Absage an Wettrüsten
Von Jörg Kronauer
Die Weltlage ist brandgefährlich. Zwar »verschiebt sich das globale Kräfteverhältnis« zur Zeit »in Richtung auf ein größeres Gleichgewicht«, heißt es in dem neuen Weißbuch, das das Informationsbüro des Staatsrats der Volksrepublik China am vergangenen Donnerstag präsentiert hat. Zugleich aber stellten »Hegemoniestreben, Machtpolitik und Unilateralismus« eine ernste Bedrohung für »die internationale Nachkriegsordnung« dar: Die »geopolitische Rivalität« werde härter; das Wettrüsten eskaliere. In dieser Situation erodierten ausgerechnet noch die wenigen verbliebenen Maßnahmen zur Rüstungskontrolle, heißt es in dem Dokument. Was tun? Der Staatsrat beschränkt sich in dem neuen Weißbuch nicht darauf, die sehr düstere Lage in angemessenen Tönen zu schildern. Er macht auch konkrete Vorschläge für das, was er in dem Titel des Papiers benennt: »Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtweiterverbreitung in der neuen Ära.«
Chinesische Streitkräfte
Für die Bewaffnung ihrer eigenen Streitkräfte steckt die Volksrepublik in dem Weißbuch einen klaren Rahmen ab. China sei »entschlossen«, seine »Souveränität, seine Sicherheit und seine Entwicklungsinteressen zu schützen«, heißt es in dem Dokument; es werde dazu »ein starkes Militär« aufbauen. Dieses sei allerdings strikt auf »Verteidigung« ausgerichtet; es dürfe ausschließlich dann zuschlagen, wenn es angegriffen werde. Außerdem wolle Beijing sich nie an einem Rüstungswettlauf beteiligen. Seine Rüstungsausgaben beschränke es auf ein vertretbares Niveau, das strikt auf das Wirtschaftswachstum abgestimmt sein müsse. Der Staatsrat hält in dem Weißbuch fest, dass der chinesische Militärhaushalt im Vergleich etwa mit demjenigen der Vereinigten Staaten »recht niedrig« sei. Das trifft zu: Das Budget der chinesischen Armee liegt schon lange unterhalb von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP); und auch wenn man, wie etwa das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI es tut, Gelder einberechnet, die Beijing anderen Etatposten zuschlägt, lag es seit 1993 nur einmal über zwei Prozent des BIP. Zum Vergleich: Die USA steckten 2024 sogar 3,4 Prozent ihres BIP ins Militär; Deutschland peilt bekanntlich 3,5 Prozent an, plus 1,5 Prozent für die militärische Infrastruktur.
Stützpunkt Dschibuti
Wird die Volksrepublik, deren Bewaffnung bislang tatsächlich vor allem auf Verteidigung gegen mögliche Angriffe insbesondere der Vereinigten Staaten ausgerichtet ist, sich auch in Zukunft darauf beschränken? Seinen bislang einzigen Auslandsstützpunkt in Dschibuti baute China ab 2016 auf, weil die westlichen Flotten, die am Horn von Afrika gegen Piraten vorgingen, sich um den Schutz nur ihrer eigenen, nicht aber chinesischer Schiffe kümmerten. Die inzwischen drei Flugzeugträger der chinesischen Marine tragen dazu bei, China im Fall eines US-Angriffs militärische Spielräume im Pazifik zu verschaffen. Ob es dabei bleibt, wird man sehen. Zur Probe aufs Exempel für Beijings Bereitschaft zur Abrüstung könnte nun aber seine atomare Bewaffnung werden. US-Präsident Donald Trump droht aktuell mit der Wiederaufnahme von Atomwaffentests. Zuvor hatte er vorgeschlagen, die USA könnten mit Russland und China über nukleare Abrüstung verhandeln. Beijing hat dies bislang mit Verweis darauf abgelehnt, dass es nur einige hundert Atomwaffen besitzt, Russland sowie die USA aber jeweils rund 5.000; damit sei klar, wer mit der Abrüstung zu beginnen habe.
Nukleare Abrüstung
Etwas konkreter wird nun das neue chinesische Weißbuch. Die Volksrepublik habe ihre Atomwaffen nur deshalb beschafft, um sich gegen »nukleare Drohungen und Erpressung« zu wappnen, heißt es in dem Dokument. Zu diesem Zweck werde sie ihr Arsenal durchaus auch modernisieren. Sie habe sich aber zugleich – als bislang einzige Nuklearmacht – verpflichtet, Atomwaffen unter keinen Umständen als erste einzusetzen und sie prinzipiell nicht gegen Staaten zu nutzen, die keine Atomwaffen besitzen. Und sie trete entschlossen für eine komplette nukleare Abrüstung ein – bis hin zur Vernichtung sämtlicher Atomwaffen weltweit. Für den Weg dorthin skizziert das Weißbuch einige grundlegende Schritte.
Beginnen könne man damit, dass sich die fünf Nuklearmächte aus dem UN-Sicherheitsrat gemeinsam verpflichteten, auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten, wird in dem neuen Weißbuch vorgeschlagen. Folgen könne eine offizielle Festlegung aller Nuklearmächte, keinen dauerhaften Atomwaffenbesitz anzustreben und sich statt dessen auf ein völkerrechtliches Instrument zu einigen, das Atomwaffen generell verbietet und die Vernichtung existierender Bestände regelt. Dann könne man darangehen, Schritt für Schritt abzurüsten – freilich so, dass die strategische Stabilität weltweit gewahrt bleibe. Eine besondere und primäre Verantwortung komme dabei allerdings den Nuklearmächten mit den größten Beständen zu, von denen »drastische und substantielle« Abrüstungsschritte verlangt werden müssten.
Das neue chinesische Weißbuch schlägt Maßnahmen keineswegs nur zu atomarer Abrüstung vor. Es bezieht alle Bereiche ein – konventionelle, biologische und chemische Waffen, zudem den Weltraum, den Cyberraum und militärische Anwendungen sogenannter künstlicher Intelligenz. Es ist bereits das dritte chinesische Weißbuch zur Rüstungskontrolle; die ersten beiden wurden 1995 und 2005 vorgelegt.
Hintergrund: US-Kurs im Fokus
Chinas neues Weißbuch zur Rüstungskontrolle lässt keinen Zweifel daran, wen Beijing als Hauptverantwortlichen für die aktuelle Hochrüstung betrachtet. »Ein gewisses Land« habe etwa den ABM-Vertrag und den INF-Vertrag gekündigt, die wenigstens ein paar Beschränkungen für die Rüstung enthalten hätten, heißt es in dem Papier. Das »gewisse Land« bemühe sich mit gigantischen Rüstungsprojekten um »absolute strategische Überlegenheit«, ist weiter zu lesen; es halte an riesigen Atomwaffenbeständen fest und modernisiere sie; es gefährde die Sicherheit des Weltalls, indem es auch dort hemmungslos aufrüste, und es greife die kritische Infrastruktur anderer Länder mit heimtückischen Cyberattacken an. Das »gewisse Land« – das sind, auch wenn sie nicht namentlich genannt werden, selbstverständlich die USA.
Eine der zahllosen Aktivitäten des »gewissen Landes« besteht darin – dies wird im Weißbuch eigens festgehalten –, Mittelstreckenraketen fernab der USA zu stationieren, und zwar in Europa und in der Asien-Pazifik-Region gleichermaßen. Konkret sind dies zum einen die Mittelstreckenwaffen, die ab kommendem Jahr in Deutschland stationiert werden und auf Russland gerichtet werden; zum anderen solche, die von den Philippinen und Japan aus China bedrohen. Bei letzteren geht es bislang vor allem um »Typhon«-Raketensysteme, mit denen man unter anderem »Tomahawk«-Marschflugkörper abfeuern kann. Die US-Streitkräfte haben im Rahmen von Manövern zwei »Typhon«-Systeme verlegt, eines bereits 2024 in den Norden der Philippinen – und damit in größtmögliche Nähe zu China –, ein zweites in diesem Jahr nach Japan. Letzteres haben sie im November wieder abgezogen; ersteres aber haben sie auf den Philippinen prinzipiell einsatzfähig zurückgelassen.
Mit der Stationierung von Mittelstreckenwaffen untergrabe das »gewisse Land« das »globale strategische Gleichgewicht«, wird im Weißbuch zur Rüstungskontrolle jetzt festgehalten. China lehne dies ab und fordere »das Land« auf, »die vorgeschobene Stationierung von Angriffswaffen, darunter Raketen, zu unterlassen«. Die Volksrepublik werde jedenfalls entschlossen gegen sämtliche Aktivitäten vorgehen, die »ihre Kerninteressen bedrohen oder untergraben«. Dies gelte zudem für das Vorhaben, unter der Bezeichnung »Golden Dome« eine umfassende Raketenabwehr im Weltraum zu stationieren. Damit werde nicht nur das globale strategische Gleichgewicht gestört; es werde auch das Weltall noch stärker als bisher in die Kriegsplanungen und im Ernstfall in die Kriegsführung einbezogen. Das jedoch ist, daran lässt das Weißbuch keinen Zweifel, aus chinesischer Sicht gerade der falsche Weg. (jk)
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