»Social Media priorisieren«
Von Kim LuchtIn diesen Tagen erscheint Heft 144 der Zeitschrift Z. Marxistische Erneuerung mit dem Themenschwerpunkt »Jugend in Bewegung«. Wir veröffentlichen daraus redaktionell gekürzt und mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber ein Interview, das Kim Lucht mit dem Podcaster Fabian Lehr geführt hat. Die Hefte von Z können bestellt werden unter: zeitschrift-marxistische-erneuerung.de (jW)
Fabian, Du nutzt seit längerer Zeit Social Media, um deine Sicht der Dinge auf politische Ereignisse, aber auch Analysen und Praxen darzustellen und du erreichst damit sehr viele Leute. Zum Einstieg, was hat dich überhaupt dazu motiviert? Wann hast du damit angefangen und was versuchst du damit zu erreichen?
Zu Beginn der Produktion von politischem Content auf Social Media hatte ich eigentlich noch keine klare politische Intention. Um 2012/13 herum habe ich nonstop historische und politische Literatur gelesen. Da habe ich mir gedacht, warum soll ich zu den verschiedenen historischen und politischen Werken, die ich lese, nicht auch ein paar Gedanken auf Social Media posten? Das war damals noch exklusiv auf Facebook. Diese zunächst reinen Lektürenotizen sind sehr gut angekommen, und dann hat es langsam begonnen, dass Leute mir auf Social Media gefolgt sind, um meine Buchbesprechungen zu lesen. So ist die Motivation entstanden, zu Kommentaren, zu tagespolitischen oder auch zu marxistischen theoretischen Fragen überzugehen. Dadurch hat mehr und mehr auch ein dezidiert marxistisch orientiertes Publikum begonnen, mir zu folgen. Andererseits habe ich die Feststellung gemacht, dass dadurch, dass das Publikum gewachsen ist, mir auch immer mehr Leute in die Timeline gespült wurden, die eigentlich mit linker Politik oder einer marxistischen Prägung gar nichts zu tun haben und ich dadurch offensichtlich Leute für eine linke Weltsicht einnehmen konnte.
Du hast gerade schon gesagt, dass du mit Facebook angefangen hast. Inzwischen bist du auch bei Instagram und betreibst einen eigenen Podcast über Youtube und Spotify. Kannst du etwas zu den einzelnen Formaten sagen, wie hat sich das verändert? Was haben die einzelnen Formate für Vor- und Nachteile? Wie kam es zum Wechsel der Plattform?
Also der Grund, warum ich meine Tätigkeit von Facebook überwiegend auf andere Plattformen verlagert habe, war ein sehr banaler. Ab 2017 ist der Algorithmus auf Facebook langsam durchgedreht. Ich war auf Facebook eigentlich dauergesperrt, teilweise nur, weil ich in Posts die Sowjetunion erwähnt oder weil ich Aussagen von Reaktionären zitiert hatte, um darauf zu reagieren. Auf Instagram bin ich gewechselt, damit ich überhaupt eine Plattform habe, auf der ich mich noch ohne permanente Sperren ausdrücken kann. Ich habe dann festgestellt, dass der Algorithmus auf Instagram die Verbreitung von politischem Content sehr viel stärker begünstigt als Facebook. Obwohl ich auf Instagram gar nicht so viel mehr Follower habe, bekomme ich hier teilweise 2.000 bis 3.000 Reaktionen, auf Facebook sind es 50. Das finde ich allein deshalb bedauerlich, weil Facebook von der technischen Gestaltung her eigentlich viel besser für politischen Content geeignet. Facebook ist die einzige große Social-Media-Plattform, auf der die Kommunikation in Form von langen Texten und auch langen Kommentarspalten wirklich möglich ist.
Dieses Problem der Sperrung oder der Einschränkung von marxistischem Content erleben wir zunehmend. Zum Beispiel wurde vor kurzem der Instagram-Account der »Kommunisten Kneipe« gelöscht und damit auch ihr gesamter Content. Wie würdest du das einschätzen, was sind die Grenzen von marxistischem Content auf diesen Plattformen?
Also ich glaube, dass man da zwei Dinge auseinanderhalten muss. Das eine ist, dass Social-Media-Plattformen generell vor dem Dilemma stehen, dass sie politischen Content, welcher Ausrichtung auch immer, eigentlich nicht gern auf ihren Plattformen haben wollen, weil das potentiell eben zu Kontroversen führt, möglicherweise auch zu juristischen Problemen. Andererseits generiert politischer Content auch viel Traffic, weswegen sie das nicht gänzlich unterbinden können. Aber die ersten Sperrungswellen, die ich auf Facebook schon erlebt habe, waren offenkundig keine dedizierte Zensur gegen links, sondern der Ausdruck eines noch sehr primitiven, schlecht funktionierenden Algorithmus. Was wir jetzt in den letzten zwei, drei Jahren sehen, ist aber etwas anderes, und zwar zunehmende Repression, dediziert gegen linken Politcontent. Das ist allerdings ein Phänomen, das noch nicht sehr weit verbreitet ist. Wir sehen eine Zunahme der Sperrung von linken Konten, aber ich glaube, es ist unser Unglück und unser Segen zugleich, dass die radikale Linke momentan einfach noch zu irrelevant ist, um das primäre Ziel von Repressionskampagnen auf Social Media zu sein. Vor der großen kulturellen »Zeitenwende« mit der Entwokisierung durch Trump usw., war es eher so, dass die Social-Media-Konzerne als eine Art von Virtue-Signaling ein paar reichweitenstarke Nazi- und Faschoaccounts gelöscht haben, um zu zeigen, wir sind Demokraten, wir sind die Guten. Das hat jetzt weitgehend aufgehört, weil mittlerweile faschistischer Content insbesondere in den USA einfach Mainstream geworden ist.
Abhängig und verletzlich
Ich denke, dass das Löschen von linkem Content massenhaft zunehmen wird. Gleichzeitig haben wir eine Situation, in der Linke, wenn sie Reichweite außerhalb ihrer eigenen Bubble erreichen wollen, gezwungen sind, die großen Social-Media-Plattformen zu nutzen, weil man nur dort Leute erreicht, die noch nicht links politisiert sind, auf denen wir uns aber in eine vollständige Abhängigkeit begeben. Das heißt, wir haben eine Situation, in der Social-Media-Accounts eine größere Rolle bei der Politisierung der Öffentlichkeit spielen als traditionelle Großmedien. Diese neuen Social Media bewegen sich aber in einem Raum, der vollkommen dem Privatrecht unterliegt und damit bei Debatten über Pressefreiheit eigentlich gar nicht getroffen wird. Das macht uns natürlich extrem vulnerabel.
Wie siehst du in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Social Media und klassischen Tages- und Wochenzeitungen? Laufen sie getrennt voneinander oder gibt es die Möglichkeit, dass klassische Medien die Vulnerabilität auf Social-Media-Plattformen abfedern können?
Also, ich hoffe, dass beide sich stärker ergänzen werden, als sie es in den letzten Jahren getan haben. Ich sehe durchaus auch hoffnungsvolle Ansätze. Vor fünf bis sechs Jahren gab es fast gar keine linksradikale, kommunistische Youtube- oder Spotify-Sphäre im deutschsprachigen Raum. Aber mittlerweile scheint mir schon, dass sich zwischen den linksradikalen Printmedien und den neuen Social-Media-Angeboten eine Art informeller Kooperation herausgebildet hat. Es gibt zum Beispiel Heftvorstellungen¹ sozialistischer Publikationen oder Interviews mit Leuten, die in traditionellen Medien schreiben. Ebenso bewerben junge Welt und Neues Deutschland linke Social-Media-Accounts, und die rufen umgekehrt dazu auf, junge Welt und Neues Deutschland zu abonnieren.
Ich denke, man muss im Auge behalten, dass sie unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die Hauptaufgabe von Printmedien oder überhaupt traditionellen größeren Medien sehe ich in erster Linie darin, Nachrichten zu beschaffen, die für Linke relevant sind. Die Hauptaufgabe der virtuellen linksradikalen Formate sehe ich in erster Linie darin, einerseits die von solchen traditionellen linken Medien gewonnenen Informationen zu verbreiten und zu popularisieren, andererseits auf der Grundlage dieser Informationen eine Interpretation der Ereignisse anzubieten. Ich glaube, was von Youtube, Spotify und anderen Social Media-Formaten mehr und mehr ersetzt oder zumindest an den Rand gedrängt wird, sind die klassischen Meinungsformate in den Printmedien. Was sie aber nicht ersetzen können, ist investigative Recherche oder Reportertätigkeit. Ich glaube, dass beide zwingend aufeinander angewiesen sind, dass aber auch der Aufstieg von linken Social-Media-Accounts den Niedergang der linken Printmedien in einer gewissen Weise bremsen oder umkehren kann. Und zwar dann, wenn sie ihrem Publikum klarmachen, dass es diese Printmedien weiterhin braucht. Weil hier die Grundlage dafür geschaffen wird, dass so etwas wie linke Social-Media-Arbeit überhaupt möglich ist.
Ich würde jetzt gerne noch mal stärker auf das Publikum eingehen, das linke Social-Media- Beiträge konsumiert. Kannst du etwas zu deinem Publikum sagen? Wer ist das? Lässt sich das überhaupt nachvollziehen?
Was ich rekonstruieren kann, hängt stark von den Plattformen selbst ab, und das Publikum unterscheidet sich auch auf den verschiedenen Plattformen. Also die mit Abstand maskulinste Plattform ist erwartungsgemäß Youtube. Das hängt aus meiner Sicht damit zusammen, dass Youtube die rüdeste Diskussionskultur in den Kommentarspalten hat. Auf Youtube ist mein Publikum zu 80 bis 90 Prozent männlich und das scheint bei allen kommunistischen Kanälen so zu sein, wie bei der »Kommunisten Kneipe« oder bei »99 zu EINS«. Bei Spotify ist es weniger krass, da habe ich normalerweise aber auch 60 bis 70 Prozent männliche Zuhörer. Instagram ist ziemlich ausgeglichen, und interessanterweise ist Tik Tok die mit Abstand weiblichste Plattform. Auf Tik Tok habe ich tatsächlich 70 Prozent weibliche Zuhörerinnen. Aber es ist auch die Plattform, die ich am wenigsten bespiele, weil ich mit Tik Tok nicht richtig klarkomme.
Polarisierung
Wozu ich auch Informationen bekomme, ist zum Beispiel der Altersschnitt. Der ist niedrig, aber auch nicht so niedrig, wie man vielleicht erwarten würde. Bei Youtube ist eine knappe Mehrheit meines Publikums unter 35 Jahre alt. Normalerweise sind um die 50 bis 55 Prozent unter 35 Jahre und 40 bis 45 Prozent über 35 Jahre alt. Auffällig ist, dass die mittleren Altersgruppen, also zwischen 35 und 60, am wenigsten repräsentiert sind. Das ist etwas, was man auch im Real Life in fast jedem politisch linken Kontext sieht. Man hat einerseits die Leute, die vor dem Zusammenbruch der traditionellen kommunistischen linken Großorganisationen in den 1990er Jahren sozialisiert wurden. Man hat andererseits sehr junge Leute, die sich in den letzten Jahren links politisiert und radikalisiert haben. Es fehlt die Generation derjenigen, die in den 1990er, 2000er Jahren aufgewachsen sind. Wir haben einen großen Zustrom von sehr jungen Leuten, die sich nach links politisieren, die sich dediziert wieder als Kommunist:innen betrachten.
Noch interessanter ist, dass selbst diejenigen, die das nicht tun, die eine sozialistische Positionierung ablehnen, sich mit der Frage, was sie von Sozialismus und Kommunismus halten, üblicherweise mal bewusst auseinandergesetzt haben. Wir sehen ja, dass bei sehr jungen Leuten die sogenannten traditionellen zentristischen Mittelparteien völlig erodieren. Die AfD ist bei sehr jungen Leuten häufig die stärkste Partei, bei der Bundestagswahl wurde sie von der Linkspartei überholt, die jetzt keine kommunistische Kaderorganisation ist, aber eben doch einen Linksschwenk anzeigt. Es ist schon zunehmend so, dass sehr junge Leute in Deutschland, die sich als politisch verstehen, entweder ein wirklich dediziert linkes oder ein dediziert rechtes Selbstverständnis haben.
Kannst du erklären, woran diese Polarisierung liegt? Also warum sind Jugendliche besonders anfällig für? Warum beschäftigen sie sich mit Alternativen und ihrer Beziehung zum Sozialismus?
Das Fortschrittsversprechen, dieses Versprechen der linearen Verbesserung der eigenen Lebensumstände, das in der Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks in den 90er Jahren noch propagiert wurde, hat sich offenkundig nicht bewahrheitet. Und selbst 15- bis 17jährigen ist heute schon klar, dass ihr Leben in 30, 40 Jahren im Rahmen dieses Systems garantiert nicht besser sein wird als jetzt. Und ich kann froh sein, wenn es nicht dramatisch schlimmer sein wird. Leute konsumieren die Medienwelt, beschäftigen sich mit Themen wie: »Wie kommt der Zusammenbruch der Zivilisation zuerst? Durch die Klimakatastrophe oder durch einen imperialistischen Weltkrieg?« Sie lesen Meinungskommentarspalten, in denen ihnen dargelegt wird, es ist alternativlos, den Sozialstaat de facto abzuschaffen, es ist alternativlos, das Rentensystem zu demontieren, es ist alternativlos, das staatliche Gesundheitssystem zu zerstören. Die Antwort darauf kann natürlich einerseits eine reaktionäre sein, und wir sehen ja, dass tatsächlich die AfD bei sehr jungen Leuten sehr beliebt ist. Wir sehen aber umgekehrt auch eine fundamentale Zurückweisung dieses Systems und eine Linkspolitisierung. Wir sehen eine zunehmende Polarisierung, und die Frage ist, ob wir es schaffen, dieses allgemeine Gefühl der Ausweglosigkeit des bestehenden Systems in eine linke, in eine progressive, statt in eine reaktionäre Richtung umzulenken.
Problem Tik-Tok
Ein etwas verstörendes Erlebnis war für mich die Einrichtung eines Tik-Tok-Accounts. Als ich den Account neu eingerichtet und noch keinerlei eigene Aktivitäten begonnen hatte, habe ich nur Faschocontent angezeigt bekommen. Das war teilweise nicht einmal 0815-AfD-Content, sondern wirklich neonazistischer Content, der mir einfach anhand der Einschätzung –männlicher Neu-User zwischen 30 und 40 – nonstop angezeigt wurde. Es ist so, dass die AfD auf Tik Tok eine höhere Reichweite hat als alle anderen deutschen Parteien zusammengenommen. Aber auf Platz 2 kommt eben auch schon die Linkspartei, während die alten zentristischen Parteien eigentlich gar keine Rolle auf Tik Tok spielen. Und die Frage ist, ob wir es schaffen, dieses Momentum, dass – aus meiner Sicht – reformistische Linkspartei-Politikerinnen wie Heidi Reichinnek geschafft haben, einerseits auszubauen und andererseits einen Weg zu finden, wie man von einer solchen doch zahmen, reformistischen Politisierung auf Tik Tok und anderen Plattformen zu radikaleren sozialistischen Positionen kommen kann. Das Hauptproblem von Linken ist nicht unbedingt die Art ihres Auftretens, sondern dass sie es einfach viel zuwenig machen. Ich glaube, das Hauptproblem ist momentan immer noch der Unwille, Social Media zu priorisieren.
Welchen Stellenwert haben soziale Medien für Jugendliche in ihrer Politisierung? Suchen sie dezidiert nach politischem Inhalt oder ist es umgekehrt so, dass Jugendliche durch das Verweilen auf diesen Plattformen mit Content konfrontiert werden, der sie politisiert?
Ich kann es nicht mit einer repräsentativen Umfrage untermauern, aber ich habe nach den Berichten, die ich in linken Jugendorganisationen gehört habe, schon den Eindruck, dass Social Media mittlerweile der Hauptort der Politisierung für junge Leute ist. Dabei ist es nur wichtig, dass man zwischen den verschiedenen Social-Media-Plattformen unterscheidet. Niemand geht auf Tik Tok, um sich dort politisch weiterzubilden. Aber Tik Tok ist eben für die Mehrheit der Jugendlichen oder auch sehr jungen Erwachsenen die erste Anlaufstelle, wo sie zunächst unbewusst mit politischem Content in Berührung kommen. Tik Tok ist die Plattform, auf der es Linke besonders schwer haben, mit Rechten zu konkurrieren, weil Tik Tok eine wirklich inhaltliche Auseinandersetzung am wenigsten ermöglicht. Mittlerweile kann man zwar längere Clips online stellen, aber die gehen im Algorithmus komplett unter. Ich habe auf Tik Tok ein paar Mal den Versuch gemacht, 10- bis 15-Minuten-Videos online zu stellen. Die hatten zunächst auch hohe Aufrufzahlen. Ein 10minütiges Video hatte auf Anhieb an einem Tag 40–50.000 Aufrufe. Dann habe ich mir aber die Statistik angesehen und ich glaube 0,01 Prozent haben sich das Video bis zum Ende angesehen, während 90 Prozent derjenigen, die es aufgerufen haben, innerhalb der ersten 20 Sekunden weg waren. Das heißt, auf Tik Tok ist alles darauf berechnet, dass man seine Message innerhalb von 20 bis 30 Sekunden unterbringt. Und das ist etwas, das Linke grundsätzlich weniger gut können. Der Grund liegt in einem gänzlich anderen Politikverständnis.
Es ist ja viel darüber gesprochen worden, dass die Ästhetisierung von Politik etwas typisch Faschistisches, etwas typisch Rechtes sei, da ist auch was dran. Dieser ganze Faschomüll, der mittlerweile überwiegend auch KI-generiert ist, der vermittelt ja nicht irgendeine theoretische Auseinandersetzung. Da gibt es keine Argumentation. Aber Linke haben ja den Anspruch, die Menschen davon zu überzeugen, ihre objektiven Interessen zu erkennen und für diese zu kämpfen. Und ich glaube, das können wir einfach sehr schlecht in 20-Sekunden-Clips tun. Man kann natürlich durchaus auch mit Tik-Tok-Formaten Leute erstmals politisieren, aber ich glaube, die Plattformen, wo Linke tatsächlich Menschen dauerhaft in ihren Dunstkreis ziehen können, sind dann schon eher Sachen wie Youtube, wie Spotify, wie Instagram, wo man in der Lage ist, zumindest eine rudimentäre Argumentation zu entwickeln. Und das scheint mir auch nicht erfolglos: Ich habe inzwischen schon, und da schließen sich andere Kanäle an, von einer dreistelligen Zahl von jungen Leuten Rückmeldung bekommen, dass sie wegen des Schauens meines Kanals Mitglied von Kaderorganisationen oder zumindest Linksparteimitglieder geworden sind.
Was sind die Themen der Jugend? Was bewegt junge Leute, die dir schreiben, dass sie sich organisiert haben?
Da muss ich natürlich wieder vorausschicken, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mit denen ich in Kontakt komme, eine kleine, gefilterte Auswahl sind. Also mit Jugendlichen, die AfD wählen, komme ich in solchem Rahmen nie in Kontakt.
Aber ich würde sagen, für Jugendliche, die sich links politisiert haben, die in eine revolutionäre und sozialistische Richtung gehen, war die Klimabewegung ab 2018 ein Initialerlebnis. Das war der Punkt, an dem vielleicht das erste Mal seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, seit dem Ende der unmittelbaren Atomkriegsgefahr, sehr viele junge Leute in Deutschland das Gefühl entwickelt haben, dass sie im Rahmen des bestehenden Systems keine wirkliche Zukunft haben. Die Mehrheit derer, die auf Fridays-for-Future-Demos gegangen sind, sind keine Sozialistinnen oder im weiteren Sinne Linke geworden. Viele sind irgendwann bei den Grünen gelandet. Aber noch mehr haben gesehen, dass diese Appelltaktik an die bürgerliche Politik keine Resultate zeigt, sie sind einfach zynisch und apolitisch geworden. Aber ich habe damals den Eindruck gehabt, dass innerhalb der Klimabewegung die Leute für linke Positionen sehr ansprechbar waren. Dass schon bei jungen Erwachsenen, die damals auf die Straße gegangen sind, ein gewisser Konsens bestand, dass das kapitalistische System keine Zukunft bietet und dass sie sehr bereitwillig waren, Sozialist:innen und Kommunist:innen zuzuhören. Man sieht ja, dass in verschiedenen Städten die Präsenz von auch nur ein paar organisierten, theoretisch gefestigten Marxisten teilweise die Klimabewegung einer ganzen Stadt nach links reißen konnte. Ich glaube, dass es ein sehr schwerer Fehler war, dass viele linke Organisationen es damals versäumt haben, stärker in der Klimabewegung zu intervenieren.
Der nächste Schritt dieser Politisierung war dann mit Sicherheit auch der Beginn des Ukraine-Kriegs, die wieder aufgekommende Erkenntnis, dass nicht nur durch den Klimawandel, sondern auch durch die Möglichkeit des imperialistischen Großkrieges das eigene Leben unmittelbar gefährdet sein kann, was aber weniger stark zu einem Organisierungsschub geführt hat.
Neue Verbindungen
Die nächste große Etappe war der Krieg in Gaza. Das ist schon ein Erlebnis, von dem mir scheint, dass es in der Politisierungswirkung ähnlich ist wie die Antivietnamkriegsbewegung in den USA der 1960er Jahre. Es ist eines der Erlebnisse, das jungen Leuten mit einer besonderen Drastik zeigt, wie verlogen der Anspruch des eigenen Staates ist, eine Kraft des Guten, eine Kraft des Fortschritts in der Welt zu sein. Diese Erkenntnis, dass der eigene Staat eine bösartige Macht ist, die aktiv einen Genozid unterstützt, den junge Leute jeden Tag live auf Social Media verfolgen können, ist eine, die bei sehr, sehr vielen jungen Leuten nicht nur eine Desillusionierung, sondern einen wirklichen Hass auf ihren Staat und die bestehenden Verhältnisse ausgelöst hat. Und diese Leute sind natürlich überaus ansprechbar für linke Positionen. Mir scheint, dass auch die Gazabewegung eine Verbindung geschaffen hat zwischen migrantischen Communitys, die bisher nicht stark in die politische Szene eingebunden waren, und der radikalen Linken. Dass migrantische Jugendliche und junge Erwachsene gesehen haben, hey, die Sozialisten, die Kommunisten sind ja im deutschen politischen Spektrum die einzigen, die keine menschenverachtende Position zum Nahostkonflikt haben. Wenn diese Leute schon in dem Punkt irgendwie unsere Menschenwürde als Muslim:innen, als Araber:innen achten, dann können wir uns ja auch mal anhören, was diese Leute zu anderen Themen zu sagen haben. Ich habe den Eindruck, dass die Verbindung zwischen insbesondere migrantischen jungen Leuten und der radikalen Linken sich enorm verfestigt hat.
Ein besonders häufig besprochenes Thema, das im Zusammenhang mit Social Media Diskussionen aufkommt ist die Debattenkultur. Was würdest du sagen, wirkt sich diese Debattenkultur auch auf politische Diskussionen und Politisierungen im realen Leben aus?
Grundsätzlich ist es so, dass Kommentarspalten von Social-Media-Auftritten insbesondere politischer Natur eine kommunikative Hölle sind, aber ich habe nicht wirklich den Eindruck, dass sich das niederschlägt in einer Veränderung der Real-Life-Debattenkultur. Es ist eher so, dass Menschen die Kommunikation im virtuellen Raum und die mit physisch präsenten Menschen in der realen Welt als zwei völlig verschiedene Sphären wahrnehmen, die ihr Verhalten nicht gegenseitig beeinflussen. Aber es ist natürlich insofern ein Problem, als diese grauenhafte Diskussionskultur in Kommentarspalten dazu führt, dass sich Leute, bevor sie beginnen, sich auf Social Media politisch zu äußern, ein sehr dickes Fell zulegen müssen. Ich glaube, dass diese Debattenkultur einer der Gründe ist, warum es auch in linken Kontexten einen derartigen Männerüberschuss in politischen Diskussionskontexten gibt, weil der Shitstorm, weil die Beleidigungen, die einer öffentlich auftretenden Frau entgegenschlagen, noch viel krasser sind. Natürlich werden Männer auch nonstop beschimpft, aber es sind überwiegend Beschimpfungen, die noch irgendwie den Hauch einer Argumentation enthalten, die sich irgendwie auf ihre politischen Positionen beziehen, während Frauen, die es wagen, sich politisch zu äußern, nonstop ad hominem beschimpft werden.
Hast du den Eindruck, dass linke Gruppen als alternative Anlaufstelle wahrgenommen werden, um politischen Austausch ohne Shitstorm zu finden? Können sie das überhaupt?
Ich hoffe, dass sie es können, zu einem gewissen Grad. Ich denke auch, dass einerseits die Organisierung in einer Kaderorganisation einen gewissen Schutz darstellt für Leute, die nicht selbstsicher genug sind, dass sie als Individuum mit Klarnamen und Gesicht öffentlich auftreten können. Andererseits müssen Kaderorganisationen, überhaupt linke Organisationen, auch darauf hinwirken, das politische Selbstbewusstsein ihrer Mitglieder soweit zu stärken, dass sie auch selbst agitieren können, dass sie selbst propagandistisch für ihre Organisation, für ihre Überzeugungen auftreten können. Das geht auch viel leichter, wenn ich Mitglied einer mich unterstützenden großen Organisation bin, als wenn ich das als Einzelkämpfer:in auf Social Media mache. Der Wunsch, den ich für die Politisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen habe, ist ja auch nicht, dass jeder Unorganisierte linker Content-Creator wird. Der Aufruf, den ich eigentlich in jedem meiner Videos verbreite, ist, schaut euch in eurer Stadt die Angebote von linken Organisationen, von linken Kaderorganisationen an, die es gibt, und entscheidet, in welcher Organisation ihr Mitglied werden wollt.
Anmerkung:
1 Die Heftvorstellungen der Z. finden zum Beispiel zeitnah nach der Veröffentlichungen auf dem Podcast »99 zu EINS« statt.
Interview: Kim Lucht
Friedenspropaganda statt Kriegsspielzeug
Mit dem Winteraktionsabo bieten wir denen ein Einstiegsangebot, die genug haben von der Kriegspropaganda der Mainstreammedien und auf der Suche nach anderen Analysen und Hintergründen sind. Es eignet sich, um sich mit unserer marxistisch-orientierten Blattlinie vertraut zu machen und sich von der Qualität unserer journalistischen Arbeit zu überzeugen. Und mit einem Preis von 25 Euro ist es das ideale Präsent, um liebe Menschen im Umfeld mit 30 Tagen Friedenspropaganda zu beschenken.
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