Wachstum nicht erwünscht
Von Roberto-Antonio Sanchino Martinez
Marx war am Ende seines Lebens kein Sozialist mehr. Genau genommen war er kein Ökosozialist mehr, sondern Degrowth-Kommunist (Degrowth, rückläufiges oder Negativwachstum, jW). So lautet zumindest die steile These des japanischen Philosophen und Marx-Forschers Kohei Saito in seinem neu auf Deutsch erschienenen Buch »Marx im Anthropozän«.
Das übergreifende Projekt von Saitos Arbeiten ist die Systematisierung und Rekonstruktion der ökologischen Dimension im Werk von Marx. In dem vorliegenden Buch verhandelt er verschiedene Themen der (öko-)marxistischen Debatte der letzten Jahre, womit es sich eher an ein Fachpublikum richtet. Saitos Neubewertung von Marx findet sich vor allem im letzten Drittel des Buches.
Seine Argumentation stützt sich auf erst in jüngerer Zeit zugänglich gewordene Manuskripte, Notizen und Exzerpte der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Saitos Zugang zum Marxschen Denken konzentriert sich auf die letzten 15 Jahre im Leben von Marx. Saito betont die intensive Beschäftigung mit Naturwissenschaften und ethnographischen Studien, die – nach Ansicht von Saito – verschiedene Aspekte seines Denkens durch ihre ökologische Dimension in neuem Licht erscheinen lässt. Insbesondere die Untersuchung vorkapitalistischer Gesellschaften habe Marx dazu gebracht, seine Vorstellung von historischem Fortschritt in Frage zu stellen. Daher sei auch der Charakter von Marx’ kommunistischem Projekt neu zu beleuchten. Dieses habe er zu seinem Lebensende reformuliert, und diese Reformulierung wird von Saito als Degrowth-Kommunismus beschrieben.
Saito entwickelt dieses Konzept in Opposition zum Begriff des Ökosozialismus. Unter dieser Bezeichnung wird Marx gemeinhin eine Haltung zugeschrieben, die seine sozialistische Vision als eine Gesellschaft beschreibt, in der sich durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse eine rationale Kontrolle des Mensch-Natur-Stoffwechsels und somit eine nachhaltige Gesellschaftsform realisieren ließe. Saito meint nun entdeckt zu haben, dass Marx nach dem ersten Band des »Kapital« diese Idee hinter sich gelassen habe und zuletzt Degrowth-Kommunist geworden sei. Die zentrale praktische Differenz liege in ihrem Verhältnis zur Frage des Wachstums in der postkapitalistischen Gesellschaft: Während der Ökosozialismus eine Steigerung des Wirtschaftswachstums nicht ausschließe, gehe der Degrowth-Kommunismus davon aus, dass »Wachstum auch im Sozialismus weder nachhaltig noch wünschenswert« sei.
Saito leitet das aus einer Interpretation jener Exzerpte und Briefwechsel ab, in denen sich der späte Marx dem Studium von Naturwissenschaften und vorkapitalistischen Gesellschaften widmet. Marx habe insbesondere durch das Studium der germanischen Markgenossenschaft und der russischen Dorfgemeinde erkannt, dass diese vorkapitalistischen Gesellschaftsformen überlegen darin waren, Nachhaltigkeit und soziale Gleichheit zu verbinden. Zentral dafür sei eine stationäre Produktion – eine Wirtschaft ohne Wachstum – gewesen, die nichtexpandierend und zirkulär organisiert war. Durch diese Entdeckung habe Marx mit seinem bisherigen Denken gebrochen. Nicht mehr der »kapitalistische Westen« sei das Vorbild der historischen Entwicklung, sondern die vorkapitalistischen Gemeinschaften. Marx letzte Vision der postkapitalistischen Gesellschaft sei daher laut Saito ein Degrowth-Kommunismus: eine stationäre Wirtschaftsform, die auf genossenschaftlichem, demokratisch verwaltetem Gemeineigentum fußt. Hier käme es zu einer Entkoppelung von Wachstum und Reichtum, da dieser qualitativ neu definiert würde.
Saito zeigt auf, wie fruchtbar das Marxsche Denken ist, um die kapitalgetriebene Naturzerstörung zu verstehen und Lösungen zu skizzieren. Ob die Skizze, die Saito bei Marx entdeckt haben will, wirklich dessen Werk ist, darf man aber bezweifeln. Zu dünn ist die textliche Basis, wenn von einigen Abschriften und Briefentwürfen darauf geschlossen wird, Marx habe Grundpfeiler seines Denkens umgeworfen, ohne das selbst jemals ausgesprochen zu haben. Saito konstruiert letztlich ein Schwarzweißbild, das den angeblich deterministischen, eurozentrischen und produktivistischen Marx des »Kapital« dem späten Marx gegenüberstellt.
Hinter dieser einseitigen Behandlung des Marxschen Werkes steht eine politische Motivation. Der historische Materialismus sei heute nämlich »unpopulär« – es muss also ein »neuer« Marx her. Ein Marx, der dazu dienen soll, »Grün und Rot in Einklang zu bringen«. Als Formel dafür präsentiert Saito den Degrowth-Kommunismus. Der trägt bei näherem Hinsehen jedoch mehr die Handschrift von Saito als die von Marx.
Kohei Saito: Marx im Anthropozän. Ideen für die postkapitalistische Gesellschaft. DTV, München 2025, 556 Seiten, 20 Euro
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