»Beeilt euch«
Von Reinhard Lauterbach
Der Gesichtsausdruck des polnischen Regierungschefs Donald Tusk zeigte Verärgerung, als er am Montag zum Abschluss der deutsch-polnischen Regierungskonsultationen in Berlin auf ein leidiges Thema aus der Vergangenheit zu sprechen kam: die von Polen eingeforderte Unterstützung für die letzten noch lebenden Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs. »Beeilt euch, wenn ihr diese Geste noch machen wollt«, sagte Tusk; die Zahl der noch lebenden Opfer gehe von Jahr zu Jahr zurück. Ansonsten werde Polen die Entschädigungen aus eigenen Mitteln auszahlen und die BRD so international blamieren, drohte Tusk. Merz stand daneben und blätterte wortlos in irgendwelchen Papieren.
Die Zahlen sprechen für sich. 2024, als der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine solche Einmalleistung für polnische Opfer des Faschismus erstmals ins Gespräch brachte, waren es etwa 60.000 inzwischen hochbetagte Menschen, die für die Leistung in Frage kamen. Heute sind es noch knapp 50.000. Was die Scholz-Regierung damals angeboten hatte, waren 200 Millionen Euro, also 4.000 pro Person. In Polen wurde das als lächerliches Almosen wahrgenommen, da wird parteiübergreifend erwartet, dass die Merz-Regierung noch deutlich etwas drauflegt. Oder bleibt die Bundesregierung bei der jahrzehntelangen deutschen Haltung, Entschädigungsfragen in die Länge zu ziehen, in der begründeten Hoffnung, dass die Zahl der potentiellen Empfänger in der Zwischenzeit aus natürlichen Gründen zurückgeht? Was die deutsche Seite tatsächlich tat, war eher symbolisch: 73 mittelalterliche Urkunden, die die deutschen Besatzer aus dem Warschauer Königlichen Archiv hatten mitgehen lassen, sowie ein gotischer Statuenkopf wurden zurückgegeben. Jahrzehntelang hatten sie im Preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem bzw. im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gelegen, jetzt soll es eine Kanzlerentscheidung gebraucht haben, um diese Kulturgüter zurückzugeben.
Auch sonst verdarb Tusk dem Gastgeber Merz den Feierton. Dieser hatte sein Schlusswort an den »lieben Donald« gerichtet und sich gleich mitgelobt für »unsere sehr gute, vertrauliche, vertrauensvolle und geradezu freundschaftliche Arbeit in der Europäischen Union«. Tusk dagegen begann mit einem trockenen »Herr Bundeskanzler, danke, dass wir diese ehrliche, offene Diskussion hier in Berlin führen konnten«. Und weiter: »Wir werden uns ehrlich und offen über das austauschen, was im gemeinsamen Interesse liegt. Auch über die Meinungsunterschiede werden wir uns unterhalten.«
Womöglich hatte Tusk die kühle Miene bewusst aufgesetzt. Er hat in Polen mit einer rechten Opposition zu tun, die ihn sowieso jeden Tag beschuldigt, als gebürtiger Kaschube ein verkappter Deutscher zu sein. »Du warst, bist und wirst kein richtiger Pole sein«, skandierten »patriotische« Demonstranten beim »Unabhängigkeitsmarsch« in Warschau am 11. November. Die acht Jahre PiS-Regierung haben offenkundig in Polen über die Parteigrenzen hinweg diskursprägend gewirkt. Nach dem jüngsten »Polen-Barometer« empfinden nur noch 32 Prozent der Polen Sympathie für Deutschland und die Deutschen, 25 Prozent dagegen erklärten direkte Abneigung. Lagerübergreifend fühlt sich das politische Polen von der BRD nicht ernstgenommen; für einige Verstimmung hat in Warschau zuletzt gesorgt, dass Polen zu den Genfer Gesprächen mit den USA über eine »Entschärfung« des Trumpschen Friedensplans für die Ukraine nicht hinzugezogen wurde. Entsprechend besteht Warschau auch darauf, dass die polnischen Opfer des deutschen Faschismus in Berlin eine gesonderte Gedenkstätte bekommen; ein gemeinsamer Gedenkort reicht Polen nicht, und ein auf Initiative des Deutschen Polen-Instituts voriges Jahr im Berliner Tiergarten in die Erde gesenkter Gedenk-Findling ist nur als Provisorium gedacht. Im nächsten Jahr soll nun ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben werden.
Wie gut, könnte man sarkastisch zusammenfassen, dass es einen Krieg gibt, der beide Länder zum Schulterschluss zwingt. Zwischen Deutschland und Polen dürfe »kein Blatt Papier« passen, wenn es um die Unterstützung der Ukraine gehe, hatte Merz erklärt; die BRD brauche ein »starkes Polen«, und beide müssten »die Einheit der EU gewährleisten«. Tusk formulierte es nüchterner: Die polnische Ostgrenze sei auch die »erste Verteidigungslinie Deutschlands«. Entsprechend standen auch die wenigen gemeinsamen Vorhaben, die direkt genannt wurden, im Zeichen der Kriegsvorbereitung: Brücken sollen errichtet, Straßen und Bahnlinien ausgebaut werden, insbesondere auch, um im Kriegsfall Militärtransporte schneller nach Osten leiten zu können. Wie es Tusk formulierte: »Es geht nicht nur um die Fahrgäste und um den Verkehr, sondern es geht um Sicherheitsfragen. Das hat eine Schlüsselbedeutung. Polen ist bereit, schon morgen über konkrete Projekte bezüglich der Straßeninfrastruktur zu sprechen und sie anzugehen.« Wer also in ein paar Jahren vielleicht auf dem Weg nach Mazury über neue Oderbrücken fährt, sollte sich keine Illusion machen: Er ist mit den damit verbundenen Erleichterungen nicht gemeint. Kein Wort fiel übrigens in der Abschlusserklärung zu dem von Polen geforderten Ende der deutschen Kontrollen an der Grenze zu Polen.
Hintergrund: »Tiger« der EU
Das gewachsene politische Selbstbewusstsein Polens stützt sich auf zwei Faktoren. Der eine ist seine im europäischen Maßstab erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Das offizielle Wachstum betrug 2024 2,9 Prozent, für dieses Jahr wird ein Plus von 3,4 Prozent erwartet. Gleichzeitig liegt die Arbeitslosigkeit mit 3,2 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt von knapp sechs Prozent und auch niedriger als in Deutschland (3,7 Prozent). Allein zwischen 2021 und 2024 konnte sich das Land im internationalen Ranking der größten Volkswirtschaften vom 23. auf den 21. Rang hocharbeiten. Für das kommende Jahr rechnet der IWF damit, dass Polen in die Runde der 20 größten Volkswirtschaften weltweit aufrücken wird. Polen ist heute die sechstgrößte Volkswirtschaft in der EU und keines ihrer Armenhäuser mehr. Spätestens zur nächsten EU-Finanzplanungsrunde ab 2028 wird Polen nach menschlichem Ermessen vom Nettoempfänger von EU-Mitteln zu einem Nettozahler werden. Seine Volkswirtschaft ist mit durchschnittlichen Wachstumsraten um die vier Prozent seit 30 Jahren das Musterbeispiel einer erfolgreichen Transformation zum Kapitalismus.
Der andere Faktor ist, dass Polen die geopolitische Situation in Osteuropa geschickt ausgenutzt und auch mitentwickelt hat. Als nachdrücklicher Förderer der politischen Drift der Ukraine in Richtung EU und NATO hat das Land das eigene geopolitische Interesse an einem möglichst starken antirussischen Pufferstaat vor seiner Ostgrenze mit dem Bestreben der USA nach gleichzeitiger Eindämmung Russlands und der BRD verbinden können. Das Land gilt heute als politischer Musterverbündeter der USA. Und Polen bringt, anders als die nicht weniger antirussischen Baltenstaaten, das notwendige Mindestgewicht mit, um überhaupt den Ehrgeiz entwickeln zu können, »oberhalb seiner Gewichtsklasse zu boxen«. Die Aufgabe hat der ehemalige polnische Staatspräsident Lech Kaczyński formuliert.
Praktisch für die USA, liegt Polen geographisch zwischen Deutschland und Russland und kann daher alle denkbaren Versuche einer deutsch-russischen Wiederannäherung schon ganz physisch blockieren – wobei solche Versuche heute unter allen praktischen Aspekten undenkbar sind. Dies bringt die BRD tatsächlich in eine Situation objektiver militärischer Abhängigkeit von Polen, das aus deutscher Sicht wiederum den Pufferstaat gegen Russland bilden würde, wenn es mit der Installation der Ukraine als solchem doch nicht so richtig klappen sollte. Auf jeden Fall erzeugt diese Konstellation eine Interessenlage, den Krieg in der Ukraine mindestens zu verlängern, wenn er schon nicht gewonnen werden kann. (rl)
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