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Aus: Ausgabe vom 17.11.2025, Seite 12 / Thema
Kapitalismus

Verkehrte Einsichten

Über das »notwendig falsche Bewusstsein« der »Charaktermasken« der kapitalistischen Produktionsweise
Von Theo Wentzke
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»Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt …« (Karl Marx)

»Es erscheint also in der Konkurrenz alles verkehrt. Die fertige Gestalt der ökonomischen Verhältnisse, wie sie sich auf der Oberfläche zeigt, in ihrer realen Existenz, und daher auch in den Vorstellungen, worin die Träger und Agenten dieser Verhältnisse sich über dieselben klarzuwerden suchen, sind sehr verschieden von, und in der Tat verkehrt, gegensätzlich zu ihrer innern, wesentlichen, aber verhüllten Kerngestalt und dem ihr entsprechenden Begriff.« (Karl Marx¹)

Marx attestiert den Machern und Mitmachern der kapitalistischen Konkurrenz ein notwendig falsches Bewusstsein von den Notwendigkeiten, die allgemein und unausweichlich das materielle Dasein in dieser Welt bestimmen: Geld zu verdienen und damit einen Lebensunterhalt zu bestreiten. Eine verkehrte Wahrnehmung also von dem universellen Sachzwang schlechthin, den jeder kennt, mit dem jeder rechnen und praktisch klarkommen muss.

Tatsächlich sind darüber haufenweise falsche Vorstellungen in Umlauf. Aber so viel weiß dann doch fast jeder, dass man in der »freien Marktwirtschaft« zum Leben Geld braucht und dass es im wesentlichen zwei Wege gibt, sich welches zu beschaffen: Man verdient es bei einem Arbeitgeber, der an der Arbeit, zu der man bereit ist, ein Interesse und Geld dafür übrig hat; oder man hat, woher auch immer, genügend überschüssiges Geld, um es lohnend zu investieren, als Arbeitgeber in eine eigene Firma oder als Kredit für einen Zins- oder ähnlichen Ertrag. Allgemein bekannt und als Realität wahrgenommen ist dabei auch die Tatsache, dass sich regelmäßig entgegengesetzte Interessen auf dieselbe Geldsumme richten: Arbeit»geber« und Arbeit»nehmer« konkurrieren um den Preis der zu bezahlenden Arbeit; in der Folge konkurrieren bisweilen Firmen um brauchbare Arbeitskräfte und ganz oft Arbeitnehmer um einen Job; die Minderheit, die von Zinseinkünften lebt, mischt dabei renditeorientiert auf Arbeitgeberseite mit. Dazu bieten die konkurrierenden »ökonomischen Charaktermasken« (Marx) ideologische Rechtfertigungen ihres Standpunkts auf, die nicht bloß die jeweilige Gegenseite verkehrt findet, sondern die interessiert falsch gestrickt sind. Aber worum es wirklich geht, das ist im Grunde klar: Jede Seite kapriziert sich auf ihre Einkommensquelle, kämpft um deren Ertrag mit dem Druckmittel der Abhängigkeit der Gegenseite. Aber was ist daran verkehrt? Wo ist hier falsches Bewusstsein am Werk? Und das auch noch notwendig – mit was für einer Notwendigkeit denn?

Inwiefern falsch?

Es ist keine besonders schwierige Einsicht, dass die Rechnung mit der eigenen Erwerbsquelle für die große Masse der Geldverdiener nicht wirklich aufgeht, und das nicht bloß zufällig. Mit ihrem Einkommen sind sie abhängig vom Arbeitskräftebedarf der Gegenseite. Schon um einen Arbeitsplatz, der ihnen überhaupt ein Entgelt einbringt, müssen sie in einen Vergleich eintreten, den ihr Arbeitgeber nach seinem Bedarf bestimmt. Denn dessen in Geld bzw. Geldersparnis bemessener Nutzen ist für Arbeitsuchende und Angestellte Bedingung ihres Gelderwerbs. Dass der sich nicht am Bedarf des Arbeitnehmers bemisst, im Verhältnis zu dessen Lebensnotwendigkeiten prinzipiell knapp ausfällt und dass folglich die Sphäre der individuellen Freiheit durch den Zwang zu kritischem Sich-Einteilen voll ausgefüllt ist, ist damit auch schon entschieden. Außer der Ableistung der bezahlten Arbeit ist daher immer wieder ein Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, vor allem aber gegen deren schleichende oder offene Verschlechterung vonnöten – ein klarer Hinweis, dass von Arbeit als verfügbarer eigener Erwerbsquelle der Arbeitnehmer nicht die Rede sein kann. Ohne Zweifel haben diese sich im Großen und Ganzen mit dieser Lage arrangiert; nicht bloß passiv, sondern mit einem mehr oder weniger zähen Bemühen, aus ihrer doppelten Konkurrenzsituation – gegen den Arbeitgeber und untereinander – das Beste zu machen. Das kommt allerdings schon dem Eingeständnis nahe, dass das, was sie als ihr ökonomisches Vermögen betätigen, das gar nicht ist. Aber was ist es dann?

Der Form nach, dem Kalkül beider Seiten zufolge, ist das Arbeitsentgelt Bezahlung der vereinbarungsgemäß geleisteten Arbeit. Aber was heißt da »Arbeit«? Ihr ganzer Inhalt fällt in die Zuständigkeit des sogenannten Arbeit»gebers«. Dessen Anforderungen hat der folgerichtig sogenannte Arbeit»nehmer« zu erfüllen, sich dafür herzurichten und herzugeben. Ihr wirkliches ökonomisches Ergebnis besteht in ihrem materiellen Resultat, in der produzierten Sache oder Dienstleistung; also darin, dass der Arbeitgeber es zu Geld macht, das ihm gehört. Was heißt da »bezahlt«? Der Zweck des Ganzen besteht in dem für den Arbeitgeber günstigen Verhältnis zwischen der Summe, die er für die Herstellung zahlt, und der, die er im Verkauf einnimmt. Seinem ökonomischen Zweck und wirklichen Inhalt nach ist das Arbeitsentgelt der Preis, den der Arbeitgeber zahlen muss, um frei über die Arbeit seiner Arbeitnehmer und über den Verkaufserlös vollständig zu verfügen. Die ökonomische Wahrheit der Erwerbsquelle Arbeit ist die Verfügungsmacht des Arbeitgebers über Arbeitskraft als Mittel der Geldvermehrung in seinen Händen.

Das ist Grund genug für das Selbstbewusstsein des Arbeitnehmers, dass doch er selbst, willentlich und bewusst, seine eigene Erwerbsquelle ist, was der gesellschaftliche Konsens – zwar mit ein paar einschränkenden Bedingungen, aber im Prinzip – als Selbstverständlichkeit bestätigt. Die Wahrheit ist es dennoch nicht: Ohne Arbeitgeber als Nutznießer findet Arbeit gar nicht statt – überflüssig zu sagen, dass das im »Öffentlichen Dienst« analog ebenso der Fall ist. Von sich aus, als irgendwie materiell nützliche Tätigkeit, ist sie ökonomisch nichts wert; zu Geld wird die Leistung der Arbeitnehmer nur als geldwertes Eigentum des Arbeitgebers, also nicht deren, die sie geleistet haben. Das Bewusstsein der Arbeitnehmer von ihrer Arbeit ist daher falsch – nicht weil die sich individuell täuschen; denn eine individuelle Täuschung ist es keineswegs, vielmehr ist es Allgemeingut und auch wissenschaftlich im Prinzip anerkannt. Aber ist es deswegen auch schon notwendig? Und wenn: in welchem Sinn?

Illusion von Vernunft

Für die andere Seite, die Arbeitgeber und geschäftlich engagierten Besitzer eines hinreichend großen Geldvermögens, geht die Rechnung mit ihrem Eigentum als Geldquelle im Prinzip ganz gut auf. Gründe und Anlässe, das schöne Verhältnis kritisch zu hinterfragen, gibt es aber auch für sie mehr als genug. Denn mit ihrem Reichtum besitzen sie zwar eine Menge frei verwendbare Verfügungsmacht über alles Käufliche. Mit dessen Anwendung als Geldquelle gehen sie aber unweigerlich Abhängigkeiten ein, die sie nicht selbst in der Hand haben: von Bedingungen der Einkaufs-, Verkaufs-, Kredit-, sogar der Arbeitsmärkte, auf denen sie und zahllose Konkurrenten tätig sind. Deswegen seufzen sie über die permanente Herausforderung, diese Bedingungen – immer wieder – in den Griff zu kriegen. Sie bezahlen dafür eigene Angestellte oder Beratungsfirmen, die ihrerseits von einer unsicheren Auftragslage und ihrer unsicher kalkulierbaren Erfolgsbilanz abhängig sind. Zu ihrer Unterstützung gibt es zwei komplexe Wissenschaften: Betriebswirtschaftslehre (BWL) und Volkswirtschaftslehre (VWL), die sich der Ermittlung und Erklärung einer unübersichtlichen Vielzahl bestimmender Einflussgrößen des allgemeinen wie des besonderen Wirtschaftsgeschehens und sogar der Quantifizierung deren Einflusses widmen, so ähnlich wie die Naturwissenschaften, die objektive Determinationszusammenhänge und deren quantitativ erfassbare Ausgangsbedingungen erforschen.

Wirtschaftswissenschaftler und Beratungsinstitute erarbeiten Prognosen über zu erwartende Abläufe und Wirkungszusammenhänge und daraus ableitbare Rezepte für wirtschaftspolitische und Unternehmensentscheidungen, die sich durch maximale Praxisnähe auszeichnen sollen. Den Kapitalisten geben sie Tipps für ihre Konkurrenzkämpfe, die wie objektiv haltbare Richtlinien daherkommen, als solche aber schon deswegen nicht funktionieren können, weil sie stets an alle Konkurrenten gehen und auch denen zum Erfolg verhelfen wollen. Politisch Verantwortliche werden von den Schwesterdisziplinen BWL und VWL mit Vorhersagen versorgt, deren Realismus darin besteht, dass sie dauernd so »zeitnah« wie möglich den Realitäten angepasst werden, die sich aber ausgerechnet dadurch prognosewidrig verändern, dass die mächtigen Macher des Geschehens sich an wissenschaftlich fundierte Empfehlungen halten wie an technische Rezepte.

So liefern die einschlägigen Wissenschaften einen speziellen Beleg für das ohnehin allgemein Bekannte, dass das Glück der Kapitalisten, der Arbeitgeber wie der Finanzleute, vom sinnreichen Einsatz ihres Vermögens, gut leben zu können, von lauter Umständen abhängt, die einerseits wie vorgegebene, nach einer eigenen Sachlogik funktionierende Naturbedingungen wirken, andererseits keinen wirklichen Determinationszusammenhang erkennen lassen und sich deswegen einer Handhabung nach dem Vorbild einer auf Erkenntnis gegründeten Technologie widersetzen. Zugleich zeugt dieser ganze akademische, von Denkfabriken ins Werk gesetzte Überbau von dem unverdrossenen Glauben, dem Gebrauch großer Geldvermögen als profit- bzw. zinsbringender Erwerbsquellen liege letztlich eine ausnutzbare Gesetzmäßigkeit, insofern eine praktische Vernunft zugrunde. Wenn doch der Profit ausbleibt und die Portfolios schrumpfen statt zu wachsen und das berechnend weggegebene Geld einfach weg ist, beklagen die Betroffenen eine sachwidrige Störung, finden ihr Recht auf Erträge verletzt und beleidigt: genügend falsches Bewusstsein also auch bei der Elite. Und auch da weit mehr als ein soziokulturell verallgemeinerter Irrtum, der sich durch einen klaren Blick auf die wirklichen Verhältnisse korrigieren ließe. Aber auch hier: notwendig? Und wenn: inwiefern?

Inwiefern notwendig?

Tatsache ist, dass Gelderwerb – der einen durch Einsatz ihres Geldvermögens, der anderen durch Verkauf von Arbeitsvermögen und Lebenszeit – das Lebensmittel der Menschen in der Welt der kapitalistischen Konkurrenz ist, und zwar nicht irrtümlich, sondern ganz handfest praktisch. Arbeit bzw. Geld ist ihr Mittel; für die einen, weil sie kein anderes haben, für die anderen, weil sie genug davon haben. Indem sie ihren Lebensunterhalt so bestreiten, re-produzieren sie ihr Geld bzw. sich selbst als ihre Erwerbsquelle und damit ihre Abhängigkeit von der Notwendigkeit bzw. der Chance, so ihr Geld zu verdienen. Indem die Menschen so handeln, erweist sich in ihrer Praxis, dass Geld und die Bemühungen um seinen Erwerb das zweckmäßig geschaffene und sinnreich reproduzierte Mittel ihres Lebensunterhalts nicht sind. Bezahlte Arbeit erweist sich regelmäßig als Quelle eines feststehenden, nur in seinem Ausmaß variablen Schadens, eines Opfers an Physis, Verstand und Lebenszeit; die freie Verwendung von Geld als Kapital verstrickt die glücklich Vermögenden in lauter nicht wirklich beherrschbare Sachzwänge. Zweck und Mittel widersprechen einander.

Im berechnenden Umgang der Menschen mit der Natur, der eigenen wie der außermenschlichen, kommt so etwas laufend vor. Aber solche Widersprüche haben ihren im Prinzip gut erkennbaren Grund in einem quasi-naturgesetzlichen Ursache-Wirkungszusammenhang, der dem damit verfolgten Zweck entweder noch nicht hinreichend gemäß gemacht worden oder gar nicht zu unterwerfen ist. Mit dem Geld und den Notwendigkeiten seines Erwerbs hingegen schaffen und reproduzieren die Menschen selbst ihr entscheidendes ökonomisches Überlebensmittel, das gleichwohl wirkt wie eine unbeherrschte Naturbedingung; ein Mittel, das ihre Berechnungen und ihr Handeln beherrscht, statt dass sie es beherrschen.

Der Widerspruch hat seinen Grund, seine Notwendigkeit in der Sache, mit der sie sich herumschlagen: in der ökonomischen Natur des unverzichtbaren Lebensmittels, des gesellschaftlichen Reichtums, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit dem Gebrauch ihrer jeweiligen Erwerbsquelle produzieren.² Dieser Reichtum ist nämlich in widersprüchlicher Weise doppelt bestimmt. Hergestellt werden Dinge, die einen Gebrauchswert haben; davon lebt die Gesellschaft schließlich; das ist trivial. Ebenso selbstverständlich ist in der realen, der kapitalistisch produzierenden Gesellschaft, dass die nützlichen Produkte nicht nach ihrem Gebrauchswert, ihrem materiellen Nutzen als Reichtum zählen, sondern nach ihrem Preis, der trennend zwischen den Gebrauchswert und das damit zu befriedigende private oder öffentliche Bedürfnis tritt, bzw. als die Geldsumme, die dafür zu zahlen ist, also den Zugriff darauf gestattet.

Was Grund und Inhalt dieser Gleichwertigkeit inkommensurabel unterschiedlicher Gebrauchswerte ist – einer Äquivalenz, die im Geld als eigener ökonomischer Gegenstand existiert –, müssen die ökonomisch handelnden Subjekte nicht wissen; sie gehen ihren Zwecken gemäß damit um. Aber womit eigentlich? Die Antwort führt auf ein fundamentales Quidproquo. Gleich, untereinander kommensurabel sind die im Austausch aneinander gemessenen Erzeugnisse als eben das: als nützliche Produkte überhaupt, Elemente des gesellschaftlichen, das heißt in gesellschaftlicher Arbeitsteilung geschaffenen Reichtums, Ergebnisse der Arbeitsleistung der Gesellschaft. Ihre Äquivalenz beruht darauf und drückt aus, dass gleiche Bruchteile des gesellschaftlichen Arbeitsaufwands darin stecken; eines Aufwands, der allein durch das allen Gemeinsame, durch ihre Dauer bestimmt ist.

Alpha und Omega

Die Ökonomie der Zeit, die die kapitalistische wie überhaupt jede Produktionsweise beherrscht, stellt sich hier in ihren Resultaten, nämlich in deren systematischem Austausch als Tauschwert dar: ein Quidproquo, das sich darin vollendet, dass die Äquivalenz der Zeiteinheiten der produktiv geleisteten Arbeit sich verselbständigt und vergegenständlicht, nämlich in einem Produkt existiert, dessen Gebrauchswert in eben dieser Funktion besteht, Quanta gesellschaftlich aufgewandter Arbeitszeit zu repräsentieren. Das ist der objektive, reale Widerspruch in der Natur des kapitalistisch produzierten Reichtums: Das Geld, um dessen Erwerb sich alles dreht, repräsentiert den gesellschaftlichen Arbeitsaufwand in der Weise, dass es ihn im ewigen Prozess des Kaufens und Verkaufens realisiert und zugleich nicht nur theoretisch unkenntlich macht, sondern praktisch jeder rationalen Planung entzieht.³

Das ist allerdings nur die negative Seite dessen, was das Geld anstelle jeder bewussten Planung der gesellschaftlichen Arbeit leistet: Es ist deren eigentlicher Zweck. Nicht in dem trivialen Sinn, in dem es jedem vor Augen steht, nämlich als Mittel, um am produzierten Reichtum teilzuhaben. Als das allgemeine Äquivalent, in dem Kauf und Verkauf zusammenhängen, der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sich also in irrationaler Weise realisiert, ist es unbedingte Bedingung und regelndes Prinzip der Produktion. Das macht sich in seinem Gebrauch als Verkaufserlös und Kaufmittel in der Weise geltend, dass es nicht wie die ge- und verkauften Gebrauchsgüter aus dem Handelsverkehr verschwindet, sondern im und durch den Gütertausch, den es vermittelt, erhalten bleibt. Es steht am Anfang und am Ende des Handels. Zur gesellschaftlichen Arbeit, deren Zusammenhang es herstellt, steht es im Verhältnis des Ausgangs- und des Zielpunkts, damit ihres objektiven, der Güterproduktion vorgegebenen Zwecks.

Als deren Zweck ist das Geld nicht mehr nur das Mittel, das das Auf und Ab der Güterproduktion vermittelt: Über den Warenhandel nimmt es die Güterproduktion für sich in Dienst; nicht für seine bloße Reproduktion, sondern für sich als das Produkt, um das es eigentlich geht, als Inbegriff des gesellschaftlichen Reichtums; damit für den Zweck, der diesem Reichtum immanent ist: seine Vermehrung. Dieser Zweck, Bereicherung durch Geldvermehrung, ist durch das Geschäft mit gleichwertigen Waren und mit Geld als allgemeinem Äquivalent freilich gar nicht zu realisieren. Der Warenhandel, nach dem die herrschende Ökonomie »Marktwirtschaft« heißt, verweist ausdrücklich zurück auf die in Dienst genommene gesellschaftliche Arbeit. Die kommt unter dem selbstzweckhaften Regime des Geldes doppelt vor: als käufliche Potenz, Tauschwert, also Geld zu produzieren, und als aktiv genutzte Geldquelle. Oder andersherum: als Quantum Arbeitszeit, die sich als Tauschwert darstellt, also Geld schafft, und als Quantum Arbeitskräfte, die für Lohn als Ware mit dem besonderen Gebrauchswert, Tauschwert zu schaffen, zu haben sind. Die ökonomische Wahrheit des Geldes ist somit seine Verfügungsmacht über die Quelle seiner Schöpfung, realisiert in seiner Selbstvermehrung, die von sich aus kein Maß und keine Schranke kennt. Als Kapital mit der einzigen Bestimmung Akkumulation ist es der von den Menschen selbst geschaffene, aber jedem subjektiven Kalkül wie eine undurchschaute Naturbedingung vorausgesetzte, zwingend vorgegebene Zweck der gesellschaftlichen Arbeit.

Inwiefern Bewusstsein?

»Die Konkurrenz, um die immanenten Gesetze des Kapitals ihm als äußere Notwendigkeit aufzuzwingen, kehrt sie scheinbar alle um, verkehrt sie.«⁴

Dieser Zweck hat seine Sachwalter in den Geldbesitzern, die ihr Eigentum als Kapital zum Mittel ihrer persönlichen Bereicherung machen. Dass es diese Art der Bereicherung gibt, sogar als Beruf, zu dessen Ausübung nicht mehr, aber auch nicht weniger nötig ist als viel Geld über den persönlichen Bedarf hinaus, liegt nicht an ihnen, nicht am Geschick, mit dem sie ihr Geld kapitalistisch einsetzen. Ihren Job gäbe es gar nicht, wäre das Regime des Geldes über die gesellschaftliche Arbeit nicht schon objektiv im Kaufmannswesen enthalten, das nichts als den Händewechsel fertiger Waren damit betrieben hat und betreibt. Von da aus braucht der Fortschritt zur Herrschaft über die Potenz der Arbeit zur Geldschöpfung nur noch die Umsetzung des großen Geldes in die Aneignung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und auf der anderen Seite eine Mehrheit freier eigentumsloser Menschen, denen das Geld eben so gegenübertritt: als Preis der Verfügung über ihre Arbeitskraft und Lebenszeit.

Zum Beruf des Lohnarbeiters braucht es wiederum nichts als die zum Kapital fortentwickelte Leistung des Geldes, die gesellschaftliche Arbeit als Warenwert zu repräsentieren und zugleich für dessen Vermehrung zu funktionalisieren; auf Seiten der Betroffenen nichts weiter als die aus der Not der Eigentumslosigkeit entstehende Bereitschaft, sich so funktionalisieren zu lassen. Die einen wie die anderen, Lohnarbeiter wie Kapitalisten, sind nicht die wirklichen Subjekte der kapitalistischen Produktionsweise, auch wenn sie die de facto veranstalten: Qua Profession machen die einen ihr Glück, reproduzieren die anderen ihren Dienst und ihren Schaden als – wie Marx es ausdrückt – Charaktermasken ihrer Funktion.

Aus den elementaren Bestimmungen des Geldes leitet Marx in den drei Bänden des »Kapitals« das gesamte System der Notwendigkeiten des Kapitalismus ab; immer einschließlich der in der jeweiligen Sache begründeten Verkehrung dieser Systemnotwendigkeiten in plausible Sachzwänge für das bewusste ökonomische Kalkulieren und Handeln der Mitglieder der gesellschaftlichen Klassen. Die Sache ist fertig mit dem Fazit, dass das System der Mehrwertproduktion den Menschen ihre Funktion darin – Kapital, Lohnarbeit, auch Grundbesitz – als ihre Erwerbsquelle zuweist, um deren Ertrag – Profit bzw. in reiner Form Zins, Lohn, Grundrente – sie unter- und gegeneinander konkurrieren; und dass der in zunehmender Masse reproduzierte gesellschaftliche Reichtum, der sich tatsächlich gemäß den Gesetzen seiner Entstehung auf diese Erwerbsquellen verteilt, als die Summe aus den je für sich erbrachten produktiven Leistungen der drei erwerbstätigen Klassen erscheint, die folglich bekommen, was sie beitragen.

Die verkehrte praktische und theoretische Stellung der Mitglieder der Klassengesellschaft zum gesellschaftlichen Reichtum in seiner Geldform, mit dessen Widerspruch die Erklärung der Produktionsweise beginnt, ist deren notwendiger Endpunkt.⁵ Mit ihrer Erklärung hat die Welt des Äquivalententauschs, in der und nach deren Regeln die Menschen sich mit ihrem Lebensunterhalt mit unterschiedlichem Erfolg herumschlagen, sich als System der Ausbeutung erwiesen; nach der Seite hin bleibt definitiv keine Frage offen. Dieselbe Gleichung andersherum gelesen: Die Ausbeutung der Arbeit – also derer, die sie machen – durch und für die Macht des Geldes gemäß seiner kapitalistischen Wahrheit ist nicht eine Sache absichtsvoller Unterdrückung, der systematischen Negation des Eigennutzes der Ausgebeuteten (wie etwa der Sklaven in der Entstehungsphase des US-Kapitalismus), sondern – im fertigen US-Kapitalismus vorbildlich verwirklicht – dessen Funktionalisierung durch das den Arbeitskräften vorgegebene Mittel des freien Gelderwerbs.⁶

Anmerkungen

1 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, S. 219

2 Marxens Diagnose und Erklärung des notwendig falschen Bewusstseins der Bewohner der modernen Welt – programmatisch angekündigt zum Beispiel in der missinterpretierten Sentenz vom »gesellschaftlichen Sein«, das »das Bewusstsein bestimmt« – ist keine Theorie des Bewusstseins, schon gar keine Erkenntnistheorie; sie meint keine Determination von Denken, Wahrnehmung und Wollen durch soziale Umstände. Dass die Behauptung »das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein« falsch ist, erklärte Marx: Wäre das Bewusstsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt, dann auch sein eigenes und das aller, die er mit seinen Schriften aufklären wollte. Er erklärt die irrationale Ökonomie des Geldes, die den Menschen einen Umgang mit dem Geld und ihren Erwerbsquellen vorgibt, praktisch aufnötigt, zu dem die wirkliche Räson der kapitalistischen Produktionsweise zugleich in Widerspruch steht. Die grundlegenden Argumente dieser Erklärung sind im Original (Marx’ Kapital, Bd. 1) gut nachzuvollziehen.

3 Vgl. »Der Wert« in Gegenstandpunkt 2-10, S. 39–53

4 Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 654

5 In Marxens Ableitung der 7. Abschnitt im 3. Band des »Kapitals«.

6 Ein eigener Gegenstand wäre die Konkurrenz als der Weise, »worin das Kapital seine Produktionsweise durchsetzt« (Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, S. 625). Dessen Erklärung plante Marx im Anschluss an seine »Kritik der politischen Ökonomie«, schaffte sie aber nicht mehr. Den Versuch einer aktuellen Einlösung der Grundzüge dieses Projekts hat der Gegenstandpunkt in Form einer Ableitung der »Konkurrenz der Kapitalisten« in fünf Kapiteln vorläufig abgeschlossen. Eine parallele Erklärung des »Begriffs der Lohnarbeit« ist im Entstehen und damit auch, was Marxisten im Anschluss an »Das Kapital« zu erklären bleibt: die fatale Logik der Praxis der »Charaktermasken« der kapitalistischen Produktionsweise.

Das »notwendig falsche Bewusstsein« hat widersprüchliche praktische und fatale Folgen in der Welt der Konkurrenz, die man nachlesen kann unter www.gegenstandpunkt.com.

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