Das grause Wort »Ich«
Von Stefan Ripplinger
Vor 200 Jahren, zwei Wochen nach dem Tod des Dichters Jean Paul, hielt Ludwig Börne eine »Denkrede« auf den Verstorbenen: »Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des zwanzigsten Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme.«
Heute lässt sich mit letzter Sicherheit feststellen, dass das Volk dem Dichter nicht nachgeschlichen ist. Er legte ihm zu viele Schwierigkeiten in den Weg und wohl nicht nur diejenige, die Börne nennt: »Jean Paul munterte die blöden Herzen auf; er zuerst wagte das jedem Deutschen so grause Wort ›Ich‹ auszusprechen, und wenn die Freiheit nicht darin besteht, dass man ohne Gesetze lebe, sondern dass jeder sein eigner Gesetzgeber sei, so war es Jean Paul, der für unsere Enkel die Saat der deutschen Freiheit ausgestreut.«
»Ich« zu sagen fiel aber nicht nur den autoritätshörigen Deutschen schwer, die sich lieber ihren preußischen oder bayerischen Gesetzgebern unterworfen haben, anstatt sich selbst ein Gesetz zu geben. Selbst die freiesten Gestalten Jean Pauls haben ein Problem mit dem »Ich«, sie streben es an, aber verfehlen es zugleich, manche entdecken in ihm nichts als hohle Form, ja fürchten sich vor ihm wie schon der Viktor im »Hesperus« (1795). In Jean Pauls »Kardinal- und Kapitalroman«, dem »Titan« (1803), wird der Humorist Peter Schoppe gefragt: »Wovor scheuest du dich?« Er antwortet: »(Der) Ich könnte kommen, ja, ja!« (»Titan«, 132. Zykel; mit »Zykel« sind Kapitel gemeint).
»Der Ich«, vor dem Schoppe flieht, erwischt ihn schließlich doch in der Gestalt eines seiner vielen Wiedergänger, Siebenkäs. Doch, merkwürdig, als Schoppe Siebenkäs begegnet und tot niedersinkt, lebt er unter diesem neuen Namen munter fort. Er ist gewissermaßen unsterblich, solange er niemals mit sich selbst identisch ist und in keinen Spiegel schaut. Als »Leibgeber«, wie eines seiner vielen Doubles heißt, bringt er in der »Clavis Fichtiana« (1800) das Kunststück fertig, dem großen Ich-Setzer der deutschen Philosophie, Johann Gottlieb Fichte, selbst ein Ich zu setzen.
Der »Titan« ist neben vielem anderen – einem Anti-Bildungsroman, einem Revolutions- und Kollaborationsroman, einem Gang in die Unterwelt – auch ein Buch gegen Fichte und seinen »Generalvikar und Gehirndiener« Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. An seinen Freund Paul Emil Thieriot schrieb Jean Paul (7. Dezember 1799): »Ich halte jetzt die Luftschlösser der philosophischen Lehrgebäude für eigentliche Spitzbubenherbergen und Schwefelhütten.« Das hielt ihn aber nicht davon ab, selbst eine Spitzbubenherberge und Schwefel- oder Schwafelhütte nach der andern zu bauen, nur um sie danach wieder abzureißen. Doch geschieht das nicht aus bloßer Zerstörungslust. Nur wer versteht, dass der »Titan« nicht etwa eine erbauliche Epopöe oder eine spannende Intrige, sondern eine bittere, oft gespenstische Allegorie auf die Zeit des Übergangs vom Feudalismus in den Kapitalismus ist, wird bei der Lektüre auf seine Kosten kommen.
Hirnschale einer Riesin
Die Ich-Problematik, die auch in vielen anderen seiner Schriften auftaucht, wird im »Titan« besonders komplex und fein entwickelt. Einerseits hat Börne recht damit, dass ein souveräner Citoyen, eine souveräne Citoyenne, die sich gegen die Obrigkeit behaupten wollen, sich zu einem selbstbewussten Ich-Bewusstsein durchringen müssen. Andererseits bezeichnet das Ich immer auch eine Unterwerfung unter ein ideologisches Schema, eine Einpassung in eine soziale Form, wenn nicht sogar ein Ware-Werden. Das ist uns heute, unter dem Zwang der fortwährenden Selbst-Definition in den Sozialen Medien, stärker bewusst, als es das vor 200 Jahren sein konnte.
Durch den gesamten Text des »Titan« zieht sich der Widerspruch zwischen dem bürgerlichen »Ich« und seiner bereits einsetzenden Massenproduktion. Was »Ich«, also originell und unverwechselbar, sein will, trifft hier oft genug auf die dumpfen Echos der Nicht-Ichs oder des Nichtigen, auf Doubles und kommodifizierte Form. Im »Titan« gibt es deshalb alles wenigstens zweimal: zwei Helden, die sich wie ein Ei dem andern gleichen, drei mehr oder weniger ätherische Geliebte, die nur mit Mühe auseinanderzuhalten sind, ganz zu schweigen von der schon erwähnten Zellteilung des Oberspötters Schoppe. Und es geschieht auch alles wenigstens zweimal. Diese Echotechnik des Wiederholens und Verfehlens, des Spiegelns und Verdunkelns probierte Jean Paul in einer Vorarbeit zum »Titan« aus, den »Biographischen Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin. Eine Geistergeschichte« (1795).
Die Riesin ist die »Jungfrau Europa«, die Deutschland als Herz in ihrer Brust trägt, ein begehbares Denkmal, das errichtet wird, weil, wie später im »Titan«, zwei winzige Fürstentümer in einem kleinlichen Streit miteinander liegen und das eine das andere, etwa mit grandiosen Bauten, überbieten muss. Jean Paul, der sich unter anderem auf die Streitigkeiten zwischen den Residenzstädten Ansbach und Bayreuth beziehen dürfte, spricht zu uns aus den »Gehirnkammern« des deutschen Krähwinkel. Die »Biographischen Belustigungen« entwerfen ein selbstironisches Bild seiner beengten Schreiberexistenz und führen den noch ungespaltenen Helden des »Titan« ein.
Im »Titan« gibt es, wie gesagt, den Helden zweimal: einmal als den bei Bürgersleuten aufgezogenen jungen Grafen Albano von Cesara, einen hochgestimmten Anhänger der Französischen Revolution. Und ein zweites Mal als Roquairol, einen zynischen Libertin, einen übrig gebliebenen Aristokraten, der seinem bürgerlichen Konterpart täuschend ähnlich ist. In den »Belustigungen« sind diese beiden Typen noch einer und derselbe. Der Graf Lismore, so heißt der Held hier, war bis zum »Terreur« der Jakobiner begeisterter Anhänger der Revolution und kümmert sich nun aus schlechtem Gewissen um zwei verfolgte Aristokratinnen, Mutter und Tochter. Die Mutter verliebt sich in ihn, wie später die Fürstin im »Titan« sich in Albano verliebt, und Lismore glaubt, sich in die Tochter, Adeline, verliebt zu haben. Aber es erweist sich, dass weder er noch sie zur Liebe fähig ist. Er macht »sogar in Sachen des Gefühls immer Plane und Modelle«, ist also bereits der moderne Ingenieur seiner selbst, und möchte Adeline mit dem »Schwanengesange des Echo« überraschen.
Denn kurioserweise suchen die beiden lieblosen Liebenden in der leblosen Natur immerzu Echos auf. Ja, bei näherem Hinsehen scheint sich alles zu verdoppeln und zu vervielfachen, und nichts gibt es, das ursprünglich und natürlich wäre. »Die ganze Erde war ja voll Echo und voll Spiegel, und in jedem Gedanken war ein dreifacher Widerhall des verklungenen Lebens.« Das wird, in einem Satz, die Struktur des »Titan« sein.
Es ließe sich mit einigen guten Gründen (zu denen auch die pädagogischen Schriften Jean Pauls gehören) behaupten, dass der jugendliche Held, der in den »Begegnungen« noch Lismore heißt, die üblen Anteile seiner Persönlichkeit – vor allem seine feudale Grausamkeit – abwerfen muss. Sie würden dann, dieser Logik und Moral zufolge, dem diabolischen Roquairol aufgeschultert. Übrig bliebe, wie im klassischen Bildungsroman, der geläuterte Held Albano, der sich zu revolutionärer Tat und leidenschaftlicher Liebe emanzipiert.
Das erklärte aber nicht, weshalb er seine revolutionären Pläne am Ende ohne großes Bedauern aufgibt und er, der sich doch »fremd vor und in dieser Menschenklasse« (31. Zykel), nämlich dem Adel, vorkam, schließlich doch auf den Stand eines Fürsten herabsinkt und in eine Ehe mit einer schalen Doublette seiner ersten Geliebten einwilligt. Es erklärte außerdem nicht, weshalb sämtliche Liebesobjekte sich spalten und überhaupt alles, was geschieht, ein Echo, ein Bild, ein Theaterstück, ein Mummenschanz von etwas längst Geschehenem und Totem sein muss. »Wie Taucher schwimmen die Toten mit und halten mein Lebensschiff oder tragen die Anker«, erkennt, fröstelnd, Albano. (145. Zykel)
Titanenzeit
Von Anfang an ist er sich unsicher über seine familiäre Herkunft, nur seiner Zukunft glaubt er sich sicher: Als der Erste der Titanen dieses Romans ist ihm die Revolution aufgetragen. Bekanntlich empörten sich die Titanen des Mythos gegen die Götter oder Herren, weshalb Peter Weiss in der »Ästhetik des Widerstands« (1981) schrieb: »Dies war unser Geschlecht.« Die Riesen verloren den revolutionären Kampf und wurden in die dunkelste Kammer der Unterwelt gesperrt. Das Titanische des »Titan« lässt sich aber auch anders, nämlich unheroisch, auslegen.
In der Vorrede zu »Briefe und bevorstehender Lebenslauf« (1799) heißt es mit Blick auf die Zukunft: »Das der Nemesis gehorsame Herz, das bescheidnere frömmere Zeiten erzogen haben, wird zagen vor einer frechen ruchlosen Titanenzeit, worin nur Handel und Scharfsinn gebieten und worin ein geistiges Faustrecht zu Gerichte sitzt. Die jetzige Zeit wird von revolutionären Schatten bewohnt, die, wie die homerischen, nicht eher Kraft und Rede haben, als bis sie Blut getrunken. Wohl ist die Menschheit erwacht – ich weiß nicht, ob im Bette oder Grabe –; aber sie liegt noch, wie eine erweckte Leiche, umgekehrt auf dem Angesicht und blickt in die Erde.«
Der Kapitalismus, der die Ergebnisse der Revolution verschlingen wird, hat sich also mit Handel und kaufmännischem Kalkül bereits angekündigt. In dieser Ökonomie verstetigen sich Tauschbeziehungen und Gleichordnung von Waren und Menschen. Aus dieser Grundlage erwachsen Produktionen und Reproduktionen eines prophetischen Romans. Und so sterben allmählich alle Gefühle ab. Doch noch immer gehen die Schatten der Revolution um, ja, sie könnten zum Sprechen gebracht werden, würde ihnen Blut geopfert – womit nicht das schwarze Schafsblut gemeint ist, das Odysseus vergießt (»Odyssee«, 11, 35–39). Die Revolution ist einerseits eine gespenstische Möglichkeit, andererseits eine düstere Vergangenheit.
Dass wir uns in einer frühkapitalistischen Titanenzeit und in einem nachrevolutionären Titanenraum bewegen, lässt eine Figur des Romans nach vorn treten, die relativ wenige Auftritte hat, aber dank ihrer prosaischen, zweckorientierten, nüchternen und berechnenden Art sich von all den überspannten, vergeistigten und halluzinierenden Figuren absetzt, die sonst die Szene beherrschen: Gaspard de Cesara, der bis fast ans Ende für Albanos Vater gehalten wird. Manche wollen in diesem fantasiearmen und selbstsüchtigen Tatmenschen eine Parodie auf den Geheimrat Goethe sehen. Doch hätte Goethe auf das Vorhaben Albanos, sich den revolutionären Truppen Frankreichs anzuschließen, gewiss anders reagiert als Gaspard: »Das hör’ er gern von einem Jüngling – sagte Gaspard – der Krieg bilde für Geschäfte, und das Recht oder Unrecht desselben tue nichts zur Sache und gehe andere an, die ihn erklären.« (126. Zykel) Das ist die denkbar unrevolutionärste Antwort auf ein revolutionäres Ansinnen und könnte ebensogut von einem Waffenhändler oder von einer Rüstungslobbyistin stammen.
Aber zu dem Gang nach Frankreich kommt es ohnehin nicht, es kommt überhaupt zu sehr wenig. Der »Titan« bewegt sich mal in einer nebelhaften Vergangenheit, mal in einer geweissagten Zukunft, aber so gut wie nie in einer goetheanisch-immanenten Gegenwart. Der Roman ist wie schon die »Belustigungen« eine Geistergeschichte, und es ist alles andere als ein Zufall, dass sich der Doppelheld Albano/Roquairol in einem »Tartarus« (einer Höhle) zum ersten Mal begegnet.
Selbst im Spiegel
In diesem Roman der Dopplungen, Spiegelungen und Echos bewegen sich die Lebenden stets in einem Totenreich und haben die Toten nichts Eiligeres zu tun, als wiederaufzuerstehen. Das schließt Gegenwärtigkeit, ja fassbare Realität aus: »Wir haben keine Gegenwart, die Vergangenheit muss ohne sie die Zukunft gebären«, stellt Albano fest. (104. Zykel) An die Stelle von Handlungen, die fast ausschließlich dem »Geschäftsverstand« von Gaspard, Idoine und Julienne (Albanos Zwillingsschwester) überlassen bleiben, treten Vor- und Rückgriffe, Antizipationen und Reminiszenzen. Und was über Roquairol gesagt wird, gilt für fast alle Bewohnerinnen und Bewohner eines erstarrten und gelähmten Deutschland: »Nur noch der Flügel der Phantasie zuckt an ihrer Leiche.« (53. Zykel)
Bevor es zu der unterweltlichen Begegnung zwischen den beiden Ich-Teilen Albano und Roquairol kommt, trägt der eine dem andern blind seine Liebe an. Albano schreibt dem ihm bis dahin völlig Unbekannten: »Fremder, wenn du keinen Freund hättest, hast du einen verdient? (…) Und, Einsamer, wenn (…) du auf dem kalten Erdboden fühlest, dass dein Herz an keine Brust anschlägt als nur an deine: o Geliebter, weinest du dann und recht innig? (Wenn) du so bist, so komm an mein Herz, ich bin wie du.« (47. Zykel) Auf diesen überspannten Antrag aus dem Nichts antwortet Roquairol: »Ich bin wie du. Am Himmelfahrtsabende will ich dich suchen unter den Larven.« Ich und Ich beschließen, sich in Liebe zusammenzufinden – jedoch maskiert. Und das Maskenfest ist, wie sich zeigen wird, immer auch ein Totentanz. »Sind wir nicht blitzende Larven aus Erde am Grab?«, fragt Albano. (114. Zykel)
In holdem Wahn (Albano) und kühler Berechnung (Roquairol) schließen sich der bislang bürgerliche und der feudale Ich-Teil des Helden zu einer anfangs stark homoerotisch aufgeladenen Einheit zusammen. Nicht nur sind ihre Statur und ihre Stimmen nahezu identisch, was Roquairol erlauben wird, Albanos Geliebte Linda zu schwängern, es verbindet sie zunächst auch ein Sinn für Höheres miteinander. Obwohl weder der eine noch der andere Künstler ist, sind sie doch beide musisch begabt und »geldvergessen«, fremdeln mit einer Zeit, »worin nur Handel und Scharfsinn gebieten«, und verachten Krämer vom Schlage eines Herrn von Bouverot, der nach dem öffentlichen Selbstmord Roquairols (130. Zykel) ausruft: »Oh qui me payera?« (Wer wird mich auszahlen?), weil der Tote noch Schulden bei ihm hat.
Anders als es von einem sittlich gefestigten Roman der Weimarer Klassik zu erwarten wäre, lebt nicht etwa allein der Böse in einer scheinhaften Welt, vielmehr wird derjenige, den man bislang zwar für getäuscht, geblendet und verführt, aber für gut gehalten hat, also Albano, nach dem Tod des Bösen selbst böse: Als Roquairol Linda zur Mutter und zur »Witwe« gemacht hat, lässt Albano sie fallen wie eine heiße Kartoffel – »Ich will Lebewohl zu dir sagen. Sage du keines zu mir!« (131. Zykel) – und nimmt sich kurz darauf, da seine eigene adelige Abstammung nun amtlich ist, Idoine zur Frau, die bislang stolz betont hat, sie werde niemals einen Bürger heiraten. Von der Revolution ist dann selbstverständlich keine Rede mehr. Jean Paul notiert über seinen Helden, er hasse die Egoisten, sei aber selbst einer.
Im »Titan« treffen sich Adelige und Bürger in einer leblosen, lieblosen Welt des Scheins und der medialen Simulation. Börne hat sich demnach lediglich um hundert Jahre geirrt, Jean Paul wartete vergebens nicht an der Pforte des Zwanzigsten, sondern an der des Einundzwanzigsten Jahrhunderts. Noch müssen bei ihm eine sprechende Dohle, ein Bauchredner, ein Affe, Wachsbilder, »Hör- und Sprachröhren« die technische Realität aufmotzen, die uns heute von Chatbots modelliert wird, doch der Effekt ist derselbe. Den systematischen Blendungen entspricht Blindheit, von der wohl alle Akteurinnen und Akteure zeitweise befallen sind, aber die bei den jungen Damen dramatisch ins Gewicht fällt.
Geborgtes Ich
Liane, weniger eine Frau als ein ätherisches, unantastbares Wesen, erblindet jeweils im entscheidenden Moment des Dramas. Dass sie sich jemals mit Albano vereinen könnte, scheint unwahrscheinlich, ist sie doch Gott versprochen. Als sie aber in den Himmel fährt, erblindet vorübergehend auch Albano und ist dann in der Lage, sich einer recht perversen Kur zu unterziehen: Dem Trauernden führt man zum Trost die der Verstorbenen überaus ähnliche Idoine vor. Er lässt sich, »willig und blind«, von dem Gaukelbild überzeugen, Liane lebe. »Er sah noch Lianen in hoher Göttergestalt auf dem abendroten, von Freuden übertaueten Sonnenboden stehen, und sein Auge voll Glanz reichte nicht herunter in den Erden-Keller auf die abgeworfne enge Puppen-Hülse der befreieten, fliegenden Psyche.« (100. Zykel)
Die »Nachtblindheit«, die Linda in die Irre führt, als sie sich, begleitet von einer blinden Dienerin, mit dem »Schein-Albano« Roquairol trifft, erklärt sich jedoch anders als die Verklärtheit Lianes. Linda ist eine praktische, selbstbewusste, reife Frau, die sich, wie sonst nur Schoppe, den herrschenden Zwängen zu entziehen weiß. Beispielsweise lehnt sie das Institut der Ehe ab. Zum Verhängnis wird ihr die Liebe. Denn Liebe als Hingabe, nicht als gleichgültiges Vertragsverhältnis oder als Seelenergießung, ist weder unter aristokratischen noch unter bürgerlichen Bedingungen vorgesehen.
Schoppe ist der große Gegenentwurf in diesem Trauerspiel, nicht nur, weil auch er (insgeheim) lieben kann, nämlich Linda, sondern auch, weil er der einzige glaubwürdige Revolutionär ist. Gerade seine Zweifel bezeugen, dass es ihm ernst ist. Es falle ihm schwer, schreibt er in einem Brief (122. Zykel), sich auf die Franzosen zu verlassen, deren »Stamm und Gezweig doch jahrhundertelang am Sklaven-Gitter trocknete und dorrte. Wer nicht vor der Revolution ein stiller Revolutionär war – wie etwan Chamfort, mit dessen feuerfesten Brust ich einmal in Paris an meiner schönes Feuer schlug, oder wie Montesquieu und J. J. Rousseau –, der spreize sich mit seiner Tropfenhaftigkeit nicht breit unter seiner Haustür aus«, soll heißen: der prahle nicht. Hier spricht der Autor selbst, der sich nicht umsonst nach Rousseau benannt hat. Auch wenn es in der »Unsichtbaren Loge« (1793) heißt: »In Paris war ich auch«, ist es allerdings wenig wahrscheinlich, dass Jean Paul mit Nicolas Chamfort (1741–1794), dem zynischsten unter den Moralisten, feurige Reden geschwungen haben könnte.
Schoppes größte Abweichung von der traurigen Hofgesellschaft des »Titan« liegt aber nicht in revolutionären Umtrieben, sondern gerade in dem, was die andern für seinen Wahn halten. In einer Welt, in der alle ein Ich erhaschen wollen, und mag es auch ein geborgtes sein, scheut er, der früh erkannte, dass hinter jeder Maske eine andere Maske steckt (50. Zykel), gerade vor der Ich-Identität zurück. Er ist der Freieste, weil er Kerkerluft da riecht, wo andere sich häuslich niederlassen wollen.
Stefan Ripplinger schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. September 2025 über George Grosz’ und Wieland Herzfeldes Programmschrift »Die Kunst ist in Gefahr«: Tendenz: revolutionär
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