Tauziehen für alle
Von Andreas Müller
Das Ehepaar aus Ohio staunte nicht schlecht, was diese Ausstellung über den Sport in der Weimarer Republik entbehrt. Baseball, Basketball, Eishockey oder American Football waren vor einhundert Jahren hierzulande mehr oder weniger weiße Flecken auf der Landkarte. Dafür trat der Fußball seinen unaufhörlichen Siegeszug an. Knapp 875.000 Mitglieder verbuchte der nationale »Verband des runden Leders« im Jahr 1927. Er galt seinerzeit als Krösus, vor den Leichtathleten mit über 620.000 Mitgliedern, den Schützen mit mehr als 485.000 Mitgliedern, den Pferdesportlern (rund 210.000), Schwimmern (knapp 200.000), boxenden, ringenden und Gewichte stemmenden Schwerathleten (zirka 165.000), Skisportlern, Ruderern, Keglern und Radfahrern, sämtlich knapp unterhalb der 100.000er-Marke.
Erstmals entdeckte nach Ende des Ersten Weltkrieges die breite Bevölkerung den Sport als persönliches Freizeitvergnügen – in der aktiven Variante ebenso wie in der passiven des Zuschauers. Sportstätten entstanden reihenweise. Massen strömten in bis dato unbekannte Riesenstadien und jubelten ihrem Lieblingsklub beim Kicken zu. Oder ihren Helden bei den neuartigen »Sechstagerennen« im Radoval. Menschenmengen drängten zu Boxwettkämpfen oder Automobilrennen. War der Sport im untergegangenen Kaiserreich vornehmlich eine Angelegenheit für den Adel, hohe Dienstgrade und Betuchte, konnte er nun mit neuen Freiheiten und dem taufrischen Achtstundenarbeitstag zu jedermanns Sache werden. »Ein Phänomen, an dem man nicht vorbeikommt, wenn man die Geschichte der Weimarer Republik erzählen will«, so Stephan Zänker gegenüber jW.
Zänker ist der Chef im »Haus der Weimarer Republik«. Er ist Vorsitzender des gleichnamigen Vereins, der 2013 entstand und seit sechs Jahren ein paar Schritte vom Gründungsort der »WR« entfernt, gegenüber vom Nationaltheater mit dem weltberühmten Goethe-Schiller-Denkmal davor ein Museum für die Ära zwischen 1919 und 1933 unterhält. Zur Dauerausstellung mit jährlich mehr als 30.000 Besuchern gesellten sich sukzessive Sonderschauen. »Bisher standen dabei im engeren Sinne politische Aspekte im Mittelpunkt. Jetzt haben wir erstmals ein breiteres gesellschaftliches Thema aufgegriffen.«
Die Schau sei nicht als Sammelsurium von Medaillen, Urkunden, Trophäen und alten Sportgeräten konzipiert, erklärt der Hausherr. Zumal solch betagte Utensilien inzwischen rar und schwer zu beschaffen seien. Zu sehr habe der Zahn der Zeit an ihnen genagt. Statt dessen werde diese bedeutende Phase des Sports mit Bildern, Plakaten, Geschichten und anhand von Biographien beleuchtet. Medienstationen, Filmaufnahmen und Expertenstatements ergänzen die zahlreichen Schautafeln. Auf rund 200 Quadratmetern wird so kompakt und anschaulich zugleich weit mehr dargestellt als das Novum des Zugangs von Millionen Menschen zu Sport und Bewegung.
Illustriert und transportiert wird auch, wie zerrissen, spannungsgeladen und ambivalent die Alltagsverhältnisse damals waren, bis sie 1933 von den Nazis komplett gleichgeschaltet wurden. Zwei Jahre zuvor hatte die Republik den Zuschlag für die Olympischen Spiele im Winter in Garmisch und im Sommer 1936 in Berlin bekommen. Als sie stattfanden, wehten längst überall die Hakenkreuzfahnen. Acht Jahre zuvor, bei den Spielen 1928, feierten deutsche Athleten ihr olympisches Comeback. Für Olympia 1920 und 1924 hatte im Nachgang des Ersten Weltkrieges ein Startverbot gegolten.
Um so mehr geriet in den 1920ern der nie gekannte Sportboom im Innern zu einer Art Tauziehen für alle. Enthusiasten gegen Sportmuffel, Proletarier gegen Fabrikanten, Pazifisten gegen Kriegstreiber, vom lebendigen Sportbetrieb wurden zentrale Konflikte und Zerwürfnisse sämtlich abgebildet. Wohl am eindrücklichsten trat dies im Widerstreit derer zutage, die Bewegung und Leibesübungen als Mittel für die eigene Gesundheit und das persönliche Wohlbefinden betrachteten und ausschließlich friedliche Absichten damit verbanden – und jenen, die körperliche Ertüchtigung und Sporttreiben für paramilitärische Zwecke zu missbrauchen suchten. Weil nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages die Wehrpflicht verboten war, kamen Armee und Militär als sogenannte »Schule der Nation« nach 1918 nicht mehr in Frage. Also setzten militante Kreise und Kriegstreiber bei ihren Revanchegelüsten etwa auf den Schul- und Universitätssport und forderten sogar die »tägliche Sportstunde«, um künftige Soldaten heranzubilden und Sportliches als militärische »Allzweckwaffe« zu benutzen.
Eine Lesart, die von den bestens organisierten und mitgliederstarken Arbeitersportvereinen in der Weimarer Republik vehement abgelehnt wurde, wie der um sich greifenden Gedanke, Sport solle vorrangig dem Wettkampf und dem Kräftemessen dienen. Der massenhafte Aufschwung des neuen Phänomens, das nüchtern und neutral betrachtet persönliches Leben millionenfach bereicherte, erfasste um jene Zeit zugleich die Literatur und einige ihrer prominentesten Vertreter. Beispielsweise verpasste Thomas Mann im »Zauberberg« seiner Hauptfigur Hans Castorp ein paar Ski, während sein Bruder Heinrich Mann im Roman »Die große Sache« den Leser an einem prominenten Boxkampf teilhaben lässt. Und Johannes R. Becher ließ einen Hotelgast in seinem Werk »Levisite« ausrufen: »Man muss dem Volk die Wege zu Kraft und Schönheit weisen. Sport, Sport, das ist das in unserem Zeitalter gegebene Mittel dazu.« Kurt Tucholsky packte es politisch anders an und warnte eindringlich vor dem »blutigen Soldaten-Sport«.
Andere, teils heftige Auseinandersetzungen um das neue Medium seien nur gestreift: Sie betrafen den Konflikt zwischen den klassischen Turnern, die bis dahin praktisch als Synonym für den Sportbetrieb insgesamt galten, und den Vertretern der sich neu entwickelten, vornehmlich anglophilen Sportarten. Bist du Turner oder Sportler, galt als eine der am meisten polarisierenden Fragen. Ähnlich verhielt es sich mit dem stark aufkommenden Frauensport. Befürworter sahen darin eine Möglichkeit zur Emanzipation, Gegner eine gesundheitliche Gefährdung der Gebärfähigkeit. Insbesondere die Kirche monierte die »unzüchtigen und unweiblichen Formen der Bewegung«.
Streit entbrannte parallel über die Frage, ob Sport ausschließlich als eine »ehrenvolle Freizeitbeschäftigung« anzusehen sei oder damit ab jetzt auch Geld verdient werden dürfe. »Geld und Sport waren völlig neue Gegenpole. Anfangs wurde das Profitum noch als großer Verrat betrachtet«, merkt Stephan Zänker an und verweist auf seinerzeit gültige Spielregeln für die – nach Angaben von 1927 – etwa 1,4 Millionen Menschen in bürgerlichen Sportvereinen, 1,05 Millionen im Arbeitersport und fast einer Million Sporttreibenden in christlichen bzw. jüdischen Sportvereinen. »Die Vereine hatten in der Weimarer Republik einen immensen Zulauf, doch es gab strikte Trennungen. Nach der sozialen Herkunft der Mitglieder oder der konfessionellen Ausrichtung gab es scharfe Abgrenzungen.« Sehr im Unterschied zum organisierten Sport in der Gegenwart mit seinen bundesweit rund 86.000 Vereinen. »Der herausragende Wert des Vereinssports heute besteht in seinem verbindenden Charakter, den es unbedingt zu erhalten gilt«, betont der Hausherr zum Abschied. »Das Trennende von damals haben wir überwunden, was für ein Glück.«
Die Sonderausstellung »Freiheit in Bewegung« ist noch bis zum 12. Januar 2026 zu sehen, im »Haus der Weimarer Republik« in Weimar, Theaterplatz 4. Nähere Informationen unter folgendem Link: www.hdwr.de/veranstaltungen/freiheit-in-bewegung-sport-in-der-weimarer-republik
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