Weniger Eisenbahner, weniger Vereine
Von Andreas Müller
Ältere Semester werden sich noch daran erinnern, wie selbstverständlich Post und Bahnhof früher benachbart waren. Inzwischen rauschen die Züge an kleinen Bahnhöfen vorbei. Die Post firmiert längst als DHL und verlegte ihre großen Verteilzentren nach draußen vor die Stadt. Veränderungen, die zugleich das Nebeneinander von Eisenbahn- und Post-Sport tangieren. »Weniger Eisenbahner, weniger Vereine«, sagt Carsten Bergmann, Vizepräsident des Verbandes der Deutschen Eisenbahnersportvereine (VDES), kurz und knapp. Gab es in den Hochzeiten des Schienenverkehrs um die 800 solcher Vereine, in der DDR als Betriebssportgemeinschaft namens »Lokomotive«, so liegt deren Zahl heute bundesweit bei nur noch rund 260.
Ähnlich der postgelbe Trend. Parallel zur Privatisierung des Unternehmens seit den 1990ern blieben von 367 Postsportvereinen nach Schätzungen bestenfalls zwei Drittel übrig. Einen Dachverband wie bei den Eisenbahnsportlern gibt es für diese Sparte nicht. Erst kürzlich musste der Postsportverein im hessischen Eschwege wegen Mitgliederschwundes nach 57 Jahren aufgelöst werden. Umgekehrt gibt es mit »Post Mühlhausen« in Thüringen sogar einen Tischtennisbundesligisten mit mehr als einem Dutzend Mannschaften im Spielbetrieb und aktuell 303 Mitgliedern, die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. »Von der DHL bekommen wir zwar null Euro, aber aus Tradition haben wir diesen Namen behalten. ›Ab geht die Post‹ blieb auch unser Motto in der Halle«, berichtet Schatzmeisterin Maria Stecher gegenüber jW. Im kommenden Mai wird der 75. Geburtstag des Vereins gefeiert – und mit Heinz Schneider sein berühmtestes Mitglied. Er nahm an acht Tischtennisweltmeisterschaften teil und gewann 1957 WM-Bronze im Einzel. 2007 ist er verstorben. Seine Frau Brigitte, jüngst 85 Jahre alt geworden, hält den vielleicht prominentesten »Postlern« im bundesdeutschen Sportbetrieb bis heute die Treue.
Die verbliebenen Sportvereine von Post und Eisenbahn gehören zu den insgesamt mehr als 86.000, die im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) organisiert sind. Auch sie unterliegen derzeit einem Wandel, den zunehmend Sorgen um genügend ehrenamtliches Personal für die Vorstandsarbeit begleiten. Ob und wie viele »Normalvereine« dem bereits zum Opfer fielen, wurde bisher nicht erhoben, bleibt also noch im dunklen. Fakt ist: Wo für Berufstätige die Verbindung von Job und Familie mit Kinder- und/oder Seniorenbetreuung zur immer größeren Herausforderung gerät, leidet zwangsläufig der Spielraum fürs ehrenamtliche Engagement – nicht nur fürs sportliche. Erst recht dort, wo es gilt, in den Vereinen die Verantwortung für den Vorsitz, für Buchhaltung, Mitgliederverwaltung oder Nachwuchsarbeit zu übernehmen. Die Alltagsfrage lautet vermehrt: Warum gerade ich? Entsprechende Warnhinweise gab der jüngste Sportentwicklungsbericht (SEB) bereits im Frühjahr. Demnach erklärte rund ein Fünftel der Sportvereine, sich existentiell bedroht zu fühlen – in absoluten Zahlen wären das über 17.500.
»Einerseits dürfen wir vor dieser Entwicklung nicht die Augen verschließen. Andererseits dürfen wir den Schimmel nicht scheu machen«, betont Christoph Breuer, der Autor der Studie, gegenüber jW. »Händeringend nach Personal zu suchen bedeutet ja nicht gleich den Untergang«, fügt der Professor von der Sporthochschule Köln hinzu und verweist auf besondere Schutzmechanismen im Vereinssport. Auch wenn es personell eng wird, sei ein Sportverein nicht zwangsläufig gleich am Ende und die Streichung aus dem Amtsregister zu befürchten. Zumal die Wahrscheinlichkeit des Exodus aus finanziellen Gründen hier sehr gering ist – ganz anders als bei Unternehmen. Dem pflichtet Roland Frischkorn bei, seit einem Vierteljahrhundert Vorsitzender des Sportkreises Frankfurt am Main. »In dieser gesamten Zeit habe ich nur zweimal erlebt, dass sich eine Situation dramatisch zuspitzte.« Einmal habe sich ein Sportverein aus dem Stadtteil Nied unters Dach der großen Frankfurter Eintracht geflüchtet. Im anderen Fall habe die Turnerschaft Nord vor dem Kollaps gestanden, sich jedoch retten können, nachdem ein paar junge Leute aus den eigenen Reihen spontan als Vorstand kandidiert hatten und gewählt worden waren.
Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, das für die Gründung eines Vereins wenigstens sieben Mitglieder fordert, sind für seine Amtsgeschäfte mindestens zwei unterrichtsberechtigte Vorständler vonnöten. Unter diesen Voraussetzungen sei Roland Frischkorn zufolge die existentielle Bedrohung bei klassischen Sportvereinen mit mehreren hundert Mitgliedern wegen ausgehenden Vorstandspersonals eher gering. Das Risiko liege eher dort, wo ein Sportverein lediglich über zehn oder zwölf Mitglieder verfüge. Die Zahl solcher »Minivereine« ist leider unbekannt, wurde bislang nicht explizit erhoben. Im SEB von 2017/2018 ist nur vermerkt, dass kleine Vereine bis zu einhundert Mitgliedern 46,6 Prozent aller Sportvereine ausmachen und 7,9 Prozent aller Vereinssportler verkörpern.
Eine weitere Wissenslücke, die es endlich zu schließen gilt: Niemand weiß momentan genau zu sagen, für wie viele Sportvereine bundesweit von den Amtsgerichten vor Ort eine Notverwaltung bestellt wurde und wie viele Vereine von diesem Szenario bedroht sind. »Die Abfrage unter den Rechtspflegerinnen und Rechtspflegern hat ergeben, dass nach deren Erinnerung in den letzten Jahren circa vier Anträge auf Notvorstandsbestellung bei Sportvereinen eingingen«, teilte das Amtsgericht Frankfurt am Main auf jW-Anfrage für seinen Beritt mit. Es gebe für solche Fälle in keinem der städtischen Register eine offizielle Statistik. Christoph Breuer und Andreas Klages, der Hauptgeschäftsführer des Landessportbundes (LSB) Hessen, bestätigen gegenüber jW diesen Eindruck unisono. »Es gibt keine Stelle, die solche Informationen sammelt und zusammenführt.« Der Schluss für den Kölner Wissenschaftler: Mit dem nächsten nationalen SEB sollten solche Daten unbedingt mit abgefragt werden. »Der organisierte Sport braucht diese Informationen, dieses Thema darf nicht länger eine Blackbox sein.« Tröstlich bislang, dass Vereine in Notverwaltung als große Ausnahme und Randerscheinung gelten – noch.
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