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Aus: Ausgabe vom 15.09.2025, Seite 8 / Ausland
Dokumentarfilm »Dargeçit«

»Wir wollten die Suche nach Wahrheit begleiten«

Dokumentarfilm über Verschwindenlassen und Straflosigkeit in der Türkei ist auch in der BRD zu sehen. Ein Gespräch mit Berke Baş
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Der Film begleitet Anwälte und Hinterbliebene der Verschwundenen, die stundenlang zu jedem Anhörungstermin des 2015 begonnenen Prozesses reisten

Ihr jüngster Film »Dargeçit« dokumentiert den beharrlichen juristischen Kampf gegen die Straflosigkeit auch Jahrzehnte nachdem Menschen ihre Angehörigen durch Verschwindenlassen verloren haben. Wie sind Sie auf die Geschichten gestoßen?

Der Film ist eine Fortsetzung der Arbeit des in Istanbul ansässigen Anwaltsbüros Hafıza Merkezi, das seit 2011 Fälle von »Verschwindenlassen« in der Türkei dokumentiert, archiviert, juristisch begleitet und einer breiteren Öffentlichkeit vermittelt. In Dargeçit, einem Landkreis in der Provinz Mardin, verschwanden zwischen dem 29. Oktober 1995 und dem 8. März 1996 sieben Zivilisten, darunter drei Kinder, und ein Unteroffizier. Erst 2014, also 19 Jahre später, wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet. Das Hafıza Merkezi hat das intensiv begleitet und dabei enge Beziehungen zu den Familien und deren Rechtsbeistand aufgebaut. 2017 äußerten die Familien den Wunsch, einen Dokumentarfilm über ihren juristischen Kampf zu drehen. Uns war wichtig, die Ereignisse nicht als längst vergangene Geschichte darzustellen, sondern als bis heute andauernden Kampf um Gerechtigkeit, der auf neue staatliche Gewalt in Form von Straflosigkeit stößt.

Sie haben die Familien viele Jahre lang begleitet. Welche Zweifel kamen Ihnen während deren langem und oft schmerzvollen Prozess?

Wir konnten nur sieben Jahre an einem Kampf teilhaben, der inzwischen seit drei Jahrzehnten andauert. Der unermüdliche Einsatz der Familien und ihrer Anwältinnen war unsere größte Ermutigung. Gleichzeitig hatten wir ständig die Sorge, ob wir diesem Thema in all seinen Facetten gerecht werden können. Wir wollten ihre beharrliche Suche nach Wahrheit aus nächster Nähe begleiten, ohne sie zu drängen, und nur das teilen, was sie selbst mit uns teilen mochten. Die vielen Reisen zu den Verhandlungen, das Ignorieren durch Angeklagte, Anwältinnen und Richterinnen, die offensichtliche Verzögerungstaktik der Gerichte: All das war für die Familien extrem zermürbend.

Sie zeigen nicht nur individuelles Leid, sondern auch die systematische Leugnung der Wahrheit durch staatliche Institutionen. Was sagt dieser Prozess mehr als 25 Jahre später über die heutige Türkei?

Für uns war zentral, diesen Prozess so darzustellen, wie er tatsächlich ablief. Ebenso wichtig war uns, die Verbindung zum kurdischen Konflikt herzustellen, in dem bis heute eine gerechte Friedenslösung aussteht. Wir wollten einen Film schaffen, der sinnbildlich für viele andere Prozesse zu Menschenrechtsverletzungen steht. Uns ging es darum, die Familien und Anwältinnen und Anwälte selbst über ihre Erfahrungen sprechen zu lassen. Wir hoffen, damit die Dimensionen des Verschwindenlassens und den inzwischen systematisch gewordenen Mechanismus der Straflosigkeit sichtbar gemacht zu haben.

Bisher wurde Ihr Film in einigen europäischen Metropolen gezeigt. Welche Reaktionen erwarten Sie vom deutschen Publikum?

Er wurde bereits über 40 Mal in der Türkei gezeigt und bei diesen Vorführungen reisten die Angehörigen der Verschwundenen häufig mit, um ihre Erfahrungen direkt mit dem Publikum zu teilen. Unser Film wurde im Ausland bislang nur vereinzelt präsentiert, nun planen wir die Vorführungen in Deutschland. Ab dem 5. Dezember wird er in Köln, Bochum, Leverkusen und Dortmund zu sehen sein. Ich und einige Angehörige, die mittlerweile in Nordrhein-Westfalen leben, werden anwesend sein.

Arbeiten Sie bereits an neuen Projekten?

Als wir mit diesem Film begannen, hatten wir bereits zwei weitere Fälle in ­Cizre und Lice untersucht und auch dazu gedreht. Wir träumen davon, dieses Material um neue Recherchen und Aufnahmen zu ergänzen und einen weiteren Dokumentarfilm daraus zu entwickeln. Auch diese beiden Prozesse endeten mit Freisprüchen, gerade deshalb sind die Interviews und die mit uns geteilten Erfahrungen so wertvoll. Unser Ziel bleibt, Kämpfe um Gerechtigkeit filmisch sichtbar zu machen.

Berke Baş ist Regisseurin. Ihr jüngster Dokumentarfilm »Dargeçit« erschien 2024 und wird international unter dem Titel »Hold Still« vermarktet. Er handelt vom Kampf der Hinterbliebenen von sieben 1995 Verschwundenen gegen die Straflosigkeit in der Türkei

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