, der nur im Erfolgsfall zurückgezahlt werden musste. Lange waren diese Möglichkeiten aber streng eingegrenzt auf bestimmte Bereiche. Im Mittelalter sorgten die Gilden und Zünfte für die Absicherung ihrer Mitglieder, in der Frühen Neuzeit entstanden vor allem »Feuerkassen« in städtischer Hand. Das moderne Versicherungswesen, in dem Privatleute durch Einzahlungen beliebige Gegenstände assekurieren konnten, entwickelte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, parallel zur Anhäufung kapitalistischer Reichtümer. Entsprechend spät entwickelte sich der systematische Versicherungsbetrug. Ein erster spektakulärer Fall war der Schweizer Hotelbesitzer Peter Zybach, der im November 1852 sein eigenes (leeres) Hotel am Grimselpass anzünden ließ, um Zehntausende Franken einzustreichen.

Ohne Skrupel

Brutaler und rücksichtsloser wurde es im Falle von Alexander Keith jr. Der 1827 noch in Schottland Geborene wuchs im kanadischen Halifax auf und kam in der Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs in die Südstaaten. Nicht nur war das Glücksrittertum in den USA ohnehin verbreiteter, im Zuge des Sezessionskrieges gewann es noch an Skrupellosigkeit. Der spielsüchtige Betrüger Keith soll sich auf einem konföderierten Seeblockadebrecherschiff verdingt, in dieser Zeit den Decknamen William King Thomas angenommen und vermutlich erste Erfahrung mit Sprengstoffanschlägen gemacht haben. In der Folge immer auf der Flucht vor Strafverfolgung, zog es ihn nach Europa, wo er sich in Dresden niederließ.

Die Geldnöte trieben ihn Mitte der 1870er Jahre zu immer radikaleren Plänen. Neben der Option des Versicherungsbetrugs eröffneten sich andere Möglichkeiten. Ein paar Jahre zuvor hatte Alfred Nobel das Dynamit erfunden und 1867 patentieren lassen, Varianten davon wurden in ganz Europa populär. 1875 sprach Keith alias Thomas in einer Kölner Fabrik vor, gab sich als Bergwerksbesitzer aus Jamaika aus und schaffte es, 13 Zentner des Sprengstoffs »Lithofracteur« (»Steinbrecher«) zu bekommen (ein Zentner entsprach in Deutschland 50 Kilogramm). Diese Mogelei ging genauso durch wie diejenige bei einem sachsen-anhaltischen Uhrmacher, wo Thomas sich als Seidenfabrikant tarnte, um ein Uhrwerk anfertigen zu lassen, das nach zehn Tagen lautlosem Betrieb einen starken Hammerschlag auslöst.

Beides kombinierte der Amerikaner zu einer teuflischen Falle, die er in einem großen Fass versteckte. Nach zwei erfolglosen Versuchen bei anderen Schiffen nahm er im Dezember 1875 das Auswandererschiff »Mosel« ins Visier. Sein Plan: Sich selbst in Bremerhaven in der ersten Klasse einschiffen, das Sprengstoffass als versicherte Ladung mitnehmen, dann auf dem Zwischenstopp Southampton von Bord gehen und – nachdem die Zeitbombe das Schiff bei der Atlantik-Überfahrt versenkt hatte – ein hohes Versicherungsgeld kassieren.

»Vorhof zur Hölle«

Am 11. Dezember 1875 traf Thomas am Hafen von »New Yorks deutscher Vorstadt«, wie Bremerhaven damals genannt wurde, ein. Von dort sollte die »Mosel«, ein drei Jahre altes Dampfschiff der Norddeutsche Lloyd, in See stechen. Zunächst schien alles zu klappen, Thomas konnte sein Gepäck aufgeben, darunter das große Eichenfass, das er bei Abgabe als Ladung von Eisenteilen im Wert von 15.000 Talern deklarierte (anderen Quellen zufolge gab er an, Kaviar zu transportieren) und direkt versicherte. Die Fracht wurde offenbar nur oberflächlich kontrolliert und ging durch.

Gegen 11 Uhr vormittags legte die 106 Meter lange »Mosel«, nachdem sie durch den Schlepper »Simson« bereits aus dem Passagierhafen gebracht worden war, an einer Mole an, um das Gepäck aufzunehmen. Als Thomas’ Fass von einem Kran an Bord gehoben werden sollte, rutschte es aus den Seilen, fiel auf das Kaipflaster und detonierte. Eine heftige Explosion riss die zahlreichen nahestehenden Schaulustigen um; insgesamt starben 83 Menschen, 200 weitere wurden teils schwer verletzt. Die Druckwelle zerstörte Teile des Hafens, allein auf dem Kai entstand ein vier Meter tiefer Krater. Ein Matrose eines anderen Schiffes beschrieb die Szene später als »Vorhof zur Hölle«.

Thomas selbst wurde im Zuge der Bergungsarbeiten in seiner Kabine gefunden – mit zwei Pistolenkugeln im Kopf. Offenbar hatte der Attentäter nach der frühzeitigen Explosion seiner Fracht versucht, Suizid zu begehen. Er starb Tage später, am 16. Dezember, im Bremerhavener Krankenhaus. Kurz zuvor hatte er gegenüber der Polizei ein umfassendes Geständnis abgelegt. Die meisten Passagiere hatten dank des Scheiterns seines Plans immerhin Glück im Unglück. 576 Menschen hatten die Überfahrt gebucht, dazu kamen über hundert Mann Besatzung – wäre die Bombe auf hoher See und nicht im Hafen hochgegangen, wären sie alle gestorben.

Das Schiff selbst war nicht vollständig zerstört, konnte repariert und weiter eingesetzt werden. Heute wird die Schiffsglocke der »Mosel« im Deutschen Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven aufbewahrt. Thomas wurde auf dem dortigen Wulsdorfer Friedhof begraben, allerdings ohne Kopf, der skurrilerweise lange Zeit im Museum für Natur- und Völkerkunde aufbewahrt wurde und erst während des Zweiten Weltkriegs verloren ging.

Interessanter als Thomas’ physische Überreste waren die Kreise, die sein Fall zog. Dem Anschlag folgte eine der umfangreichsten Ermittlungsaktionen des jungen Kaiserreichs. Selbst die berüchtigten Pinkerton-Detektive in den USA wurden beauftragt, etwaige Verbindungen nach Nordamerika zu ermitteln. Doch außer dem genauen Tathergang konnte nichts aufgedeckt werden, Thomas war Einzeltäter. Die nachhaltigste Wirkung hatte der »Thomas-Fall« auf das deutsche Strafrecht. An dem bekannten Fall, der Eingang in viele juristische Lehrbücher fand, wurden schwierige Fragen von Vorsätzlichkeit oder fahrlässigem Handeln behandelt.

Empfindliche Ladung

Die Untersuchung wurde im umfassendsten Maße geführt und ergab, dass die verbrecherische Tätigkeit des Thomas sich bis zum Jahre 1873 zurückverfolgen ließ. Verschiedene Versuche, Höllenmaschinen (ein geräuschlos acht bis zwölf Tage gehendes Uhrwerk, das dann einen mit einer Kraft von dreißig Pfund aufschlagenden Hammer auslösen sollte) herzustellen und auf überseeische Dampfer zu verladen, waren ohne Erfolg geblieben. Auch über seinem letzten Versuch schwebte manche unaufgehellte Dunkelheit.

Als festgestellt kann angenommen werden, dass in dem mit Dynamit gefüllten Fass sich ein aufgezogenes Uhrwerk befand, dessen Ablaufen nach etwa acht Tagen eine Schlagfeder in Bewegung setzen und so die Entzündung herbeiführen sollte. Das gefüllte Fass ließ Thomas am 9. Dezember durch die belebtesten Straßen Bremens nach der Bahn bringen. Er ermahnte die Arbeiter unausgesetzt, langsam zu fahren, und, weit hinter oder vor dem Wagen gehend, begleitete er diesen durch die gefährdete Stadt. Im Kontor des Lloyd bat er, das Fass, welches zu 3.000 Mark versichert war, nicht in geheiztem Raume stehen zu lassen, da der Kaviar, welcher in dem Fasse angeblich enthalten sein sollte, sonst verderbe.

Die Ursache der Explosion ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in einer Selbstentzündung des Dynamits infolge eines Stoßes zu finden, obgleich die Explosivkraft des Dynamits an kalten Tagen, wie der 11. Dezember war, nur einer geringen Erschütterung bedarf, um in Wirkung zu treten, sondern darin, dass durch den Stoß das Losschnellen der Uhrschlagfeder bewirkt wurde.

Aus: Franz von Liszt: Strafrechtsfälle zum akademischen Gebrauch. Jena, 1911

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