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Aus: Ausgabe vom 13.11.2025, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Streikrecht in der BRD

Streiken, aber richtig

Gewerkschaften kündigen Widerstand gegen Kürzungspläne an und meinen damit Aktionen
Von Spyro Marasovic
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Die Vorsitzenden von IG Metall und Verdi haben Widerstand angekündigt. Gegen den »Herbst der Reformen«. Genau: gegen geplante Kürzungen in den Bereichen Gesundheit, Pflege und Rente sowie bei der Aufweichung des Achtstundentags. Auch Forderungen zu einer erhöhten Besteuerung für Superreiche wurden vorgebracht. Wer nun aber mit einer Streik- bzw. Aufstandswelle rechnet, ist schief gewickelt. Die Gewerkschaften kündigten lediglich Demonstrationen an.

Dass sich in den Gewerkschaften Widerstand gegen die Kürzungspläne der Bundesregierung regt, ist zunächst zu begrüßen. Aber fraglich bleibt, wie dieser Widerstand gelingen soll. Die sozial- und tarifpolitischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre zeigen, dass Verbesserungen für die Beschäftigten nur durch harte Streiks zu erzwingen waren und darüberhinausgehende politische Forderungen stets mit Austeritätsargumenten beiseite gewischt wurden. Dies wird sich auch nicht ändern, sollten die Gewerkschaften ihr effektivstes Instrument weiter in der Vergangenheit belassen: den politischen Streik.

Die rechtliche Arbeitsgrundlage der Gewerkschaften in der Bundesrepublik ist Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes (GG). Das regelt das Koalitionsrecht, welches die gewerkschaftliche Tätigkeit und damit auch den Streik umfasst. Das Koalitionsrecht ist zwar im Umfeld der liberalen Grundrechte angesiedelt, entstammt aber keineswegs dieser Tradition, sondern wurde dem bürgerlichen Staat in politischen Auseinandersetzungen von der Arbeiterbewegung abgerungen. Seine Interpretation ist in der Bundesrepublik besonders umstritten, da es das eigentliche Machtpotential der Lohnabhängigen mit grundrechtlichem Schutz ausstattet. Ein Schutz, der das Potential hat, den Kern der bürgerlichen Produktionsweise zu attackieren. So sind Arbeitskämpfe einerseits als ökonomisches Druckmittel, um bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten, einzustufen, andererseits können diese sich auch in politische Aktionen verwandeln, um gesellschaftliche Machtverhältnisse durch Kooperationsverweigerung zu destabilisieren. Deshalb versucht die bürgerliche Rechtswissenschaft stets, das Koalitionsrecht auszuhöhlen. So auch zu Beginn der 1950er Jahre.

Im Zentrum der damaligen Gewerkschaftspolitik standen zumeist nicht konkrete Lohnforderungen, sondern politische Forderungen wie Mitbestimmung in den Betrieben oder die Sozialisierung der Schlüsselindustrien. Als das Betriebsverfassungsgesetz 1951 novelliert werden sollte und dabei die Interessen der Beschäftigten nicht berücksichtigt wurden, kündigte der DGB gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen an. Noch stärker als in der vorangegangenen Auseinandersetzung um das Mitbestimmungsgesetz, wurde das Argument der Verfassungswidrigkeit von der Kapitalseite ins Feld geführt. Streiken dürfe man nur gegen Unternehmen und für bessere Arbeitsbedingungen, aber nicht gegen die Bundesregierung. Die IG Druck rief dennoch zum Streik auf. Rund zwei Wochen lang erschien in der Republik keine Zeitung. Die Arbeitgeber klagten gegen den Streik vor den Arbeitsgerichten und bekamen recht. Dort wurde der politische Streik verboten. Eine Auslegung des Artikels 9, Absatz 3 GG, die seitdem nicht mehr angefasst wurde, ein Gesetz oder eine Verordnung dazu gibt es nicht.

Urteile entstehen immer in einem spezifischen politischen Kontext und sind stark geprägt von aktuellen gesellschaftlichen Machtverhältnissen. In den 1950ern war die deutsche Rechtswissenschaft geprägt von ehemaligen Mitgliedern der NSDAP und die Gesellschaft von der Restaurierung des alten Kapitalismus. Heute ist der Kapitalismus so unpopulär wie noch nie seit Gründung der BRD, und soziale Bewegungen, die die sozialistischen Möglichkeiten des Grundgesetzes ausloten wollen, haben Erfolge eingefahren (z. B. Deutsche Wohnen und Co. enteignen). Der gesetzliche Rahmen des Grundgesetzes enthält die Möglichkeit einer alternativen Interpretation. Nun müssen allerdings die politischen Voraussetzungen für einen derartigen Wandel geschaffen werden. Dafür müssen die Gewerkschaften in die Offensive gehen und eine öffentliche Kontroverse um einen derartigen Fall vor den Arbeitsgerichten provozieren. Sprich: Endlich politisch streiken.

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