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Aus: Ausgabe vom 03.12.2025, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Totalitarismus

Von Marc Püschel
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Mussolini übernahm den von seinen Gegnern verwendeten Begriff des »totalen Staats«. Propagandawand in Rom

Wissenschaft, sagt Max Weber, solle voraussetzungslos, das heißt frei von Werturteilen, sein. Diesem Ideal genügen zwar die wenigsten Wissenschaftler, doch in kaum einem Bereich vollzieht sich eine solche Verkehrung wie in der »Totalitarismustheorie«. In ihr geht der wissenschaftliche Befund nicht mehr dem politischen Urteil voraus, vielmehr wird dieses zu jenem erklärt.

Die Charakterisierung von Staaten als »totalitär« besagt im wesentlichen, dass diese bzw. die in ihnen herrschenden Parteien einen uneingeschränkten Zugriff auf die Bevölkerung haben. Mittels Massenpropaganda, der Gleichschaltung politischer Gewalten und Massenorganisationen sowie der Kontrolle von Medien und Wirtschaft soll der Mensch auf eine bestimmte Ideologie hin erzogen werden. Systematische Repressionen und Terror sorgen dafür, dass alle sich ihr fügen. Als typische totalitäre Staaten gelten das faschistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin. Sie vergleichend zu untersuchen ist das Hauptanliegen dieses Paradigmas.

Zwei Dinge setzt die Totalitarismusdoktrin als geschichtspolitisches Instrument dabei immer voraus, ohne sie in Frage zu stellen. Erstens beschränkt sie sich auf die Untersuchung reiner Formen und sieht von Unterschieden in den Inhalten ab. Doch dass in manchen Staaten beispielsweise bei der Vermittlung bestimmter Werte im Erziehungswesen mehr Zwang angewandt wird, besagt noch nichts über den Wert dieser Werte. Die Abschaffung der Ausbeutung für alle Menschen zu propagieren ist etwas ganz anderes als die »Rassenreinheit« anzustreben – für die Totalitarismustheorie ein zu vernachlässigender Unterschied.

Zweitens ist der Kreis an Staaten, die innerhalb dieser Forschung miteinander verglichen werden, von vornherein festgelegt. Erst unter der Voraussetzung, dass Sozialismus wie Faschismus die zu vergleichenden Diktaturen sind, kommt sie überhaupt in Gang. Vorgegeben ist damit zugleich, dass nur staatliche Strukturen oder Parteien »totalitär« sein können. Dabei könnte eine an diesem Adjektiv orientierte Forschung vielleicht sogar sinnvoll sein, wenn sie bürgerliche Demokratien nicht ausblenden und sich fragen würde, wodurch ein totaler Zugriff auf den Menschen zustande kommen kann. Schließlich handelt es sich beim Kapitalismus um ein System, das auf dem totalen Zugriff des Marktes auf den Menschen basiert und das dessen Handeln und Denken weitaus rücksichtsloser und effizienter umformt, als es jemals ein Propagandaministerium könnte.

Dass solche Fragen gar nicht erst gestellt werden, wird aus der Geschichte des Begriffs verständlich. Erstmalige Verwendung fand der Ausdruck zwar 1923 bei dem italienischen Antifaschisten Giovanni Amendola, der Mussolinis frühe Herrschaft als »totalitäres System« charakterisierte. Einen Durchbruch erlebte er jedoch erst im anhebenden Kalten Krieg. Wegweisend wurde Hannah Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« von 1951 (auf deutsch 1955 erschienen). Arendt differenzierte zwar noch zwischen Diktatur, Tyrannis und totalitärer Herrschaft – letztere gekennzeichnet vor allem durch permanenten Terror im Namen natürlicher oder historischer Gesetzmäßigkeiten – und warnte: »Wir haben allen Grund, mit dem Wort ›totalitär‹ sparsam und vorsichtig umzugehen.« Doch die Warnung fiel auf unfruchtbaren Boden, zu nützlich war im Westen die Relativierung des Naziregimes durch ständige Vergleiche mit den Kommunisten.

Heutzutage gibt es ein ganzes Netzwerk an Lehrstühlen, Instituten, Vereinen und Publikationen, die sich der Totalitarismusdoktrin widmen. Dort wird sie, oft vermittelt über verwandte Felder wie die Hufeisentheorie und die »Extremismusforschung«, nutzbar gemacht. Als handele es sich um feststehende Tatsachen, werden die Ergebnisse dann als politische Begründung herangezogen, zuletzt in der neuen Gedenkstättenkonzeption von Wolfram Weimer (vgl. junge Welt vom 28.11.2025). So gerinnt der Vergleich, der sich den Anschein der Wissenschaftlichkeit gibt, endgültig zur Waffe.

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