Gegründet 1947 Dienstag, 9. September 2025, Nr. 209
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 06.09.2025, Seite 12 / Thema
Filmgeschichte

Die Prämisse ist alles

Vor 25 Jahren betrat der Regisseur Christopher Nolan die Weltbühne. Die Premiere seines Films »Memento« hat eine eigene Art Kino eröffnet
Von Felix Bartels
12-13.jpg
Selbst wie ein Zauberkünstler. Christopher Nolan am Set des Magierfilms »The Prestige«, rechts: Hugh Jackman

Was zur Hölle ist ein MacGuffin? Fragt Truffaut, und Hitchcock antwortet: Ein Ding, das für die Figuren wichtig ist, nicht für den Zuschauer. Damit war ein elementares dramaturgisches Prinzip formuliert: Handlung benötigt keinen genauer ausgeführten Inhalt, es reicht, wenn er in ihr behauptet wird. Es geht um die Menschen, die um das Ding handeln. Die Weinflasche in »Notorious«, die »Rosebud« formenden Lippen in »Citizen Kane«, der obskure Godot bei Beckett, der leuchtende Koffer in »Pulp Fiction« – nie wird geklärt, was es damit eigentlich auf sich haben soll. In Dürrenmatts »Physiker« erfährt man, dass Möbius’ Gleichung die Menschheit vernichten würde, ihre physikalische Form bleibt im Dunkeln.

Nun wäre auch eine Dramaturgie denkbar, in der die Erklärung gerade den Zweck der Handlung ausmacht. Ein Kino, das ihr folgt, kann ebenso packend sein, es stünde bloß am anderen Ende des Spektrums, mit denselben Abläufen, aber invertiert. Eben das scheint Christopher Nolan, seit er tun kann, was er tun will, zu beabsichtigen. Als Vertreter eines expliziten Prämissenkinos ist der Gegenstand bei ihm nicht bloß wichtig, er ist alles.

Genaue 25 Jahre ist es her, dass Nolan die große Bühne betrat: am 5. September 2000 mit dem Low-Budget-Hammer »Memento« bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Über Nacht war sein Name geläufig. Bis dahin hatte er einen Langspielfilm gedreht, »Following« (1998), beachtlich, doch kaum beachtet. Montage als nicht bloß szenisch-visuelles Mittel, als Prinzip dramatischer Darstellung vielmehr – der Zuschauer muss die Fragmente der Handlung zur Handlung zusammensetzen –, deutete sich hier bereits an. Ein klassisches Hitchcock-Setting, ergänzt durch Surprise-Elemente und mit Noir-Schluss. Doch die Reveals waren dort noch konventionell, das Geschehen läuft einfach geradeaus. »Memento« dagegen bot eine invertierte, sich der Fabel entgegensetzende Erzählweise dar. Das Andeuten weiteren Sinns durch Montage sollte Prinzip der späteren Werke werden. Was damals noch fehlte, war das Greater-than-life-Konzept, ein naturwissenschaftlich-metaphysisch-magisches Szenario, das den Zuschauer zwingt, über die gezeigte Begebenheit hinaus gleich die ganze Welt mit anderen Augen zu betrachten. Ein solches Szenario braucht höheres Budget, der Erfolg von »Memento« wurde zur Grundlage der kommenden Würfe.

Einer für euch, einer für mich

27 Jahre, zwölf Filme. Nolan nimmt sich Zeit, vor allem beim Schreiben. Zwischen Dreh und Drehbuch liegen Jahre, oft ist die Idee deutlich älter noch, mit den Jahren im Künstler herangewachsen. Den Einfall zu »Dunkirk« etwa soll Nolan 20 Jahre vor dem Beginn der Dreharbeiten bei einer Fahrt über den Ärmelkanal gehabt haben, Mitte der Neunziger. Das erschwert ein wenig, seine Filme anhand von Releasedaten als Gewächse ihrer Zeit zu entschlüsseln. Retrospektiv hat man »Memento« in die Reihe der Mindgame-Movies geordnet, die um die Jahrtausendwende auftraten. In »Fight Club«, »Matrix«, »The Sixth Sense« oder »A Beautiful Mind« steht weniger die Story als vielmehr das Rätsel um Welt und Wahrnehmung im Vordergrund, wie eben auch in »Memento«. Doch Nolan bewältigt das Mindgame zudem formal, verlässt sich nicht nur aufs Twisten. Erzählgeschehen und erzähltes Geschehen unterscheiden sich. Portioniert in 44 Sequenzen, laufen zwei Erzählstränge aufeinander zu, der eine vorwärts, der andere rückwärts in der Zeit, wie später in »Tenet«. Am Beginn werden Anfang und Ende erzählt, am Ende treffen sich die beiden Erzählungen in der Mitte. Der Erfolg des Films liegt in dieser nicht wiederholbaren Einmaligkeit.

Was Nolan die Tür zur Blockbusterindustrie öffnete. Warner Bros. trat mit konventionellen Projekten an ihn heran, »Insomnia« (2002) und die »Dark Knight«-Trilogie (2005, 2008, 2012) waren für das breite Publikum gedacht, für Nolan bedeuteten sie Etablierung und daraus folgende Freiheit. Von Produzenten und Marktforschern, dem Korsett von Vorlagen oder Franchises. Eine Zeitlang pendelt er nach dem Prinzip »One for you, one for me«. Auf »Batman Begins« folgt »The Prestige« (2006), auf »The Dark Knight« »Inception« (2010), auf »The Dark Knight Rises« »Interstellar« (2014). Danach macht er nur noch, was er will. Nach »Tenet« (2021) trennt Nolan sich von Warner Bros. und kooperiert künftig mit Universal Pictures, die Verschiebung des Schwerpunkts vom Kino zum Streamen wollte der genrebewusste Künstler nicht akzeptieren. Film erfordert Kino als Dispositiv, als Institution und gesellschaftliches Ereignis, als Raum zudem, in dem die visuellen und auditiven Künste sich voll entfalten können. »Dunkirk« etwa erzählt seine Geschichte vor allem über den wuchtigen Sound, der im Heimkino auf Schwundstufe gebracht wäre. Man täte Nolans Publikumsfilmen indessen unrecht, betrachtete man sie lediglich als Sprungbrett. Auch in Gotham City und Nightmute schon wurde die Kluft zwischen Blockbuster und Independent geklammert. Wie Nolan überhaupt, auch in den genuinen Werken, die sonderbare Gabe beweist, den Teil des Publikums zusammenzubringen, der eher am Dargestellten interessiert ist, mit dem, der sich mehr für die Darstellung interessiert.

Was die Publikumsfilme von den genuinen Projekten unterscheidet, ist der vorsichtigere Einsatz inszenatorischer Mittel, und es fehlt das High Concept. Nolans Kino liegt stets eine tragende Idee zugrunde, ein Was-wäre-wenn, das in einer Originalstory verpackt wird. Die Idee ist immer neu. Entsprechend verzichtet er auch auf Fanservice und Anspielungen. Problemlos hätten etwa in »Interstellar« effektheischende Bildzitate plaziert werden können, ein Matchcut zum Beispiel, der an Kubricks »2001« erinnern soll.

Das Bemühen um gedankliche und dramaturgische Originalität ist im Prämissenkino folgerichtig. Nolan erzählt nicht einfach an einem Stoff entlang, der Stoff selbst wird zur Erzählung. Gleichwohl verliert er sich nicht in seinen Stoffen. Form und Stoff gehen ineinander auf, so dass auf drei Ebenen nichts dem Zufall überlassen bleibt: der philosophischen, der dramaturgischen und der inszenatorischen. Was auf einer passiert, hat Folgen für die anderen – Gedanke, Erzählung und Inszenierung sind feinteilig verflochten und fortwährend miteinander im Gespräch. In dieser Stärke kann man auch eine Schwäche sehen. Selten sind Nolan-Charaktere echte Charaktere, die strenge gedankliche und formale Konstruktion lässt das nicht zu. Die Figuren gleichen mehr Schachfiguren als Menschen, nicht der einzelne Charakter zählt, es zählt das große Spiel.

Zu Vorwalten der Logik und Reduktion des Sentiments passen dann auch die Welten der Filme. Der Erzähler als Maschinist, die Storys spielen sich ab im Milieu von Naturwissenschaft und Technik. Doch auch hier, analog zum Verhältnis von Material und Form, versinkt Nolan nicht in Positivismus. Es ist gerade das Nebeneinander von Zahnrädern, Infusionsschläuchen, Drehkreuzen, Plattenkameras, Uhren, Stahlwänden, schwarzen Löchern, Geigerzählern und Wechselstrom auf der einen und den großen, spekulativ-philosophischen Ideen auf der anderen Seite, die zugleich in diesen Stoffen liegen und über sie hinausreichen sollen in Bereiche, die sich nicht in Daten auflösen lassen. Nolans Filme scheinen vollständig aus irdischem Material gebaut, während sie beharrlich dem entgegen ein Greater than life andeuten, das auf der Handlungsebene erzeugt werden muss. Philosophie, aus Zahnrädern gewachsen, wird Ereignis.

Und natürlich steht auch seine Neigung zu exzessiven Expositionen damit im Zusammenhang. Kritiker erwähnen gelegentlich, er missachte die Show-don’t-tell-Regel. Explizites Prämissenkino allerdings, das eine Was-wäre-wenn-Welt voraussetzt, muss Zeit aufs Erklären verwenden, da ein Was-wäre-wenn gerade nicht vorausgesetzt werden kann. Zudem lässt Nolan seine Figuren nie einfach bloß dozieren. Er zeigt zugleich, worüber sie reden. Show und tell schließen sich nicht aus.

Parallele Geschichten

Der visuelle Stil – Look, Ausstattung, Szenenbild – hat was von Steampunk. Paradoxerweise, denn Punk scheint dem Mann, dessen Protagonisten in Dreiteilern vom besten Londoner Herrenausstatter über die Leinwand laufen, durchaus fremd. Was an Steampunk erinnert, ist das Nebeneinander fortgeschritten technischer Fähigkeit und traditionell anmutender Technologie. Der Shabby­look bei »Interstellar«, die antiquierten Schläuche bei »Inception«, die invertierten Artefakte in »Tenet«, der julesvernehaft-viktorianische Stil in »The Prestige«, es fehlt tatsächlich bloß noch ein Raumschiff, das mit Dampfantrieb zum Neptun aufbricht. Nolan erzählt das Digitale im Analogen, zeigt das Moderne in Retro. Dieses Nebeneinander ermöglicht die Darstellung des erwähnten Nebeneinander von Materialität und großer Idee. Vintage macht Technik poesiefähig. Indem sie einerseits analog bleibt nämlich und andererseits Unwirkliches, Übernatürliches, Utopisches bewirkt.

Und wie seine Filme zugleich von gestern und morgen sind, kreiert der Filmhandwerker visuelle Effekte, die Science-Fiction bildlich machen und dennoch dem Repertoire des klassischen Handwerks entnommen sind. CGI kommt, wenn überhaupt, nur in der Postproduktion zum Einsatz, beim behutsamen Nachbearbeiten. Er bevorzugt analoge Kameratechnik, dokumentarische Beleuchtung, filmt an echten Schauplätzen, baut aufwendige Sets und Modelle, er dreht, wie seine Oma gesagt haben würde, noch von Hand.

Desgleichen gilt vom Montageprinzip, dass es sich nicht nur im filmischen Ergebnis zeigt, sondern bereits in der Arbeitsweise. Nolan, wäre zu erinnern, erzählt seine Storys selten von Anfang nach Ende. Er zerlegt Geschehen und ordnet es neu an. Der Zuschauer folgt also nicht einfach einer Reihe von Ereignissen, um sich dann einen Reim darauf zu machen, er muss zunächst das Geschehen aus der Darstellung rekonstruieren, um sich dann nicht nur das Geschehen erklären zu können, sondern auch die Beziehung des Geschehens zur Montage. Damit erzählt Nolan eigentlich stets zwei Geschichten parallel. Eine, die sich begeben haben soll, und eine, die sich aus der Art ergibt, wie sie erzählt wird. Wenn man etwa Informationen zurückhält oder sie vorwegnimmt und anschließend die frühere Handlung weitererzählt, verändert sich die Handlung, weil im Kopf des Zuschauers neue Bezüge entstehen, die Geschichte sich neu offenbart. Was die kleinen Aha-Momente unterwegs ebenso betrifft wie die großen Reveals am Ende. Durch sie offenbart sich aber nicht nur die eigentliche Story, die Irreführung davor wird selbst Teil der Story. Entsprechend haben Rückblenden und Prospektiven bei Nolan eine andere Funktion als üblich, wenn sie der Langeweile aus Sehgewohnheit begegnen sollen, die sich im heutigen Publikum bei Erzählungen von Anfang nach Ende fast zwingend einstellt.

Man hat seine Art Regieführung als »editing driven« bezeichnet. Das soll mehr bedeuten als bloß den Umstand, dass Film nicht schon im Dreh, sondern recht eigentlich erst in der Postproduktion, am Schneidetisch entsteht, was von jedem Filmwerk gilt und mit Eisensteins Darlegungen zur Montage bewusst gemacht wurde. Filme werden nicht gedreht, sie werden geschnitten. Cutting vollzieht sich bei Nolan aber über die einzelnen Szenen hinaus auch an den Sequenzen, ist mehr als visuelles, eben auch dramatisches Mittel. Die drei Phasen Drehbuch/Konzeption – Dreharbeit – Postproduktion/Schnitt bekommen derart ein anderes Verhältnis. Nolans Drehbücher sind komplexe Konzepte mit Varianten und Abwandlungen, sie gleichen eher einem Board von Handlungsmöglichkeiten. Im Dreh werden diese Varianten in den Kasten gebracht. Der Film als integre Story entsteht erst im Schnitt. Was zwischen ideeller Konzeption (Drehbuch) und künstlerischer Montage (Schnitt) liegt, ist die Herstellung eines Rohstoffs.

Spiel mit der Zeit

Allerdings gerät Nolans Schneiden, wie gesagt, auch zum Zerschneiden. Die wichtigste Verbündete dabei ist die Zeit. In den meisten seiner Filme spielt der Regisseur mit dem menschlichen Verständnis und Erleben von zeitlichen Abläufen. Man kann hier unterscheiden zwischen Zeitmontagen, die die Darstellung betreffen, und solchen, die Teil der Handlung sind. Zur ersten Sorte zählen die Realien und Historien: »Memento«, »Dunkirk« und »Oppenheimer«. In diesen Filmen wird eine ganz diesseitige Geschichte erzählt, aber auf nichtdiesseitige Weise. Zeit wird gestreckt, gestaucht, umgekehrt oder gewechselt. Zur anderen Sorte gehören »Inception«, »Interstellar« und »Tenet«. Hier ist Manipulation von Zeit Teil der Handlung und erzählten Welt: Sie wird gestreckt, gestaucht, verkehrt. Zwischen beiden Gruppen steht die scheinbare Historie »The Prestige«, die aufgrund ihrer phantastischen Elemente nicht zu den Realien gezählt werden kann, deren Zeitmontage aber dennoch auf der Darstellungsebene bleibt.

Nicht immer folgt die Montage einer größeren philosophischen Idee. Mitunter geht es, nachgerade impressionistisch, um den Eindruck der Welt, ihr Erleben durch das Ich. In »Memento« um die Flüchtigkeit des Erinnerns, in »Dunkirk«, vermittelt vor allem durch den dröhnenden Sound, um das Erleben des Kriegs gleich einer Naturkata­strophe. Beide Filme sind eher formal motiviert, weniger intelligibel, was in diesen Fällen durchaus eine Stärke ist. Gegen das pseudotiefe Gelaber von Coppolas Captain Willard wirkt »Dunkirk« angenehm unprätentiös. Gleichwohl haben auch diese beiden eher impressionistischen Werke dasselbe elementare Thema wie die explizit philosophischen Greater-than-life-Filme »The Prestige«, »Inception«, »Interstellar«, »Tenet« und »Oppenheimer«: Der Mensch und die größere Welt, der eher noch, als deren Gesetze zu verstehen, verstehen muss, dass er sich ihnen nicht entziehen kann. Wollte man einen roten Faden in Nolans Werken finden, wäre es vielleicht das.

Die elementare Idee dient im Prämissenkino nicht einfach als Prämisse. Nicht einfach als Mittel, eine Handlung zu erzählen, da ja die Handlung zum Mittel wird, die Idee zu erzählen. In »Tenet« hat Nolan eine Art Science-Fiction-Bond geschaffen, dem eine physikalische Prämisse zugrunde liegt: die Aufhebung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Er nutzt umgekehrt die Bond-Story, seine physikalische Was-wäre-wenn-Idee vorzustellen, und damit wird man auch andere Maßstäbe an den Film legen müssen. Die Prämisse eines Films darf Quatsch sein, sie wird innerhalb einer Filmhandlung akzeptiert, solange das Publikum den Eindruck hat, dass das Primat bei Story und Charakter liegt. Merkt man, dass das Primat bei der Idee liegt, muss die Idee als Idee tragen. Das scheint Nolan nicht immer gelungen zu sein. »Tenet« war in der Beziehung, aller Gewieftheit und inszenatorischen Klasse zum Trotz, ein Missgriff. Eine invertierte Entropiebeziehung würde die thermodynamischen Prozesse des invertierten Körpers umkehren, die umgekehrte Zeit also durch ihn jagen, nicht ihn umgekehrt durch die Zeit. Die Figuren verlieren sich dann in umständlichen Erläuterungen, bis nach faulster Somehow-Palpatine-returned-Masche der Satz fällt: »Don’t try to understand it.«

Interessant bleibt der Gedanke von Ereignissen der Vergangenheit, die erst dadurch verursacht werden, dass man sie von der Zukunft aus zu verhindern sucht, und wenn am Ende Neil und der Protagonist zugleich am Anfang und am Ende ihrer Freundschaft stehen, erinnert diese zeitliche Verschränkung von Trauer und Freude an »Interstellar«, wo Cooper am Ende seiner Reise durch die Bücherwand des vierdimensionalen Raums auf die Murphy vom Anfang seiner Reise trifft. Trauer und Freude, zwischen denen Jahrzehnte liegen, sind auch hier ganz nah beieinander: Vater und Tochter getrennt durch eine schmale Barriere, Coopers Ohnmacht, in diesem Moment nur das bewirken zu können, was längst schon geschehen ist.

Wie überhaupt auffällt, dass Nolan häufig Motive aus früheren Filmen wieder anklingen lässt. Die invertierte Kugel hatte er schon 20 Jahre vor »Tenet« in der Eröffnung von »Memento« inszeniert. Aber dort wird der reale Ablauf bloß verkehrt dargestellt, wie der ganze Film einer verkomplizierten König-Ödipus-Dramaturgie folgt – das Verbrechen ist schon geschehen und wird retrospektiv rekonstruiert –, während die Zeitumkehr in »Tenet« physischen Charakter erhält, als Bedrohung der gegenwärtigen Menschheit durch die künftige, die den Planeten ökologisch zerstört hat. Auch das hatte Nolan bereits, in »Interstellar« wiederum. Nur dort schickt die künftige Menschheit der gegenwärtigen ein Mittel, ihr (und sich) aus der Krise eines zerstörten Planeten zu helfen. In »Tenet« will sie nur sich selbst retten, obwohl das logischerweise nicht geht, die Vernichtung ihrer Vorfahren wäre auch ihre eigene. Es ist nicht relevant, heißt es dann, dass dieses Kalkül der Zukunftsmenschen nicht aufgehen wird, entscheidend ist, dass sie es glauben.

Aufbruch in neue Verhältnisse

Was die Menschheit kann und was sie tut, fällt bei Nolan oft auseinander. In »Interstellar« reist man zu anderen Sonnensystemen. Die technisch viel einfachere Aufgabe, natürliche Ressourcen so zu nutzen, dass die Erde nicht zugrunde geht, wird aber nicht bewältigt. Es scheint da gerade um die Story des Tipping Points zu gehen, um eine Zeit, wo so viel im Geosystem zerstört wurde, dass das System von der besten Technik der Welt nicht mehr gerettet werden kann. Was die Technik kann, ist ihren eigenen Weg fortspinnen, der statt die alte Welt zu reparieren zu einer neuen Welt führt. Das bezeigt bloß vordergründig den nordamerikanischen Traum, demnach man einfach ein Stück weiter nach Westen gehen muss, wenn der Raubbau an der Erde hier nicht länger funktioniert. Metaphorisch lässt es sich besser verstehen als Aufbruch in neue Verhältnisse. Wer die Krise des Planeten lösen will, muss fundamental, umwälzend denken. In der Welt von »Interstellar« haben die politischen Kräfte eine rigide ideologische Herrschaft errichtet, die Raumfahrt und Lösungen jenseits der gegebenen Welt leugnet. Die Überzeugung, die Mondlandung habe stattgefunden, gilt als Verschwörungstheorie. So scheint Nolan von einer spätkapitalistischen Welt zu berichten, die sich im Sterben liegend von einem Utopieverbot letzte Stabilität erhofft.

Dass die Menschheit can’t get its shit together, ist auch das Thema in »Oppenheimer«. Der Film eröffnet mit dem Prometheus-Motiv: der Titan, der den Menschen das Feuer brachte. Feuer – nützlich und gefährlich zugleich – dient als Allegorie für die Atombombe. Mit der Kernspaltung hat die Menschheit einen Punkt erreicht, an dem ihre Fähigkeiten ihre Träume übersteigen. Zuvor verhielt es sich umgekehrt. Nolan hatte den Gedanken mehr oder weniger schon 17 Jahre früher. In »The Prestige« sagt Nikola Tesla: »You’re familiar with the phrase ›Man’s reach exceeds his grasp‹? It’s a lie: Man’s grasp exceeds his nerve.« (Kennen Sie den Satz »Was der Mensch erreichen kann, übersteigt sein Fassungsvermögen«? Das ist eine Lüge: Sein Fassungsvermögen übersteigt, was er aushalten kann.) Mit dem Einstein-Reveal gegen Ende von »Oppenheimer« schließt sich die große Klammer, vermittelt wiederum durch zeitliche Montage, denn die Szene mit dem entscheidenden Satz war zu Beginn des Films bereits gezeigt, der Satz aber ausgelassen worden. Edward Tellers Sorge, dass die Zündung einer Atombombe eine physikalische Kettenreaktion auslösen könnte, nach der die ganze Welt in Brand gerät, war wissenschaftlich bald widerlegt. Oppenheimer sagt am Ende: Ich fürchte, wir haben die Welt doch mit einer Kettenreaktion in Brand gesetzt. Und meint es nicht physikalisch, sondern politisch, im Sinne des durch die Bombe in Gang gesetzten Rüstungswettlaufs.

Das Finale von Oppenheimer ist ein Beispiel, wieviel mehr Gewicht und Wucht elementare Ideen durch die Form der Montage erhalten können. Als Erzähler gleicht Nolan einem Kartenspieler, der immer noch was im Ärmel hat. Es geht aber nicht ums Tricksen, die verborgenen Karten vielmehr, die zum Schluss ausgespielt werden, machen den Wert des Spiels aus. Zwei Werke wären jetzt noch aus dem Ärmel zu schütteln. »Inception« und »The Prestige« lassen sich vorm Hintergrund der Beobachtungen als Filmfilme deuten, in ihnen erzählt der Filmerzähler Nolan, wie er Filme erzählt.

In der Welt von »Inception« ist es möglich, in die Träume anderer Menschen einzudringen. Der Sprung in den Traum gleicht dem Sprung in das Reich der Phantasie, der beim Storytelling passiert. Die Architektur des Traums und die Technik des Eindringens sind dabei aufschlussreich. Die eindringende Gruppe hat einen Architekten, der sozusagen die Welt des Traums baut: das Szenenbild, die Geographie, die hinter der Handlung schlummernde Lore. Der Träumer bevölkert das Setting mit Menschen, die Konstruktionen des Architekten aber darf er nicht kennen, darf sich nicht allwissend durch die angelegten Labyrinthe bewegen. Wer träumt, tut in der Tat beides zugleich: Die Welt, deren Ereignissen das Traum­subjekt ausgesetzt scheint, hat der Träumende selbst erfunden. Als Subjekt seiner eigenen Kreation blendet er aus, dass und was er alles über die Welt weiß, er ist allmächtig und machtlos zugleich.

Im Storytelling arbeiten beide Tendenzen beständig gegeneinander: Begebenheiten und Gegebenheiten. Als dritte Figur tritt in der Inception der verkehrte Dieb hinzu, der eine Idee in das Bewusstsein des Träumenden pflanzt, das als Traum die Form einer bestimmten Welt hat, und tatsächlich funktioniert das Schreiben von Geschichten wie eine solche Inception. Die Einfälle, die ein Erzähler hat, kommen von außen. Auf einmal sind sie da und müssen entwickelt werden und sich organisch in die gewachsene Gedankenwelt des Erzählers integrieren. Folgerichtig sagt der Traumgauner ­Eames, die Idee müsse »in ihrer einfachsten Version« eingepflanzt werden, und eben das beschreibt, was man in der Filmwissenschaft »High concept« nennt. Die Kontraktion und Beschleunigung von Zeitabläufen auf den verschiedenen Traumebenen – Nolan hat diese Kaskade übrigens später in der Erzählstruktur von »Dunkirk«, also formal, wiederverwendet – steht für die Bewältigung des Geschehens durch das Erzählen. Jede Erzählung staucht und streckt Zeit, Dinge passieren nicht einfach, sie werden durch Tempospiel auf ihre angemessene Dauer gebracht, die sich von der Dauer, die sie real hätten, eigentlich immer unterscheidet.

Auch in »The Prestige« scheint Nolan die Kunst seines Filmerzählens metaphorisch in den Griff zu nehmen. Alle konstituierenden Elemente – Greater than life, High concept, Montage – finden sich hier nicht nur qua Erzählung, sondern auch in der Erzählung wieder. Die Geschichte der beiden Meister und ihrer jeweiligen großen Zaubertricks gleicht selbst einem Zaubertrick, vermittelt wiederum durch Montage: Die Magier lesen zu unterschiedlichen Zeiten des Geschehens jeweils die Aufzeichnungen des anderen, in beiden Akten gibt es einen Moment, in dem der Text den Lesenden direkt anspricht, weil sein Verfasser antizipiert hat, dass sein Feind seine Aufzeichnungen lesen wird. Dieser eindrucksvolle dramaturgische Effekt dient dem Reveal, führt zur Erkenntnis beim Zuschauer und der Notwendigkeit, alles noch einmal neu zu betrachten.

Jeder Zaubertrick, heißt es im Film, hat drei Akte: the pledge (das Versprechen, bei dem die Welt noch gewöhnlich scheint), the turn (die Wendung, es passiert Irritierendes, die Welt gerät in Unordnung), the prestige (die Anerkennung, die Ordnung wird wieder hergestellt, das Verschwundene kehrt zurück). Es geht also nicht lediglich darum, etwas verschwinden zu lassen, man muss es zurückbringen. Erst das macht den Zaubertrick. Der zweite Akt reißt an, dass hinter unserer gewöhnlichen Welt eine geheime größere steckt. Der dritte Akt schafft Beruhigung, dass die Welt nun wieder in der Ordnung ist, doch zugleich weiß der Zuschauer jetzt, dass dahinter was ruht, das nicht in Ordnung ist. Kaum anders funktioniert Nolans Kino: Ein gewöhnliches Setting wird überführt in einen Zustand, in dem alles anders ist. Die Handlung wird über Komplikationen zum Ende gebracht, das Problem darin handelnd gelöst. Doch am Ende ist die Welt, in der das passiert ist, noch da und latent nach wie vor aus den Fugen. Man verlässt das Kino beruhigt und verunsichert zugleich, und das ist vielleicht alles, was ein Künstler will.

Felix Bartels ist Redakteur dieser Zeitung. An dieser Stelle schrieb er zuletzt am 6. Juni 2025 über Thomas Mann anlässlich dessen 150. Geburtstags: »Arzt seiner Klasse«

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro