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Aus: Ausgabe vom 04.11.2025, Seite 15 / Natur & Wissenschaft
Klimawandel

Der erste Dominostein

Das Absterben der Korallenriffe ist der Anfang einer gefährlichen Entwicklung. Über die sogenannten Klimakippunkte
Von Marc Püschel
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Grundlage für eine Lebensvielfalt, die ihresgleichen sucht: Das Great Barrier Reef vor Australien

Es kommt einem Dammbruch gleich. In der ersten Oktoberhälfte sorgte der von mehr als 100 Wissenschaftlern erstellte »Global Tipping Points Report« 2025 nicht nur deswegen für Aufsehen, weil darin prognostiziert wird, dass schon im kommenden Jahrzehnt die Temperaturen im Durchschnitt immer 1,5 Grad über der vorindustriellen Zeit liegen werden. Auch konstatieren Klimaforscher wie Tim Lenton von der Universität Exeter, dass tropische Korallenriffe wohl bereits irreparabel geschädigt sind. Ein großflächiges Korallensterben setzt bereits bei einer Erwärmung von 1,2 Grad ein – ein Wert, der im Zuge des Klimawandels schon deutlich überschritten wurde. Nicht nur stehen damit ganze marine Lebenswelten vor dem Aussterben, es handelt sich auch um den ersten erreichten kritischen Schwellenwert im Weltökosystem: »Leider sind wir uns jetzt fast sicher, dass wir einen dieser Kippunkte für Warmwasser- oder tropische Korallenriffe überschritten haben«, so Lenton gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.

Über 20 Teilsysteme des Weltklimas verfügen über sogenannte Kippunkte. Das sind Schwellenwerte, bei deren Überschreitung die Systeme von einem stabilen in einen instabilen Zustand »umkippen«, vergleichbar einem See mit zu wenig Sauerstoff. Gegenüber einer Zunahme der Temperaturen sind die meisten ökologischen Phänomene lange Zeit relativ widerstandsfähig. Erreicht der Anstieg aber die kritische Schwelle, reicht schon eine kleine zusätzliche quantitative Veränderung, dass das ganze System eine neue, in dem Fall zerstörerische Qualität bekommt. Ist ein solcher Kippunkt überschritten, verläuft die Entwicklung immer schneller und in der Regel irreversibel. Die größte Gefahr besteht darin, dass sich die verschiedenen Entwicklungen gegenseitig verstärken, und dann für Menschen nicht mehr beherrschbar sind. »Es besteht das Risiko, dass das Kippen eines Klimasystems das Kippen anderer Systeme auslöst oder beschleunigt«, so Nico Wunderling, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am M. und Leitautor des »Global Tipping Points Report«.

Beispielsweise würde das Auftauen des Permafrostbodens vor allem in Sibirien große Mengen an Methan und Kohlendioxid freisetzen und damit den Treibhausgaseffekt deutlich verstärken. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa doppelt soviel Kohlenstoff im Permafrost gespeichert ist, wie sich derzeit in der Atmosphäre befindet. Es drohen unkontrollierbare Rückkopplungen. In Bezug auf das Absterben der Korallenriffe sind nicht nur die marine Lebensvielfalt und damit auch die Lebensgrundlage von Millionen Menschen gefährdet. Als Indikator für die zunehmende Erwärmung der Ozeane weist es auch auf die Gefahr hin, dass die Weltmeere als bisher wichtigste Kohlendioxidsenken ausfallen, also in Zukunft weniger von dem Treibhausgas aufnehmen werden als bisher. Dasselbe gilt im Falle der Abholzung des Amazonasregenwaldes, der im Vergleich zu seinen ursprünglichen Beständen bereits zu 20 Prozent zerstört ist.

Zu den anderen wichtigsten globalen Klimakippunkte zählen das Abschmelzen des arktischen Eises (durch die damit verbundene Abnahme der Rückstrahlung von Sonnenstrahlen ins Weltall steigt wiederum die Temperatur), die Veränderungen der monsunalen Regenfälle (was Dürre und Überschwemmungen nach sich zieht und damit die Lebensgrundlage von Milliarden Menschen bedroht), die Abschwächung der Atlantischen Meridionalen Umwälzströmung (AMOC) sowie der Verlust des borealen Waldes auf der Nordhalbkugel durch Abholzung, Brände und Schädlinge, was wiederum viel Kohlenstoffdioxid freisetzt.

Das genaue Eintreten der Schwellenwerte und die Wechselwirkungen zwischen den Systemen lassen sich allerdings bisher kaum präzise prognostizieren. »Viele Prozesse, die im Zusammenhang mit den Kippunkten stehen, sind noch nicht ausreichend erforscht. Deshalb ist es auch schwierig zu bewerten, wann und in welchem Ausmaß Kippunkte eintreten«, heißt es dazu in dem Hintergrundbericht »Kippunkte im Klimasystem« des Umweltbundesamtes. Während Korallenriffe am anfälligsten für höhere Temperaturen sind, liegt die kritische Schwelle für andere Kippunkte, darunter den Permafrostboden, den Amazonas, die borealen Wälder und für Berggletscher wohl eher bei rund zwei Grad Erwärmung.

Manche Entwicklungen haben auch eine gegenläufige Tendenz und könnten sich – im besten Fall und nur für einige Weltgegenden – teilweise ausgleichen. So würde die Abschwächung der Meeresströmungen im Atlantik deutlich kältere Temperaturen für Europa und Nordamerika bedeuten und damit den anderen Effekten des Klimawandels entgegenwirken. Zudem gibt es auch »positive Kippunkte«. So deuten etwa Klimamodelle darauf hin, dass es bis 2040 zu einer plötzlichen deutlichen Zunahme der Niederschlagsmengen in der Sahelzone kommt. Um bis zu 50 Prozent mehr Regen könnte dort fallen, was zu einer Begrünung der Zone führen würde.

Andere positive Kippunkte werden von Wissenschaftlern direkt im menschlichen Verhalten verortet. So gebe es kritische Schwellenwerte in der politischen oder technologischen Entwicklung, etwa wenn die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern billiger als aus fossilen wird. Die Autoren des »Global Tipping Points Report«, der erst seit 2023 veröffentlicht wird, fordern weitere Anstrengungen in Sachen Klimaschutz, um noch mehr dieser positiven Kippunkte zu erreichen. Ihr aktueller Bericht dürfte jedenfalls auf der 30. Weltklimakonferenz, die am 10. November 2025 im brasilianischen Belém beginnt, für Gesprächsstoff sorgen.

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