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Aus: Ausgabe vom 08.12.2025, Seite 11 / Feuilleton
Reiseliteratur

Ein seltsames Paar

Auf den Spuren von Otto Braun: Volker Häring und Christian Y. Schmidt radeln die Route des Langen Marsches ab
Von Maik Rudolph
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»Der Lange Marsch ist ein Manifest, ein Propagandatrupp, eine Sämaschine.« – Volker Häring und Christian Y. Schmidt, im Auftrag des Großen Vorsitzenden

Es ist Dezember 1935: Der Yan’an-Sowjet wurde erreicht und der Lange Marsch für beendet erklärt. Bis zum ersten Labubu, wie wir ihn heute kennen, wird es noch 84 Jahre dauern. Auf einer Parteikonferenz in Wayaobu fehlte es Mao Zedong nicht an Chuzpe, sich verbal ein Vermächtnis aufzubauen: »Der Lange Marsch ist ein Feldzug, wie ihn die Geschichte noch nicht gekannt hat. Der Lange Marsch ist ein Manifest, ein Propagandatrupp, eine Sämaschine.« – Weniger als ein Zehntel der wander- und geordnet rückzugsfreudigen Truppen der Roten Armee der Arbeiter und Bauern hat das Ziel erreicht. Mao selbst wäre fast nicht zum Marschieren eingeladen worden. War alles doch die Idee von Otto Braun?

Hä, wer? Das haben sich auch Reiseveranstalter und -schriftsteller Volker Häring und Ex-Dreck- und -Titanic-Redakteur Christian Y. Schmidt gefragt. Beide lebten viele Jahre in der Volksrepublik. Einer fährt leidenschaftlich Rad, der andere hat sich dazu überreden lassen: unter Einfluss von Alkohol und Cannabis. Hätte schlimmer kommen können, früher wäre man so in der Fremdenlegion gelandet.

Häring, bekannt für seinen Lokalkoloritkrimi »Beijing Baby« (2016), radelte mit Schmidt, Autor von »Allein unter 1,3 Milliarden. Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu« (2008) und »Coronavirus Updates Beijing« (2021), 7.000 Kilometer die Route des Langen Marsches ab. Unter dem Sattel waren E-Bikes befestigt, immerhin nicht gedrosselt wie in Deutschland und der EU: Häring war es unangenehm – Street Cred in der Radler-Community und so. Schmidt kam es entgegen, der sowieso jede Sekunde damit rechnete, mit seinen fast 70 Jahren den Märtyrertod zu sterben. Ohne technische Gebrechen der Räder ging es auch nicht: Die Überfahrt manch eines Bergpasses erinnerte an Friedkins »Atemlos vor Angst« (1977), nur ohne Dynamit.

Zwei unterschiedliche Persönlichkeiten prallen aufeinander, wechseln sich mit dem Schreiben der Kapitel ab. Bei einem solchen Reiseunterfangen sind Streit und Skepsis unvermeidlich, beispielsweise wenn Schmidt noch vor Abfahrt feststellt: »Doch gerade in den letzten zwei Tagen haben sich meine Zweifel an ihm verstärkt. ›Ist ja schon gut geworden‹, meinte er zu dem neuen Berliner Flughafen fachmännisch.«

»Butch Cassidy und Sundance Kid« (1969) treffen auf »Ein seltsames Paar« (1968), dazu gibt es einen amüsanten Reisebericht, der das moderne China nahbarer macht als tendenziöse Reportagen über eine Überwachungsdystopie oder naives Jubelpersertum, einen historischen Abriss des Langen Marsches und obendrein Einblick in das Leben des Münchener Räterepublikaners, frühen KPD-Mitglieds und zeitweisen Geliebten von Olga Benario: Otto Braun, der inkognito im Auftrag der Komintern der Parteispitze zur Seite gestanden hat. Mao standen Parteisekretär Bo Gu und Generalstabschef Zhou Enlai als geschulte MLer eher kritisch gegenüber. Wie die beiden Autoren berichten, war es Braun, genannt Li De, der die Spitze von einem strategischen Rückzug überzeugt hatte. Mao wurde darüber zuerst nicht informiert, dann doch mitgeschleppt.

Die Autoren spüren entlang der Strecke und an den Stätten der unzähligen Konferenzen – denn dafür wurde der Marsch immer wieder pausiert, zum Beispiel für jene in Zhunyi, die Brauns politische Karriere beendete und Maos Aufstieg sicherte – der heute in der Volksrepublik nicht gern herausgestellten Führungsrolle Brauns nach, geben dabei auch die notwendigen Einblicke in die Wirren des chinesischen Bürgerkriegs, samt ausführlichem Glossar. Sie treffen auf allerhand Roten Tourismus, ein unter Xi Jinping staatlich gefördertes Konzept des Inlandstourismus, um Menschen aus der absoluten Armut zu holen. Ohne rotlackierten Disney-Kitsch – bis heute steht und fällt jede größere Filmproduktion aus dem Imperium der Maus mit den klingelnden Kinokassen in der Volksrepublik – und fragliche Legendenbildung, wie die Adaption der Sankt-Martins-Sage mit Rotarmisten, geht es nicht.

»Fährt man schneller, wenn man scheiße aussieht?« fragt sich Schmidt, als ihn Häring mit allerhand Funktionskleidung ausstattet. Eigentlich hätte es losgehen können, doch dann kam die Seuche: Schmidt berichtete darüber ausführlich in der jW. Drei Jahre Vorbereitung, dann musste pausiert werden, bis sie sich endlich am 16. Oktober 2023 in Ruijin auf die E-Drahtesel schwingen konnten, taggenau 89 Jahre nach Marschbeginn. Begleitende Video­tagebücher auf den üblichen Social-Media-Kanälen rundeten die Reise ab, ließen den Autor dieser Zeilen sogar felsenfest davon ausgehen, dass die beiden doch schon längst die Reise absolviert und ihr Buch hätten veröffentlicht haben müssen, so lang ist es her: Zwischen der Ankündigung auf Facebook und Reisebeginn lagen 1.281 Tage.

In einer späten Etappe der Fahrt treffen die beiden Streithähne auf einen tibetischen Mönchsnovizen: »Ihr seid einfach oberaffentittengeil.« Einen Ruf haben sie in der kleinen 7.000 Kilometer langen und das chinesische Internet umspannenden Echokammer schnell weg. Ebenso werfen die Sicherheitsbehörden einen manchmal auch kritischen bis überwachenden Blick auf die beiden. Viel wichtiger jedoch ist der Blick, den Häring einmal hinter die Rezeption eines Hotels in der Baijiu-Destillenmetropole Maotai werfen konnte, und zwar auf die Registrierungsmaske des Amts für öffentliche Sicherheit. – Endlich wird das Mysterium um das verzweifelte Drehen und Wenden, das den Betrachter in den Wahnsinn treibende, niemals enden wollende, wiederholte Eintippen von ausländischen Passdaten gelüftet.

Volker Häring/Christian Y. Schmidt: Der lange Fahrradmarsch. 7.000 Kilometer durch das Reich der Mitte. Ullstein-Verlag, Berlin 2025, 368 Seiten, 19,99 Euro

Buchvorstellung mit Christian Y. Schmidt, 11. Dezember 2025, 20 Uhr, Bötzowbuch, Bötzowstr. 27, 10407 Berlin

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