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Aus: Ausgabe vom 19.09.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Guter Verstand, guter Anstand

Die spätaufklärerische Popularphilosophie als Wiege der Soziologie. Über Christian Garve
Von Hans Otto Rößer
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In der Frühen Neuzeit wuchs das Interesse, verschiedene Klassen in ihrem typischen Habitus zu beschreiben. Ein Priester, ein Soldaten, ein Bauern und ein Richter (französischer Kupferstich, Ende 17. Jahrhundert)

Als Christian Garve am 1. Dezember 1798 mit 56 Jahren im damals preußischen Breslau an den Folgen eines »Gesichtskrebses«, einer schmerzhaften Wucherung im Gesicht, erblindet und vereinsamt starb, war er schon nicht mehr der beliebteste deutschsprachige Philosoph. Sein Bedeutungsverlust vollzog sich parallel zum Aufstieg der Philosophie Kants, der er verständnislos gegenüberstand. Kants Moralphilosophie begegnete er mit der Wiederbelebung antiker Glückseligkeits- und Tugendlehren. Die Prinzipien des »Vernunftstaates« Kants kritisierte er wegen ihrer bürgerlich-republikanischen Unbedingtheit. Ihm ging es um das vermeintliche Recht der Tradition und um Kompromisse mit dem Adel. Während Kant seinen empiristischen Kritikern allgemein einen »Weisheitsdünkel mit Maulwurfsaugen« vorwarf, begegnete er Garve, ähnlich wie Schiller, stets mit Achtung. Diese Rücksicht kannten die Frühromantiker nicht. Friedrich Schleiermacher kritisierte Garves Denken als »Anmerkungs-Philosophie«, als »einfache Reflexion« über einzelne Gegenstände »auf dem Standpunkte des gemeinen Lebens«. Garve nehme seine Gegenstände »für einfach gegeben«, wo sie doch nur begriffen werden könnten, wenn man sie in ihre »ganze Mannigfaltigkeit« auflöst.

Was ist Popularphilosophie?

Trotz der polemischen Schärfe trifft diese Kritik sowohl Garves Verfahren als auch sein Selbstverständnis, durch Beobachten und Vergleichen das »Interessierende« an den Gegenständen sichtbar zu machen und darin die Nützlichkeit seines Schreibens zu erweisen. Garve war der bekannteste Vertreter der »Popularphilosophie«, die sich im deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte. Sie löste sich von den Schwerpunkten der »Schulphilosophie« und wollte »Welt- und Lebensphilosophie« sein. Adressaten der Popularphilosophie sind »alle Menschen von gebildetem Verstande«. Ihre Gegenstände sind der Lebens- und Erfahrungswelt der Angehörigen des sich herausbildenden Bürgertums entnommen. Ihre Erfahrungen und deren Reflexion im Modus des »guten«, »gesunden« Menschenverstandes sind der Bezugspunkt dieser Literatur, Rationalisierung und Kohärenz des gemeinen Verstandes das Ziel der durch die Lektüre angeregten Selbstaufklärung. Dem Schriftsteller, so Garve, kommt dabei »höchstens« das Verdienst zu, »das, was der vernünftige Mann über die Sache immer gedacht hat, deutlich mit Worten auszudrücken«. Im besten Fall wird so das Bekannte zum Erkannten.

Eine solche Literatur wird nicht zum Störfall. Sie bietet Selbstbestätigung statt Kritik und ist verdrängungsbereit gegenüber Widersprüchen und Verwerfungen in den Lebensverhältnissen ihrer Zielgruppe. Verständlich, deutlich, anschaulich, mit Beispielen versehen – das sind ihre Schreibideale. Sie erzeugen einen Textfluss, der den Rezipienten nicht stocken und grübeln lässt, sondern es ihm ermöglicht, den gelesenen Gedankengang mühelos nachzuvollziehen. Das setzt voraus, dass die populären Schriften aus sich selbst heraus verständlich sind. Realgeschichtliche Voraussetzung der Popularphilosophie ist eine gebildete, literarisierte Mittelschicht, ihr Bedürfnis nach Orientierungswissen und Selbstaufklärung sowie die Transformation dieses Bedürfnisses in eine zahlungskräftige Nachfrage. Anders gesagt: Keine Popularphilosophie ohne literarischen Markt.

Was die Popularphilosophie zu dem Interessierenden zählt, lässt sich an den Themen der Essays Garves ablesen. Er schreibt über die Moden, die Rollen der Wahnwitzigen in Shakespeares Werken und Goethes Werther, über Geduld und Unentschlossenheit, Launen und enttäuschte Erwartungen, Gesellschaft und Einsamkeit, den unterschiedlichen Habitus von Bürgern und Adligen, das Verhältnis feudalabhängiger Bauern zu ihren Gutsherren, den modernen Staat und das Widerstandsrecht oder über das Verhältnis von Moral und Politik. Schließlich gibt Garve sich auch Rechenschaft über seinen Stil in Überlegungen zur Popularität des Vortrags.

Ohne Zweifel: Garve kann sich mit der postdidaktischen, autonom gewordenen Literatur seiner Zeit nicht anfreunden. Im Paten der modernen Literatur, William Shakespeare, sieht er einen »exzentrischen Genius« am Werk, der zu einer Dominanz der Leidenschaft über die Ordnung des Verstandes führe. Daher gebe es in seinen Stücken »zu viele« Wahnsinnige, die Szenen mit ihnen seien »zu mannigfaltig« und »zu künstlich« ausgemalt. Auch den Werther findet er »überspannt«. In den modisch werdenden »Barden- und Skaldengesängen« sieht er die Gefahr des Rückfalls »in ein raues, barbarisches, unwissendes Jahrhundert« und fürchtet, dass dadurch »unsere in etwas gebildete Sprache wieder regellos« gemacht und »unsere kaum gebändigte Phantasie wieder ihrem wilden Laufe« überlassen wird.

Man kann in solchen Bekundungen die Offenbarung einer gewissen Kunstfremdheit sehen. Vor allem zeigen sie Garves (partielles) Unverständnis dafür, dass die Wirksamkeit ideologischer Apparate gerade auf dem Zusammenspiel unterschiedlicher Sprachspiele bei der Anrufung der Subjekte beruht. Kunstfremdheit ist aber nur eine Seite von Garves Distanz zum kleinbürgerlichen Grobianismus in der Literatur. Eine andere und für Garve gewichtigere liegt in den Besonderheiten seiner Biographie. Entgegen dem Gemeinplatz vom protestantischen Pfarrhaus als Wiege der deutschen Aufklärung gehört Garve zu den wenigen deutschen Aufklärern, die dem Handwerks- und Manufakturbürgertum entstammen; mit Stolz nannte er sich einen Bürger.

Als Garve 1742 geboren wurde, wurde seine Geburtsstadt Breslau (heute: Wrocław) mit Schlesien im Ergebnis des Ersten Schlesischen Krieges Preußen zugeschlagen. Die Fernhandelskaufleute der Stadt organisierten den Transithandel nach Hamburg, Holland und Frankreich, die lokalen Produkte waren Tuche, Wollwaren, Tabak, Wachs und Talg. Es gab fünf Verlegerfamilien in Breslau. Garves Großvater entstammte einer Lübecker Wollfärberei und kam in der polnischen Stadt Lissa (heute: Leszno) zu Wohlstand. Sein Sohn Nathanael zog nach Breslau und bekam schon 1724 das Bürgerrecht der Stadt. Nachdem seine erste Frau, die Tochter eines Hamburger Großkaufmannes, 1730 im Alter von 21 Jahren gestorben war, heiratete er 1733 Anna Katharina Förster, die väterlicherseits aus einer Juristenfamilie stammte und deren Mutter in Breslau eine Schönfärberei besaß. Diese Heirat stabilisierte endgültig die Verankerung der Familie in den einflussreichen Netzwerken der Stadt.

Garves Mutter Anna Katharina bildet die zweite Besonderheit seines Lebens. Als sie den zwanzig Jahre älteren Nathanael heiratete, war sie 17 Jahre alt. Nach neun Ehejahren wurde Christian geboren, fünf Jahre später starb der Ehemann. Danach führte sie bis zum Verkauf des Betriebes 1778 31 Jahre lang die Färberei weiter. Sie gehört zu den wenigen ökonomisch unabhängigen bürgerlichen Frauen in den deutschen Territorien der Aufklärungszeit. Die Gewinne des Betriebes finanzierten die Privaterziehung des Sohnes, sein Studium in Frankfurt an der Oder und in Halle und schließlich ab 1766 seinen Lebensunterhalt als Magister in Leipzig. Von 1770 bis 1772 war Garve dort außerordentlicher Professor, dann zwangen ihn gesundheitliche Gründe zur Rückkehr nach Breslau, wo er als Privatgelehrter und freier Schriftsteller lebte, mit enger Bindung zur Mutter, die Witwe geblieben war. Sie achtete nicht nur auf die Gesundheit des kränklichen Sohnes, sondern war die erste Leserin und Kritikerin seiner Texte. Als sie am 17. März 1792 starb, folgte ihrem Tod die allmähliche Verschlimmerung von Garves Krankheit und die Vereinsamung in seinen letzten Lebensjahren.

Seine ökonomische Existenzgrundlage wurde – nach dem Verkauf der Färberei – durch seinen Anteil an dem Erlös garantiert. Garve litt darunter. Als stolzer Bürger wollte er von den Früchten seines Fleißes leben. In einem Brief aus dem Jahr 1784 wünschte er, »dass ich auch etwas Honig in den Bienenkorb eintrage«, und zwar durch seine Arbeit als Schriftsteller. Der Kampf um das Honorar für die eigenen Schriften und Übersetzungsarbeit gehörte zu seinem Alltag. Insbesondere seine Übersetzungen waren wegen seiner sachkundigen Anmerkungen geschätzt und in der Regel wurde er deutlich besser bezahlt als unbekanntere Übersetzer. Hervorzuheben sind seine Übersetzung von Adam Fergusons »Moralphilosophie«, vor allem aber von Adam Smiths »Reichtum der Nationen«. Garve wählte die Schriften, die er ins Deutsche übertrug, gut aus. Unter dem Titel der »Moralphilosophie« erarbeiteten nämlich die Vertreter der »Schottischen Aufklärung« die zeitgenössisch profundesten Kenntnisse über Gesellschaftsstrukturen und -geschichte. So konnte man sagen: Die Sozialwissenschaften werden aus dem Geist dieser Moralphilosophie geboren. Zu ihrer Bekanntheit in den deutschen Staaten trug Garve Wesentliches bei.

Der Philosoph als Protosoziologe

Es ist also keine Überraschung, dass die kleine Renaissance, die das Werk Garves im 20. Jahrhundert erfuhr, nicht seiner Philosophie galt, sondern seinem Beitrag zum Beginn der Soziologie im deutschsprachigen Raum. Was Spätaufklärung war, wird Protosoziologie. Lutz Geldsetzer illustrierte seine Thesen von der deskriptiv-phänomenologischen Methode und dem Ziel Garves, seinen Zeitgenossen ihre eigene vertraute Umwelt analysierend vor Augen zu stellen, an einem Kapitel aus Garves unvollendet gebliebenem Spätwerk »Gesellschaft und Einsamkeit«. Geldsetzers Aufsatz erschien 1963 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie unter dem Titel »Zur Frage des Beginns der deutschen Soziologie«. Noch weiter ging 1977 ein von der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, herausgegebener Sammelband über »Literatur im Epochenumbruch. Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert«. Der Romanist Martin Fontius stellte der Kunstdominanz in der Bewusstseinsbildung des deutschen Bürgertums und der dabei hegemonialen Linie von Lessing über Sturm und Drang bis zu Klassik und Romantik eine von französischen Enzyklopädisten sowie britischen Aufklärern inspirierte Unterströmung entgegen, die sich für Produktivkraftentwicklung, ökonomische Veränderung und Technologie interessierte. Der Geschichtsphilosophie des jungen Herder, die er als grundlegend für den deutschen Sturm und Drang ansah, warf er ein prinzipielles Unverständnis für die bürgerliche Gesellschaftsentwicklung seit der Renaissance vor, während er Garves Ansichten über Produktivkraftentwicklung und Staat zur »Vorgeschichte des historischen Materialismus« rechnete.

Im Titel von Garves Spätwerk bezeichnet »Gesellschaft« kein System von Sozialstrukturen, sondern die unmittelbaren oder durch Medien wie Briefe vermittelten Beziehungen, die die Menschen in ihren Lebensvollzügen eingehen. Mit »Einsamkeit« gemeint sind meist gewollte Formen des Rückzuges aus der Geselligkeit in Phasen des von der Tätigkeit selbst oder von Ruhebedürfnissen geforderten Alleinseins. Die Begriffe sind anthropologische Existenzialien, sie bilden keinen Widerspruch, sondern ein Ergänzungsverhältnis, bei dem es vor allem um die richtige Balance geht. Daher galt Geldsetzers Aufmerksamkeit allein dem soziologischen Kern des Werkes, nämlich dem Abschnitt »Gesellschaft in Geschäften«. Darin geht es Garve um die Frage, welche Kontakte zu anderen Menschen die Berufstätigkeiten erfordern, welche Kommunikationsformen sich dadurch ergeben und wie diese Formen die Art und Weise bestimmen, wie sich die Menschen zueinander verhalten und wie sie miteinander sprechen. Über diese Kommunikationssoziologie hinaus interessiert also Garve das »Air«, zu dem sich die sozialen Beziehungen in den Individuen verdichten. Heute würde man das mit Bourdieu ihren »Habitus« nennen. Bisweilen nennt Garve hier Klassen oder »Stände«, etwa Gutsbesitzer im Gegensatz zu Bauern und Tagelöhnern oder Handwerker im Gegensatz zu Gesellen, oder widmet sich typischen Berufen des Bildungsbürgertums bzw. Tätigkeiten im Staatsapparat. Unter den Gruppen des »Gewerbes« nennt Garve kleine Kaufleute, die »Krämer«, und Großkaufleute. Manufakturarbeit wird verstreut über das Buch sporadisch erwähnt, sie steht aber nicht in einem systematischen Zusammenhang.

Soziologie der Großhändler

Die »meiste äußre Politur« im Umgang entwickeln im Bürgertum nach Garve die Großhändler, die in den Haupt- und Großstädten leben und über regionale Grenzen hinweg in Kontakt mit zum Teil weiter entwickelten Bourgeoisien und vermittelt über Bankiers mit Teilen des Adels treten. Ihre Lebenslage ist nicht nur eine stabilere Schule der Ehrlichkeit als die der Handwerker, weil sie es in der Regel mit informierten Kunden zu tun haben. Die Mannigfaltigkeit und Differenziertheit ihrer Geschäfte sind zugleich eine Schule der Rationalität, des Scharfsinns und der Kombinationsgabe. Sie können nur dann ökonomisch bestehen, wenn sie die Lernprozesse bewältigen, mit denen sie jenseits von Geschäftsroutinen häufig konfrontiert werden. Dem Methodischen, Logischen und dem »Raffinement« in ihren Geschäften entspricht eine Ökonomie der Sprache, die Kürze und Präzision des Ausdrucks, grammatische Korrektheit, die Vermeidung von Übertreibungen und Weitschweifigkeit, kurzum: eine neue Rationalität des Sprechens und Schreibens erfordert. Damit geben diese Bürger nicht nur »das erste Muster eines guten, d. h. zweckmäßigen Geschäftsstils«, sondern sie bilden mit diesen Qualitäten das sozialgeschichtliche Substrat dafür, was eine »gute« prosaische Schreibart ausmacht. Garve verankert das Ideal einer »guten«, kommunikationsfähigen Prosa im »Mittelstand« zwischen dem Adel und dem »niederen« Volk. Orte, in den sich dieser Habitus entwickelt und bewährt, sind das Büro der Händler, die Salons, aber auch das Kaffeehaus, das Garve ansonsten ähnlich skeptisch bis negativ sieht wie die politischen Clubs, die er des Jakobinismus verdächtigt.

Für Garve ist die bürgerliche Mittellage die Lebenssphäre der »Vernünftigen« und damit die »der gemeinsamen Natur der Menschen gemäßeste«. Da dieser Vergesellschaftungszusammenhang zugleich der Glückseligkeit aller dient und sie befördert, kann es für Garve keinen vernünftigen Grund für Abweichungen geben. Soweit es sich nicht um wirklichen Wahnsinn handelt, subsumiert er die vielfältigen Phänomene der Exzentrik – poetische Sprache, die »ins Sinnlose und Abentheuerliche« abgleitet, überspannte Einbildungskraft und Melancholie, politischer Aufruhr allemal, kurzum: alle schiefen Stimmen im bürgerlichen Chor – unter den Vorwurf der »Schwärmerei« und neigt dazu, jede Abweichung von der »gewöhnlichen Art zu denken und zu handeln« zu pathologisieren oder moralisch zu verurteilen.

Dickköpfige Bauern

Seinen soziologischen Blick auf die gesellschaftliche Realität behält er bei, wenn es um nicht-bürgerliche Klassen oder Schichten geht. Deren Abweichungen lassen das bürgerliche Selbstbild unberührt, denn sie haben den anthropologisch optimalen Gesellschaftszustand noch gar nicht erreicht. Garves sozialpsychologische Analyse des bäuerlichen »Charakters« im Essay »Ueber den Charakter der Bauern und ihr Verhältnis gegen die Gutsherrn und gegen die Regierung«, erstmals erschienen 1786, gehört allerdings zum Besten, was deutschsprachige Aufklärer über das Leben der Bauern geschrieben haben. Zu betonen ist, dass es sich um Betrachtungen der Bauern in gutsherrschaftlichen Verhältnissen handelt, die vor allem in den ostelbischen Gebieten verbreitet waren, während im Westen die Grundherrschaft dominierte. Gab es dort wenig Eigenwirtschaft der Grundherren und bestanden die Abgaben in Natural- oder Geldsteuern, mussten die Bauern unter der Gutsherrschaft Frondienste auf der Wirtschaft des Herrn leisten und unterstanden zudem dessen (Patrimonial-) Gerichtsbarkeit. Garve, der die Sommerfrische meist auf den Gütern befreundeter Adliger verbrachte, verdankte sein Wissen über das Leben und Denken der Bauern vor allem den Gesprächen mit diesen Gutsherren und eigenen Beobachtungen.

Garve untersuchte Denk- und Sprachformen der Bauern als Effekt ihrer konkreten Arbeitstätigkeiten, ihrer Abhängigkeit vom Gutsbesitzer und ihrer Kommunikationsverhältnisse untereinander. Ihr Denken beruht auf ihrer Kompetenz als Produzenten, es ist aufgrund seines Erfahrungsbezugs »bon sens«. Auf ihrem Gebiet kann man den Bauern nichts vormachen. Zugleich ist dieser Alltagsverstand beschränkt und versagt gegenüber anderen Wirklichkeitsbereichen, aber auch bei Fragen künftiger Produktionsentwicklung. Ein größeres Hemmnis sei das Misstrauen, das auf den bäuerlichen Erfahrungen mit den Gutsherren beruht. Gegen sie führen die Bauern einen »immerwährenden, geheimen Krieg«. Ihn führen sie mit Apathie, Fatalismus, Arbeitsverschleppung, aber auch Betrug und List und Sich-dumm-Stellen, also mit Formen indirekten Widerstandes, der um so effektiver wird, je mehr die Bauern kooperieren. In dieser sprachlistigen Verstocktheit ähneln sie »gewissen Verrückten, die (…) eine ideam fixam haben«. Selbst wenn Reformvorschläge der Gutsherren auch in ihrem Interesse lägen, wehren sie sie ab, weil sie aus gutem Grund eher mit einer Erhöhung ihrer Frondienste und mit der Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage rechnen. Die Logik seiner Analyse hätte Garve zum Schluss führen müssen, dass man dieses Herrschaftsverhältnis beseitigen muss, um die Produktivität der Bauern zu entfalten. Da Garve aber die apologetische Absicht vorgab, Gutsherren und Regierung zu besseren, effektiveren Obrigkeiten zu machen, versteifte er sich im zweiten und dritten Teil des Bauernessays auf bescheidene Reformvorschläge, deren Wirkungslosigkeit bereits seine Hinweise auf den grundlegenden »Widerspruch« zwischen beiden Klassen verdeutlichen. Die Bauern sind für ihn keine sozialen Subjekte, sondern »in gewisser Maßen immer« Kinder, die von ihren Herren erzogen werden müssen.

Elias, Goethe, Garve

Norbert Elias, wie Garve in Breslau geboren, hat 1936 die Entstehung des reaktionären deutschen Selbstbilds von einer »Kulturnation« im Gegensatz zur westlichen »Zivilisation« mit der spezifischen sozialen Konstellation des 18. Jahrhunderts erklärt: Aufgrund einer fehlenden Großbourgeoisie, deren Habitus mit dem des Adels hätte verschmelzen können, stehen sich in den deutschen Territorialstaaten ein kleinstädtisches Bildungs- und Kleinbürgertum und ein entsprechender Adel in schroffem Gegensatz gegenüber. Dieser Gegensatz wird von den bürgerlichen Intellektuellen literarisch skandalisiert, die Hauptdarsteller ihres ideologischen Szenarios sind der skrupellose adlige Verführer und das unschuldige Bürgermädchen, auf das nach seiner Befleckung nur noch der Ehrenrettungstod wartet. Aufrichtigkeit, Tiefe, Ehrlichkeit und Offenheit sind die Leitwerte dieser Kleinbürger, die der höfischen Welt der Oberflächlichkeit und der »verstellenden Höflichkeit«, der Verführung und der Intrigen, entgegengehalten werden. Dieser soziale Gegensatz, so Elias, werde später zu dem genannten Gegensatz von »Nationalcharakteren« umgeformt.

Ein sprechendes Dokument für diese These wäre die berühmte Rezension aus dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, die die »Polierung« einer Nation kritisiert. In »polierten Nationen« werde die »schiefe« Welt der »schönen Herren und Damen« aufgewertet und der »Naturstoff« einer Nation betäubt. Um sich dieses »Naturstoffes« zu vergewissern, müsse man den Blick richten auf »den Mann in seiner Familie, den Bauern auf seinem Hof, die Mutter unter ihren Kindern, den Handwerksmann in seiner Werkstatt, den ehrlichen Bürger bei seiner Kanne Wein und den Gelehrten und Kaufmann in seinem Kränzchen oder seinem Kaffeehaus«. Was den damaligen Lesern als Inbegriff des Charakteristischen vorgekommen sein mag, hat heute jeden Anflug von Idylle verloren, klingt wie eine Satire. Als Gegner einer solchen »Naturtendenz« nennt Elias den Klassiker Goethe. Er hätte ebenso Christian Garve erwähnen können.

Als Bürger ist Garve davon überzeugt, dass das Bürgertum aufgrund seiner Berufstätigkeit und des dabei erworbenen Wissens die im Vergleich zum Adel »wesentlicheren Eigenschaften« für eine Gesellschaft besitzt, dafür aber im Umgang hinter den Adel zurückfällt. Den Bürgern fehlen die Muße, aber auch die sozialen Beziehungen zu den »Vornehmen«, um ihre Umgangsformen zu perfektionieren. Sie können die Male der Arbeit nicht abstreifen. Ihren Verhaltensweisen fehlen Eleganz und Geschmeidigkeit, gegenüber den Adligen verhalten sie sich schüchtern und affektiert. Unsicher ist auch ihr Geschmack. Sie laden zu kostspieligen Diners ein, aber die Bedienung ihrer Gäste ist »übel«. Sie tragen prächtige, moderne Kleidung, leben aber in altväterlichen Wohnungen. So mischen sich bei ihnen das Gemeine und das Vornehme in der Ausstattung wie in den Ausdrücken ihrer Politesse. Einer klasseninternen Verfeinerung der Sitten steht oft die Konkurrenz im Weg, die die Kommunikationsbereitschaft behindert.

Demgegenüber lernt der Adlige Sittenverfeinerung, Geschmack und Eleganz von Kindesbeinen an. Für diese nicht arbeitende Klasse ist der Umgang ihr »Geschäft«, eine Kunst, die sie durch Übung erlangen und pflegen. Unter den Adligen herrscht ein Ton der relativen Gleichheit, der Vertrautheit und des Wohlwollens. Sie sind freimütig, ohne zu verletzen, sie verbinden Aufmerksamkeit mit Achtung, beherrschen die Kunst der ungezwungenen Bescheidenheit ohne Aufdringlichkeit, sind kenntnisreich ohne Anmaßung, können streiten, ohne bitter zu werden oder Erbitterung hervorzurufen, sie sind von einnehmender Freundlichkeit. Wie Goethe sah Garve in der »verstellenden Höflichkeit« nicht nur Unehrlichkeit und List, sondern lobte sie als eine Form der Rücksicht und des Taktes. Es dient dem »Vergnügen vieler«, wenn der angenehme Gesellschafter seine Eigenheiten und Launen zurückstellt und die Vermeidung von Brüskierungen zu seiner zweiten Natur geworden ist. Wer derart »aus dem Stande der Rohheit« getreten ist, bewegt sich sicher in den nötigen und wohltuenden »Schranken der Höflichkeit«. Soweit Garves Idealgemälde von adligen Umgangsformen.

Garve hoffte, dass das Bürgertum sich das, was an der Lebensart der vornehmen Welt gut ist, zu eigen machen werde. Voraussetzung wäre ein Stand der Kapitalakkumulation, der den Bürgern die Zeit für die Verfeinerung ihrer Sitten verschafft, ohne ihre wirtschaftliche Position zu gefährden. Garve kannte durchaus auch das »Untere der Karte« adliger Politesse. Wer außer den Erzeugern des agrarischen Mehrproduktes den Preis für den geschliffenen Umgang zahlt, illustrierte er an einer Jugendepisode seines Freundes Carl J. Paczensky. Als diesen seine Kavalierstour nach Genf führte, überwältigte ihn die »volle Gewalt« der Leidenschaft. Selbstgefällig berichtete der Gutsbesitzer später davon, dass er sich zur Entsagung durchgerungen und Genf plötzlich verlassen habe, denn seine Angebetete war »von mittelmäßigem Herkommen und zweideutigem Rufe«. Garve hätte sich jedoch in seiner fortschrittsoptimistischen Hoffnung auf eine gelungene Zivilisierung der Bürger nicht vorstellen können, dass dereinst 200 Kilometer südöstlich von seiner Geburtsstadt entfernt kulturbewusste deutsche Akademiker bei klassischer Musik dinieren würden, während gleichzeitig die Leichen unzähliger Ermordeter den Verbrennungsöfen zugeführt wurden.

Hans Otto Rößer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 1. September 2025 über den nordirischen Sänger und Songwriter George Ivan »Van« ­Morrison: »Kleine Kunst, wilde Nacht«

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