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Aus: Ausgabe vom 18.11.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Überakkumulation

Gefangen in der Blase

Immer mehr Geld fließt in den KI-Sektor. Doch dem aktuellen Hype entspricht kein Unternehmensgewinn durch Anwendung der Technologie
Von Dominic Iten
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Exorbitante Börsenbewertung, die den Jahresgewinn um ein Vielfaches übersteigt. So wie Nvidia geht es etlichen KI-Unternehmen

Ende Oktober wurde Nvidia-Chef Jensen Huang mit dem stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden von Samsung Electronics und dem CEO der Hyundai Motor Company bei Bier und Brathähnchen im Restaurant Kkanbu Chicken in Seoul gesichtet – ein Essen mit Folgen: Innerhalb weniger Tage schoss der Aktienkurs von südkoreanischen Brathähnchenrestaurants und Zulieferern bis zu 20 Prozent in die Höhe. Eine Anekdote, die zeigt, was längst alle wissen: Anleger stecken ihr Geld in alles, wo KI draufsteht, und in alles, was irgendwie im Zusammenhang mit dem KI-Hype steht.

Bill Gates zieht inzwischen Parallelen zur Dotcom-Blase, die um die Jahrtausendwende die halbe Weltwirtschaft in die Tiefe riss. Auch damals hatten Anleger angesichts technischer Durchbrüche auf die Bildung neuer Märkte gesetzt, auf Produktivitätszuwächse und entsprechende Profite. Damals wie heute führten übersteigerte Erwartungen zu Fehlinvestitionen – auch vor dem Hintergrund der anhaltenden Kapitalverwertungskrise: Seit Jahrzehnten steht zuviel Kapital zuwenig profitablen realen Anlagemöglichkeiten gegenüber.

Chronischer Kapitalüberhang

Diese Konstellation ist die Grundlage einer seit den 1980er Jahren chronisch gewordenen Blasenökonomie. Weil die reale Akkumulation zur Stabilisierung der Profitraten nicht mehr ausreicht, wird Wachstum immer wieder über Spekulation erzwungen: erst mit der Dotcom-Blase, dann mit der Immobilienblase, schließlich mit der von den Notenbanken aufgepumpten Liquiditätsblase der Nullzinsjahre. Anstatt die Krise zu lösen, verschieben diese Blasen die Konsequenzen des Kapitalüberhangs in die Zukunft. KI erscheint als jüngster Versuch, dieses strukturelle Problem mit einem neuen Profitmärchen zu überdecken: ein letztes großes Versprechen, wonach sich das angehäufte fiktive Kapital doch noch in reale Profite verwandeln lasse.

Bereits Mitte Oktober hatten die Bank of England und der Internationale Währungsfonds vor einer starken Marktkorrektur gewarnt. Wenig später befand die NZZ, die Euphorie rund um KI treibe Anleger in einen gefährlichen Rausch, alle wüssten um die Gefahr, »können aber nicht aussteigen«. Das stimmt: Es handelt sich um eine Katastrophe mit Ansage – doch solange die Gelder fließen, kann kein Konzern, kann kein Anleger aussteigen. KI ist als Technologie der Zukunft »too big to miss«. Solange die andern noch drin sind, traut sich niemand raus – wer aussteigt, könnte was verpassen. Diese erzwungenen Einzelentscheidungen haben die globalen Kapitalströme und die gesamte US-Wirtschaft schicksalhaft an die Entwicklung des KI-Sektors gekoppelt.

Die KI-Blase ist 17mal so groß wie die Dotcom-Blase und viermal so groß wie die Subprime-Hypothekenblase, deren Platzen die Finanzkrise von 2008 ausgelöst hat. 80 Prozent der 2025 erzielten Gewinne an den US-Aktienmärkten wurden von KI-Unternehmen erzielt. Der KI-getriebene Aktienmarkt zieht Geld aus aller Welt an: Im zweiten Quartal 2025 flossen ausländische Gelder im Wert von 290 Milliarden US-Dollar in US-Aktien. Sie machen damit rund 30 Prozent des Marktes aus – ein Wert, so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Technisch unreif

Die ganze Welt der Anleger setzt darauf, dass KI die Arbeitsproduktivität und damit die Renditen steigert, aber bislang gibt es dafür nur wenig Anzeichen. Einzelne erfolgreiche Vorzeigeprojekte können nicht darüber hinwegtäuschen: Die Einnahmen können mit den Investitionen nicht Schritt halten, viele Systeme sind technisch unreif. Laut einem aktuellen Bericht des Massachusetts Institute of Technology verzeichnen rund 95 Prozent der Unternehmen trotz milliardenschwerer KI-Investitionen bisher keinen messbaren Gewinn- oder Umsatzschub. Der Unternehmensberater McKinsey kommt zu ähnlichen Ergebnissen: 80 Prozent der Unternehmen sehen durch ihre Nutzung generativer KI keinen materiellen Beitrag zu ihren Gewinnen.

Vor dem Endstadium

Vor diesem Hintergrund hat sich eine Dynamik etabliert, die auf ein baldiges Ende oder zumindest den Übergang in ein Endstadium der Blasenbildung hindeutet. Die Spekulation ist in einer Art Selbstverstärkungsschleife gefangen. Über Indexfonds und andere passive Strategien fließt immer mehr Geld in einige wenige KI-Konzerne. Deren Bewertungen steigen, Kapital ist für sie im Überfluss verfügbar. Um die hohen Erwartungen mit sichtbarem Wachstum zu unterfüttern, lenken sie dieses billige Geld mehr und mehr in Geschäfte untereinander: Sie schieben sich in Milliardenhöhe Chips und Cloud-Leistungen zu – kaufen sich also im Grunde die zukünftigen Umsätze ab.

So hat etwa Microsoft seine Beteiligung an Open AI ausgebaut und sich im Gegenzug zusichern lassen, dass Open AI der Microsoft-Plattform Azure Cloud-Dienste im Umfang von rund 250 Milliarden US-Dollar abnimmt. Ähnlich verfährt Amazon mit Anthropic: Milliardeninvestitionen in das Startup sind an die Zusage gekoppelt, Rechenleistung und spezialisierte Chips über Jahre hinweg vor allem bei Amazon Web Services zu beziehen. So entsteht der Eindruck von gewaltigem Wachstum, obwohl ein Teil davon nur innerhalb der Branche hin- und hergeschoben wird. Die Blase nährt sich aus sich selbst.

Hintergrund: Dotcom-Krise

Nach dem beispiellosen Aufschwung der Nachkriegsjahrzehnte und der schweren Krise der 1970er Jahre öffnete die neoliberale Wende neue Felder der Kapitalakkumulation. Deregulierung, Privatisierung und Globalisierung erhöhten die Kapitalmobilität und schufen jenes Umfeld, in dem der IT-Sektor ab den 1990er Jahren – gestützt nicht zuletzt auf umfangreiche staatliche Forschungs- und Rüstungsprogramme – enorme technische und Produktivitätsfortschritte erzielte. Die Preise für Informations- und Kommunikationstechnologien fielen und ermöglichten eine verdichtete globale Organisation von Produktion, Dienstleistungen und Finanzmärkten.

In diesem Rahmen bildete sich der Mythos einer »New Economy«. Die herkömmliche Fabrik sollte Geschichte sein, Produktivität und Profite sollten künftig dauerhaft steigen, weil Wissen, Netzwerke und Innovation angeblich zu den entscheidenden Produktionsfaktoren geworden waren. Ab Mitte der 1990er Jahre ergriff dieser Mythos das überakkumulierte Kapital, das nun in die »New Economy« strömte: Niedrige Zinsen, Deregulierung und die Ideologie eines von Arbeit entkoppelten Kapitalismus trieben die Kurse nach oben.

Resultat war eine gewaltige Blase, während zugleich die reale Arbeit verdichtet und verlängert wurde: Es war die Ausbeutung von Programmierern, Callcenter-Angestellten und anderen prekär beschäftigten Dienstleistern, die die Party an den Börsen überhaupt erst ermöglichte – eine Tatsache, die wenig Aufmerksamkeit erhielt. Statt dessen verstärkte die Vereinnahmung des Alltags durch digitale Technologien die Illusion eines schrankenlosen neuen Akkumulationsfelds.

Doch bereits um die Jahrtausendwende zeigte sich, dass die aufgeblähten Bewertungen durch die realen Profite nicht zu rechtfertigen waren. Die Kurse brachen ein, zahlreiche Startups verschwanden, Glasfasernetze und Rechenzentren standen überdimensioniert herum – eine typische Überakkumulation, die für abrupte Entwertung sorgte. Einige wenige Konzerne überlebten und bildeten die Keimzellen der späteren Techgiganten wie Amazon oder Google, während die Zentralbanken mit Zinssenkungen reagierten und damit die nächste Spekulationswelle befeuerten.

Die Dotcom-Blase war kein bloßer Ausrutscher, sondern eine Etappe in einer Abfolge von Blasen, in der sich grundlegende Widersprüche verschärfen: ein Kapitalismus, der rastlos nach neuen Märkten sucht, immer mehr fiktives Kapital aufschichtet und Krisen zyklisch nutzt, um überschüssiges Kapital zu vernichten – ohne jedoch die Ursachen der Profit- und Verwertungskrise zu lösen. (di)

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