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14.09.2025, 22:32:05 / Inland
Kommunalwahlen in NRW

Wut ausgebremst

SPD kommt bei den Kommunalwahlen mit blauem Augen davon
Von Arnold Schölzel
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Sunset over Duisburg. Die NRW-Kommunalwahlen sind vorbei

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen entsprachen weitgehend den Vorhersagen. Allerdings übertraf die AfD noch die Umfragergebnisse, die eine Verdreifachung ihres Durchschnittsergebnisses von 5,1 Prozent im Jahr 2020 signalisiert hatten. Landesweit lag die Partei am Abend zwischen 16 und 17 Prozent.

Für die Stabilität des CDU-Ergebnisses von mehr als 34 Prozent und für die mit rund 22 Prozent nur geringen Verluste der SPD gegenüber 2020 – 1994 lag sie noch bei mehr als 42 Prozent – hatten beide Parteien großen Aufwand betrieben. Es hat vermutlich in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie Kommunalwahlen gegeben, in die sich Berliner und Münchener Politprominenz derart intensiv eingeschaltet hat. Das zeugt von Nervosität. 13,7 Millionen Wähler können Probleme machen.

Erfreulich sind die Ergebnisse von FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP bleibt hoffentlich auch anderswo unter vier Prozent. Rund ein Drittel der Mandate oder acht Prozent weniger stehen für die grün angestrichene Partei antirussischer Scharfmacher und eifrigster Unterstützer der Kriegs-Banderisten in Kiew zu Buche.

Hat die in Berlin regierende Koalition also den »ersten Stimmungstest« erfolgreich bestanden? CDU und SPD bejahen das selbstverständlich, abzuwarten bleiben allerdings die Stichwahlen in zwei Wochen. Da geht es vor allem für die SPD um symbolträchtige Oberbürgermeisterposten in Städten wie Dortmund, Gelsenkirchen oder Duisburg.

Unabhängig von Einzelergebnissen haben diese Kommunalwahlen vermutlich langfristig gezeigt: Die SPD kann ihre Hauptfunktion seit 1914 – die Arbeiterklasse in Kriegs- und Krisenpolitik integrieren – nicht mehr erfüllen. Die Partei Die Linke aber auch nicht. Sie hat zum Beispiel im Bundesrat nicht verhindert, dass die Landesregierungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, in denen sie Senatoren beziehungsweise Minister stellt, im Bundesrat für die Änderung des Grundgesetzes und damit für Kriegskredite stimmten. Ihre Regierungssozialisten haben das sozialdemokratische Verfahren – rhetorisch gegen Krieg und Umverteilung von unten nach oben, in Ämtern das Gegenteil praktizieren – schon lange übernommen.

Die SPD kämpft nicht mehr gegen den Bedeutungsverlust, sondern beschleunigt ihn in der Bundesregierung. Das Kapital wird sich bald überlegen müssen, welchen Nutzen die Partei noch hat. Beispiel Ruhrgebiet: Mit 5,1 Millionen Einwohnern der größte Ballungsraum der Bundesrepublik und der EU ist die Region auch nach dem Ende des Bergbaus ein Zentrum der Arbeiterklasse. Das war, wenn auch nicht im heutigen Ausmaß, schon vor 125 Jahren so. Was heute die AfD daraus macht - Spaltung durch nationalistische Verhetzung – erledigten im Kaiserreich mit demselben Vokabular und dem gleichem Rassismus der Alldeutsche Verband und konservative Parteien: Katholische polnische wie italienische Bergarbeiter unterwandern das protestantische preußische Westfalen! Das Ruhrgebiet kämpft heute allerdings nicht wie damals mit Problemen einer wachsenden, sondern einer schrumpfenden Industrie, und Bayern ist trotz aller Subventionen für Rheinmetall heute deutsches Rüstungszentrum. Die Folge: An der Ruhr wachsen seit Jahrzehnten vor allem die öffentliche und die individuelle Armut. Nicht von selbst, sondern als Ergebnis eines erbittert geführten Klassenkampfes, der im Kapitalismus seit jeher in und gegen Arbeiterzentren geführt wird. Kommunen verarmen nicht einfach, sie werden systematisch arm gemacht. Im Ruhrgebiet sind 290.000 Menschen erwerbslos, die Elendsmetropole Gelsenkirchen kommt auf eine Arbeitslosenquote von 14,9 Prozent (bundesweit 6,2 Prozent), Duisburg auf 13,3 Prozent, Hagen auf 12,4, Herne und Dortmund liegen bei zwölf Prozent.

Bei ThyssenKrupp in Duisburg stehen 11.000 Jobs auf dem Spiel. Das Ergebnis sind mehr kaputte Straßen und Brücken, heruntergewirtschaftete Stadtviertel, Schulen und Krankenhäuser. Die Städte und Gemeinden haben für die sogenannte Integration von Migranten keine Mittel. Ob ihre Oberen je den Willen dazu hatten, steht auf einem anderen Blatt. Gegenwärtig gilt als Schlüssel für die »Mutter aller Probleme« (Horst Seehofer), Dutzende Millionen Euro für Polizisten rauszuwerfen, die an den Grenzen Asylsuchende jagen. Da greift dann auch die SPD-Kovorsitzende Bärbel Bas im Kommunalwahlkampf zu AfD-Parolen und macht »mafiöse Strukturen« bei Bürgergeldempfängern zum Haupt- und Staatsproblem. Ein schlechter Witz: Wenn die Almosenverteilung nicht klappt, liegt das dann etwa an kriminellen Armen oder armen Kriminellen? Beim regierenden Personal hat sich seit dem Entstehen des Industrieproletariats nichts geändert.

Angesichts der kommunalen Zustände plus Bas’ Unverschämtheiten sind mehr als 16 Prozent für die AfD und deren eventuelles Vordringen in die Stichwahlen in Gelsenkirchen und Duisburg nicht die Ohrfeige, die fällig ist. Am Abend trompeteten CDU und SPD bereits von »Rückenwind« (Jens Spahn) für die Koalition und Bas vermerkte »kein Desaster«. So sehen SPD-Siege heute aus.

Mit großem Aufwand haben die etablierten Parteien die Wut, die ein in großen Teilen klassisch zu nennendes Proletariat in den Ruhrstädten hegt, ausgebremst. Es geht kaum zu Wahlen. Die Verhältnisse bleiben, die Wut bleibt und die reaktionären Spalter der Arbeiterbewegung gewinnen an Terrain.

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