Ins eigene Knie
Von Peter Merg
Der Streit über die Ausladung der Münchner Philharmoniker wegen ihres israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem belgischen Festival ist im vollen Gange, da kommt bereits die nächste Boykottmeldung: Sollte im kommenden Jahr zum Eurovision Song Contest (ESC) in Wien ein israelischer Teilnehmer antreten können, will der irische Rundfunk auf seinen Startplatz verzichten. Das teilte der öffentlich-rechtliche Sender RTÉ am Freitag mit. Grund sei die verbrecherische israelische Kriegführung gegen Gaza.
Wir haben an dieser Stelle schon häufiger beklagt, dass sich im Kulturbetrieb – und sei es aus noch so ehrenwerten Motiven – die nur scheinbar politischen Aktionsformen Boykott und Canceling wachsender Beliebtheit erfreuen. Dagegen nehmen sich die notorisch wirkungslosen offenen Briefe, die derzeit eine Renaissance erleben, harmlos aus. Nicht so Ausladung, Aussperrung und Ausgrenzung, machen sie doch die betroffenen Künstler haftbar für die Politik der Regierungen ihrer Herkunftsstaaten. Wem es an die Nieren geht, dass Russland Krieg gegen die Ukraine führt, verlangt die Verbannung russischer Künstler, so lange diese sich nicht »glaubwürdig distanzieren«. Wer nach dem 7. Oktober 2023 erschüttert war, mit welchem Gleichmut vielerorts auf die gemordeten israelischen Zivilisten geblickt wurde, fordert das Canceling von Palästinensern. Wer entsetzt ist, wie die IDF fortgesetzt palästinensische Zivilisten aushungert und massakriert, fordert die Ausgrenzung israelischer Akteure in Kultur, Wissenschaft und Sport. In all diesen Fällen werden Individuen für Taten verantwortlich gemacht, auf die sie wenig bis keinen Einfluss haben. Es sind Fälle von Sippenhaftung und Kollektivbestrafung, im Kern vormoderne Formen der Vergeltung, gemeint als Gesten der rechten Gesinnung.
Schon prinzipiell gilt: Wer für sich selbst Meinungsfreiheit einfordert, darf nicht Bekenntniszwang ausüben, ohne doppelte Standards anzulegen. Zudem betreibt, wer Staatsangehörige mit der Politik ihres Staates identifiziert, das Geschäft von dessen Regierung. »Wenn man die Regierung Netanjahus mit allen jüdischen Israelis – unabhängig ihrer politischen Haltung – praktisch gleichsetzt, ist man schon sehr nah an Antisemitismus. Die Mehrheit stellt sich gegen den Krieg und die Vertreibung der Palästinenser in Gaza. Auch Lahav Shani stellt sich gegen dieses Vorgehen. Diese Leute zu bestrafen ist, ungeachtet der Frage des Antisemitismus, einfach moralisch falsch«, kommentierte der Historiker Meron Mendel zu Recht den Fall Shani. Niemand wird ernstlich erwarten, dass auch nur eine Bombe weniger auf Gaza oder Kiew fällt, weil Shani nicht in Gent und der Russe Waleri Gergijew nicht in München dirigiert. Statt dessen verstärkt es Isolation und Agonie der kritischen Kräfte in beiden Ländern.
Wer also heute dem RTÉ und dem Festival von Flandern applaudiert, darf sich nicht nur nicht beklagen, wenn er selbst mit Leuten in einen Sack gesteckt wird, mit denen er nichts zu schaffen hat – er darf sich auch nicht wundern, wenn sich an den Zuständen, die er bekämpfen will, wenig ändert. Aber manche lieben es offenbar, sich ins eigene Knie zu schießen. Es knallt so schön.
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