Ganz ohne Bindungen
Von Erich Hackl
Unter dem Eindruck der Geheimrede Nikita Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 und des von Sowjettruppen niedergeschlagenen Ungarn-Aufstands verließ Doris Brehm im Frühjahr 1957 die KPÖ, verlor damit auch ihre Lektorenstelle und eröffnete wieder eine Leihbibliothek, diesmal in der Unteren Augartenstraße im 2. Wiener Gemeindebezirk. Noch Anfang Dezember 1956 hatte sie im Tagebuch die »Antwort an eine englische Freundin, die vorige Woche aus der KP ausgetreten ist und mich aufforderte, ihrem Beispiel zu folgen«, veröffentlicht. Erstens, schrieb sie, gebiete es die Fairness, zumindest so lange abzuwarten, bis »die Frage, ob die sowjetische Intervention in Ungarn wirklich notwendig war«, geklärt sei, und zweitens sei es gerade jetzt notwendig, die in den kommunistischen Parteien weitverbreitete Heuchelei und Phrasendrescherei und das nicht weniger schädliche blinde Vertrauen in ihre Führer von innen zu bekämpfen. »Wie soll die Partei von ihrer Krankheit genesen, wenn gerade die Mitglieder sie verlassen, die ihre Krankheitsherde erkannt haben?« Aber der 17. Parteitag der KPÖ im März 1957 sollte zeigen, dass der Mehrheit der Delegierten die »unverbrüchliche Verbundenheit« mit der Sowjetunion, die »Einheit der Partei« und der »Kampf gegen revisionistische Auffassungen« wichtiger waren als die von Brehm erhoffte innerparteiliche Demokratie.
Unter den Intellektuellen, die im Zuge der »Normalisierung« der KPÖ den Rücken kehrten, waren viele Freundinnen und Gefährten Brehms, unter anderem ihr bisheriger Vorgesetzter Hans Eberhard Goldschmidt, der nun eine Buchhandlung in Döbling übernahm, die Ärztin und Psychoanalytikerin Tea Genner-Erdheim, der Publizist Josef Toch, die Schriftstellerin Mira Lobe und der Kunstkritiker Johann Muschik. Mit ihnen und einigen anderen, die sich erst später von der Partei abwenden sollten, kam Brehm regelmäßig zusammen, meistens in ihrer Wohnung in der Günthergasse, gleich hinter der Votivkirche, oder in Goldschmidts Döblinger Buchhandlung.
Drei Stimmen
Goldschmidts Lehrling (später auch Nachfolger) wurde 1964 Georg Fritsch, der das geistige Leben und das Kunstschaffen in Wien seither aus nächster Nähe verfolgt hat. Das Besondere an seinen Erinnerungen ist, dass sie nicht vom Bekanntheitsgrad der jeweiligen Schriftsteller oder Künstlerinnen bestimmt werden; die Unbekannten sind Fritsch ebensowichtig wie die Prominenten, und deshalb vermochte er mir auch vor einigen Jahren in wenigen Worten ein anschauliches Bild von Doris Brehms Erscheinung zu geben: »Hochgewachsen, etwas gebogen, leichtes Schafsgesicht.« Wenn sie in ihr winziges Auto, einen Puch 500, gestiegen sei, habe sie sich regelrecht zusammenklappen müssen. Von Goldschmidt sei sie mit großer Geduld und Vorsicht behandelt worden, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Sie habe extrem langsam gesprochen, wie nach einem Schlaganfall, sei vollkommen uneitel gewesen und habe immer alles bis ins letzte Detail wissen wollen. Ist sie so naiv, habe er sich seinerzeit, als angehender Buchhändler, gefragt, oder ist sie eine Agentin? Ihre Leihbücherei in der Leopoldstadt – ein hoher ärmlicher Raum, dem »etwas Ausgedingeartiges« anhaftete – sei bis zur Decke mit völlig zerlesenen, schief gelesenen Büchern angefüllt gewesen, bei jedem Buch habe auf dem vorderen Deckel in großer Schrift »Leihbücherei Doris Brehm« gestanden.
Die Beobachtungen der Schriftstellerin Claudia Erdheim stimmen im wesentlichen mit denen des versierten Antiquars überein. Sie ist die jüngere Tochter von Laurenz Genner und Tea Erdheim, die sich nach dem Februaraufstand 1934 kennenlernten, einander in Widerstand und Verfolgung beistanden und sich trennten, als die im Oktober 1945 geborene Claudia noch keine zwei Jahre alt war. Aufgrund der engen Beziehung zu ihrer Mutter gehörte Doris Brehm für Claudia Erdheim fast schon zur Familie. Wie ihr Halbbruder Michael Genner in seiner Biographie »Mein Vater Laurenz Genner. Ein Sozialist im Dorf« (1979) hat auch sie, und zwar in der romanhaften Familiengeschichte »Längst nicht mehr koscher« (2006), auf Brehms Mitwirkung bei der Rettung jüdischer »U-Boote« hingewiesen. Aber schon lange davor, in ihrem Erstling aus dem Jahr 1984, »Bist du wahnsinnig geworden?«, hatte Erdheim aus der Perspektive eines halbwüchsigen, von den Launen und widersprüchlichen Anordnungen seiner Mutter überforderten Mädchens über Doris Brehm geschrieben, die in diesem unsentimentalen Erziehungs- oder besser: Nichterziehungsroman unter dem Namen Irma auftritt: »Die Irma ist eine Gojte und dumm wie die Nacht finster; groß ist sie, fast eine Riesin; und schrecklich geizig. (…) So komische Kleider hat sie immer an; kein Mensch trägt das mehr; das billigste von der Okkasion; sie hält das für elegant.«
Am wenig schmeichelhaften Bild der verschrobenen ältlichen Junggesellin hält Claudia Erdheim heute noch fest. Wie Fritsch erinnert sie sich an Brehms langsame, gedehnte Sprechweise und an ihr »Schafsgesicht«, aber auch an ihr brennendes Interesse an Bettgeschichten. »Die Sexfragerei war mir zu blöd, ich hab’ sie nicht mögen.« Zur Erklärung, wieso Brehm trotz ihrer Rolle im antifaschistischen Widerstand und ihrer Kompetenz in literarischen Belangen im Bekanntenkreis insgeheim belächelt wurde, erzählt Erdheim eine Anekdote, die sie von ihrer Mutter gehört hatte: Eines Abends habe jemand in die gesellige Runde in der Günthergasse einen Intelligenztest mitgebracht. Doris Brehm habe alle Fragen richtig beantwortet – aber drei oder vier Tage dafür gebraucht.
Die dritte Stimme über Brehm ist inzwischen verstummt: Der Journalist und Schriftsteller Hermann Schreiber, der sich an flüchtige Begegnungen Anfang bis Mitte der 1950er Jahre in der »Buchgemeinde« oder der Tagebuch-Redaktion erinnerte, beschrieb sie mir im Mai 2012, zwei Jahre vor seinem Tod, als »große, schlanke Erscheinung, biegsam, smart, flottes Mundwerk mit viel Jargon«. Ich bin versucht, mich an Schreibers sympathische Reminiszenz zu halten.
Bemerkenswert undistanziert
Anlass dieses Berichts über eine aus dem literarischen Gedächtnis Österreichs über Jahrzehnte Ausgesperrte ist die unlängst erschienene Neuausgabe des Romans »Eine Frau zwischen gestern und morgen«. Herausgegeben hat ihn die aus Salzburg stammende, in Wien ansässige Schriftstellerin Bettina Balàka, die damit eine Reihe »wiederentdeckter Literatur von Frauen« eröffnet. Das Buch (Haymon-Verlag, Innsbruck, 307 Seiten, 24,90 Euro) ist schön ausgestattet, sorgfältig ediert und von Balàka und der Zeithistorikerin Katharina Prager mit einem ausführlichen Nachwort versehen worden. Unverzichtbar ist es nicht nur deshalb, weil die beiden Autorinnen viele biographische Details erforscht haben, auf die ich nie gekommen wäre, sondern weil sie in der Würdigung Brehms und im Nachdenken über deren Ausgrenzung keine Relativierung ihrer literarischen Bedeutung und keine Distanzierung von ihrer politischen Überzeugung vornehmen. »Kommunistische Verlage und ihre Bücher kamen im regulären Buchhandel Österreichs wie auch in der österreichischen Presse nicht vor«, schreiben sie. »Um auf sie zu stoßen, musste man einschlägige Buchhandlungen aufsuchen oder Parteizeitungen lesen. Damit war Brehms Buch im Grunde schon zum Zeitpunkt seines Erscheinens dazu verurteilt, bald wieder vergessen zu werden.«
An dieser Begründung ist nicht zu rütteln, zumal der Roman ursprünglich erst nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages und dem darin vereinbarten Abzug der Besatzungsmächte erschien, als die sowjetisch verwalteten USIA-Betriebe in österreichisches Eigentum übergingen und ihre sozialen wie kulturellen Einrichtungen, zu denen neben Kindergärten auch Betriebsbüchereien gehörten, in den meisten Fällen ebenso geschlossen wurden wie die sowjetischen Informationszentren samt ihren gut ausgestatteten Leihbibliotheken. Andererseits ist zu beachten, dass belletristische Werke kommunistischer Gegenwartsautorinnen trotz des Boykotts seitens bürgerlicher und sozialdemokratischer Kreise über das Jahr 1955 hinaus Verkaufszahlen erreichten, von denen die meisten österreichischen Verlage heute nur träumen können. Von Brehms Roman zum Beispiel waren nach Unterlagen aus dem Globus-Archiv von der Anfang Juli 1955 ausgelieferten Gesamtauflage von 4.500 Exemplaren am 5. September bereits 4.482, von der »Buchgemeinde«-Auflage von 1.500 Exemplaren am 13. Dezember 1955 1.029 Bücher verkauft worden. Zugegeben, das sind immer noch bescheidene Zahlen, gemessen am Absatz der DDR-Lizenzausgabe: Im Mitteldeutschen Verlag (Halle) erschien Brehms Roman in den Jahren 1956 bis 1958 in drei Auflagen von insgesamt 40.000 Exemplaren.
Prager und Balàka erwähnen nicht, dass Doris Brehm sich schon sehr früh mit dem Romanstoff beschäftigt hat: In einem Brief vom 31. Juli 1948 urgiert sie bei ihrem Schriftstellerkollegen Rudolf Felmayer, der damals offenbar als Lektor für einen Theaterverlag tätig war, die Antwort auf ihre Einsendung des Dramas »Die Untergetauchten«, das sie ein Jahr zuvor, Mitte 1947, fertiggestellt hatte. Sie habe es seiner Aktualität wegen in fieberhafter Eile geschrieben, »wobei mir klar war, dass es – wenn überhaupt – wohl nur nach mancherlei Umarbeitung verwendbar sein würde, und vielleicht gar nicht als Schauspiel, sondern als Filmstoff oder Hörspiel oder als Grundlage für einen Reißer nach Art des ›Bockerer‹«. (»Der Bockerer«, eine tragische Posse von Peter Preses und Ulrich Becher, handelt vom passiven Widerstand eines gewitzten Wiener Fleischhauers gegen die Nazis und ihre Mitläufer.) »Ich bitte Sie nun«, schrieb Brehm, »mir mitteilen zu lassen, wo ich mir das Manus. abholen kann. Denn wenn es bis jetzt nicht gelesen wurde, wird es ja doch nicht mehr gelesen. Sollten Sie aber vielleicht doch hineingesehen und es als Dreck erkannt haben, so täten Sie nichts Gutes damit, mir dieses Urteil zu verschweigen. Ich bin nicht mehr jung genug, um wegen eines Misserfolges den Gashahn aufzudrehen, und Ihre Ansicht interessiert mich auf jeden Fall.«
»Direkt schädlich«
Es ist unbekannt, ob Felmayer sich zu einer Antwort bequemt hat. Wenn das der Fall war, dann fiel sie jedenfalls negativ aus, denn in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek hat sich Felmayers Gutachten vom 10. November 1948 erhalten, in dem er – unbekannt, welcher Instanz – seine »schwerwiegenden Bedenken« gegen Brehms Stück mitteilt: »Die Zeichnung der sich verbergenden Juden ist durchaus lebensecht, wirkt aber in ihrer Mischung von Angst und scheinbarer Leichtfertigkeit auf alle jene, die nicht Gelegenheit nahmen, diesem gehetzten Dasein nahe zu bleiben, und die darum auch die psychologischen Gründe für solche Haltung nicht verstehen können, leider nur abstoßend und sie womöglich in ihrer Unmenschlichkeit bestätigend. Ich halte darum eine Veröffentlichung direkt für schädlich.«

Felmayers Urteil lässt sich nicht überprüfen, jedenfalls habe ich das Typoskript des Stücks nirgendwo finden können. Deshalb war es mir auch nicht möglich, Ähnlichkeiten zwischen Drama und Roman festzustellen. Auffällig am Roman ist allerdings seine kammerspielartige Struktur, die darauf schließen lässt, dass er die Grundelemente des Theaterstücks übernommen hat: Es sind fast immer nur Innenräume, in denen sich das Geschehen entfaltet: die Dachwohnung der Familie Manner, das Stiegenhaus ihres Wohnhauses, das den Roman wie ein Leitmotiv prägt, ganz selten die Buchhandlung, die nicht wirklich sichtbar wird, genausowenig wie Gerdas Arbeitsplätze – eine Wäscherei, ein Delikatessenladen –, als sie sich von Theo emanzipiert, ein Prozess, der in Österreich für eine vom Vermögen ihres Mannes abhängige Frau bis zur Reform des Familienrechts 1975–1978 nur durch Proletarisierung zu schaffen war. Sogar noch die Klinik, in der Kurt im Sterben liegt, bleibt ohne Konturen. Der Roman als Bühnenraum, könnte man sagen, der mit einer minimalen Kulisse sein Auslangen findet.
Die Suche nach Brehms literarischer wie biographischer Hinterlassenschaft ähnelt einer Schnitzeljagd, bei der die Spuren nur manchmal in Nachlässe oder Teilnachlässe anderer Autorinnen und Publizisten führen. Letztlich sind es Zufälle, durch die man auf das eine oder andere Fundstück stößt. In einer Fußnote merken Prager und Balàka an, dass sich von Brehms Suttner-Novelle nur ein im Tagebuch abgedruckter Ausschnitt erhalten habe – »der gesamte Text ist nicht auffindbar«. Aber er hat sich doch gefunden, nämlich im Nachlass der Historikerin – und Suttner-Biographin – Brigitte Hamann in der Wienbibliothek im Rathaus. Wie der handschriftliche Gruß auf der Titelseite verrät, wurde ihr das Typoskript vom Buchhändler und Antiquar Erwin Heidrich überlassen. Aber wie war es in seine Hände gekommen? Heidrichs Sohn vermochte mir nicht weiterzuhelfen.
Auf die Existenz eines anderen lebensgeschichtlichen Dokuments hat mich Georg Fritsch hingewiesen: den Tonbandmitschnitt eines Gesprächs zwischen Doris Brehm und Reinhard Priessnitz aus dem Jahr 1963. Priessnitz, der ungeachtet seines schmalen Werks als einer der bedeutendsten Vertreter der österreichischen Avantgarde gilt, war zum Zeitpunkt der Aufnahme erst achtzehn Jahre alt, aber literarisch immens beschlagen, wie die Fachsimpelei mit seiner 37 Jahre älteren Kollegin verrät, bei der sie vom Hundertsten ins Tausendste kamen. Die Zusammenkunft in Brehms Wohnung hatte Tea Genner-Erdheim eingefädelt, deren Tochter Claudia damals Priessnitz’ Freundin war. Brehm wollte die Texte des blutjungen Dichters dem schon einmal genannten Kritiker Edmund Th. Kauer ans Herz legen. Ob der sich, wie es ihre Absicht war, dann um eine Veröffentlichung in einer Zeitschrift bemühte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Finanzielle Bedrängnis
Jedenfalls nützte Brehm die Gelegenheit ihres Treffens, um Priessnitz, der sich mit dem An- und Verkauf wertvoller Erstausgaben und Kunstgegenstände ein Zubrot verdiente, nach dem Schätzwert eigener Bilder und Bücher zu fragen. In ihrem turbulenten Familienroman hatte Claudia Erdheim ihrem Alter ego in den Mund gelegt, dass »die Irma«, also Doris, »Geld zum Schweinefüttern« habe. Aber offenbar lebte Brehm schon damals, in den 1960er Jahren, in finanzieller Bedrängnis. »Als mein Vater starb«, hatte sie seiner Verlegerin Margarete Rohrer geschrieben, »hat er sogar Schulden hinterlassen, und ich musste auch noch das Geld für die Kosten des Begräbnisses ausborgen.«
In einem Brief vom 13. Oktober 1974 gewährte Doris Brehm dem vormaligen Wiener Kulturstadtrat und Tagebuch-Redakteur Viktor Matejka Einblick in ihre missliche Lage: Sie würde, mit 66 Jahren, gern in Pension gehen, »weil ich dringend schreiben will und nie dazu komme«, finde aber keine Nachfolger für ihre Leihbücherei: »Der Gewinn ist zu klein, um Käufer zu locken, andererseits kann ich mich nicht entschließen, die Bibliothek einfach aufzulösen (15.000 Bände einstampfen zu lassen). Ich würde sie gern einem jungen Menschen vererben, der bereit wäre, sie weiterzuführen und auszubauen. Aber das ist wohl eine Utopie!« Anscheinend blieb es ihr letztlich nicht erspart, die schon damals aus der Zeit gefallene Bücherei zu schließen.
Ende der 1970er oder Anfang der 1980er Jahre übersiedelte Brehm in ein Altersheim der Gemeinde Wien. Dort, in der Döblinger Pfarrwiesengasse, hat Georg Fritsch sie einmal besucht. Er erinnert sich an ihre schön eingerichtete Kammer. An einer Wand, auch das ist ihm in Erinnerung geblieben, hingen zwei großformatige Holzschnitte der Grazer Malerin Norbertine Bresslern-Roth. Ungewiss, wer außer Fritsch Brehm damals überhaupt noch besucht hat. Tea Genner-Erdheim war 1977 gestorben, Josef Toch 1983, Hans Eberhard Goldschmidt 1984. Zu Genner-Erdheims Töchtern habe sie »seit ihrem Tod keinen Kontakt und kann aus guten Gründen keinen aufnehmen«, schrieb Brehm in ihrem letzten auffindbaren Brief vom 27. November 1986 der Psychoanalytikerin Erika Danneberg, die ihre Lehranalyse bei Genner-Erdheim absolviert hatte und mit ihr befreundet gewesen war. »Auch mit der Psychoanalytischen Gesellschaft habe ich keine Verbindung. Und in der Freud-Gesellschaft, in der ich seit sechs Jahren ehrenamtlich arbeite, herrscht zur Zeit kein günstiges Klima.«
Anlass des Schreibens war Brehms Angebot an Danneberg, »einige sehr interessante Briefe, ein langes Gespräch auf Tonband und ein unveröffentlichtes Manuskript« ihrer gemeinsamen Freundin zu übernehmen. »Da ich 78 Jahre alt bin und mit keiner langen Lebenserwartung mehr rechne, befürchte ich, dass diese nicht unbedeutenden Erinnerungen an Tea nach meinem Tod vernichtet werden. Denn mein gesamter Nachlass fällt an das Pensionistenheim Döbling, wo ich zu stark ermäßigter Gebühr wohne. (Ich bin nämlich Ausgleichszulagenempfängerin.) Und da, wenn ich plötzlich stürbe, neun Schreibtischladen voll ›Papierkram‹ zurückbleiben würden, kann man sich die Folgen vorstellen!«
Keine Information
Im Innsbrucker Brenner-Archiv, das den Nachlass der 2002 verstorbenen Erika Danneberg aufbewahrt, liegen die von Brehm erwähnten Briefe Genner-Erdheims und auch der Durchschlag eines Typoskripts, »Der Surabaya-Johnny von Bert Brecht«, bei dem es sich vermutlich um den unveröffentlichten Aufsatz handelt. Aber wo ist der restliche »Papierkram« aus Brehms Schubladen gelandet? Vor vier Jahren richtete ich eine diesbezügliche Anfrage an das Kuratorium Wiener Pensionistenwohnhäuser. Nach Mitteilung der Abteilung Marketing und Kommunikation würden Daten verstorbener Bewohnerinnen und Bewohner maximal sieben Jahre gespeichert. Das Altersheim sei zudem in der Zwischenzeit von der Pfarrwiesengasse in die Grinzinger Allee übersiedelt. Die längstdienende Mitarbeiterin sei erst seit 1996 im Haus und könne deshalb leider auch keine Auskunft geben. »Und auch in unseren KundInnendateien haben wir keine Informationen mehr zu Frau Brehm gespeichert.«
Doris Brehm starb am 15. Jänner 1991 im Wiener Wilhelminenspital. Todesursache war eine Lungenembolie infolge einer Krebserkrankung. »Mit ihrem Tod«, schreiben Prager und Balàka, »verschwand sie endgültig aus dem kulturellen Gedächtnis Österreichs. Nicht einmal ein Grab erinnert an sie – ihrem Verlassenschaftsakt zufolge ging ihr Körper an die Anatomie.«
Aber das soll nicht das Ende sein. Nicht das Ende dieses Berichts über eine Schriftstellerin, die in der »Frau zwischen gestern und morgen« nicht nur hohe moralische Ansprüche an die Menschen gestellt hat, sondern auch das Wagnis eingegangen ist, sich selbst zu verewigen: »Ein gläsern klares, bis auf den Grund durchsichtiges Glücksgefühl durchdrang sie: Sie konnte allein sein, sie brauchte keine Bindung mehr und keine Sicherheiten.«
Erich Hackl ist Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt »Rudolf Schönwald: Die Welt war ein Irrenhaus. Meine Lebensgeschichte. Nacherzählt von Erich Hackl« (Wien 2002). Teil 1 des Essays über Doris Brehm erschien in der Ausgabe vom 20./21. September 2020.
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