Zurück in die Hölle
Von Eileen Heerdegen
Bongos, Feuerschein, der kalte Abend eines ungewöhnlich heißen Oktobertages am steinigen Donaustrand in Kritzendorf bei Wien. Ich sitze als Komparsin im Abseits, Fokus auf Andrea Wenzl, Hauptfigur Helen in Evi Romens Kinofilm »Happyland«, sie tanzt wie in Trance, entrückt, fragil.
»Nach der Unterredung mit meinem Schüler Gambetti, mit welchem ich mich am Neunundzwanzigsten auf dem Pincio getroffen habe, schreibt Murau, Franz-Josef, … von dessen hoher Intelligenz ich auch jetzt nach meiner Rückkehr aus Wolfsegg überrascht, ja in einer derart erfrischenden Weise begeistert gewesen bin, dass ich ganz gegen meine Gewohnheit, gleich durch die Via Condotti auf die Piazza Minerva zu gehen, auch in dem Gedanken, tatsächlich schon lange in Rom und nicht mehr in Österreich zuhause zu sein, in eine zunehmend heitere Stimmung versetzt, über die Flaminia und die Piazza del Popolo, den ganzen Corso entlang in meine Wohnung gegangen bin, erhielt ich gegen zwei Uhr mittag das Telegramm, in welchem mir der Tod meiner Eltern und meines Bruders Johannes mitgeteilt wurde: Eltern und Johannes tödlich verunglückt. Unterschrieben: Caecilia, Amalia.«
Andrea Wenzl tanzt nicht, sie steht eckig da, jetzt ist sie Thomas Bernhard und alle Zartheit ist einer beige-braunen Mischung aus Wurschtigkeit, Missmut und Trauer gewichen. »Schauspielerei ist das Leben, aus dem die langweiligen Teile herausgeschnitten sind«, sagt Pedro Almodóvar, und es ist faszinierend, den Personen auf der Bühne des Wiener Burgtheaters bei ihren Transformationen zuzuschauen. Denn Wenzl ist nicht die oder der einzige Bernhard; insgesamt sind mit Aaron Blanck, Norman Hacker, Lilith Häßle, Alexandra Henkel, Sean McDonagh, Jörg Ratjen, Andrea Wenzl und Ines Marie Westernströer vier Frauen und vier Männer auf einer samtbeschlagenen roten Treppe angetreten, mit verteilten Rollen den Text zu sprechen und Facetten des »Vordenkopfstoßers«, wie Bernhard sein Alter ego in »Auslöschung« bezeichnet, zu präsentieren.
Alle im Thomas-Bernhard-Look, in Bundfaltenhosen, in deren tiefen Taschen Hände versenkt werden können, alle in Brauntönen, manch eine(r) trotzig, ein anderer unsicher die Pulloverärmel zerrend wie ein Kind.
Nur eine aufgeschlagene Hardcover-Ausgabe des Romans hat zwischen ihnen Platz gefunden, mit Handzeichen wird immer wieder auf das Buch verwiesen, als sei es die Urne des Autors oder des Ich-Erzählers: Murau, Franz-Josef.
»Was das Telegramm bedeutete, wußte ich. Ich fahre in die Hölle zurück. Schreibt Murau, Franz-Josef.«
Kaum hatte sich im Eingangsmonolog mit der Beschreibung des Spaziergangs durch Rom eine Leichtigkeit eingeschlichen, erweist sie sich als trügerisch. In der Kinderhölle des Schlosses Wolfsegg, der der ungeliebte Sohn entkommen zu sein glaubte, warten drei Särge und zwei ungeliebte Schwestern auf den Erben. Mehr noch, es wartet die Erkenntnis, nicht entkommen zu können: »Ich hatte einen Augenblick das Gefühl, dass ich mich in den Jahrzehnten, in welchen ich alles getan habe, um mich von Wolfsegg zu befreien und unabhängig zu machen, und nicht nur von Wolfsegg, sondern von allem unabhängig, nicht befreit und nicht unabhängig gemacht habe, sondern im Gegenteil auf die deprimierendste Weise verstümmelt. Ich bin ein verstümmelter Mensch, habe ich gedacht.«
Wie bei Thomas Bernhard üblich, wird mit Hasstiraden nicht gegeizt. Es sind vor allem wieder die Frauen, die seine (pardon Muraus) Verbitterung zu spüren bekommen. Die hässlichen Schwestern und vor allem die Mutter, die ihn »als das überflüssigste Kind, das man sich vorstellen kann« bezeichnet hatte. Eine bigotte Person, ihr Verhältnis, der Erzbischof Spadolini, erscheint auf der Bühne in Form eines Weihrauchkessels. Eine wunderbare Szene mit einem grandios beleuchteten, gefährlich nach links und rechts ausschlagenden Thuribulum, stark rauchend, leider ohne das so besonders riechende Harz.
»Auslöschung. Ein Zerfall« ist ein Roman mit über 600 Seiten, von der schwedischen Regisseurin Therese Willstedt und dem Dramaturgen Jeroen Versteele erst bühnentauglich gemacht. Einer der zentralen Aspekte des Buches, die nicht geglückte (nicht gewollte?) Entnazifizierung, die nicht geschehene (nicht gewollte?) Wiedergutmachung wird durchaus thematisiert, geht aber in der typischen Bernhardschen Suche nach der Liebe unter all dem Hass, nach dem Guten zwischen all dem Bösen, unter.
Bühne und Licht (Mårten K. Axelsson) schaffen wunderbare Bilder und die grandiosen Schauspieler machen die Aufführung sehenswert.
»Ich habe den Eltern niemals den Tod gewünscht, sagte ich mir, vor ihren Leichnamen stehend, den Gedanken, dass sie tot sein sollen, habe ich keinen Augenblick jemals gedacht, ich stand vor ihnen und sagte mir, dass ich sie immer verwünscht habe, ja immer verachtet habe, nicht missachtet, gleich immer verachtet und dass ich allen Grund gehabt habe, sie zu verachten, in Grund und Boden, wie gesagt wird, aber dass ich ihnen niemals den Tod gewünscht habe. Oder doch.«
Nächste Aufführungen: 5., 11. und 20. Dezember 2025
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