Rekorde und Hausaufgaben
Von Mara Pfeiffer
Die Fußball-EM in der Schweiz war noch nicht vorbei, als die ersten Fazitschnipsel bereits in Form von Rekordzahlen zur Gruppenphase verkündet wurden: Das Spiel Deutschland gegen Dänemark war mit 34.165 Zuschauerinnen und Zuschauern das historisch bestbesuchte seiner Art ohne die Beteiligung der gastgebenden Nation. Von 24 Spielen der Gruppenphase waren 22 ausverkauft. Im Schnitt sahen 19.233 Fans pro Partie diese Begegnungen im Stadion. Nach dem letzten Abpfiff ging es weiter: Von 31 EM-Spielen waren 29 ausverkauft, mit 623.088 Zuschauenden übertreffen die Zahlen aus der Schweiz sogar jene des Leuchtturmturniers in England 2022. Auch die Fernsehquoten legten im Vergleich noch einmal zu.
Diese Zahlen sind wichtig, weil sie Rekorde ausdrücken, die im Fußball der Frauen auf diesem Niveau lange Zeit nicht möglich schienen. Trotzdem wäre es problematisch, wenn Zahlen alles sind, was von dieser EM bliebe. Denn Turnierrekorde neben dem Platz sind noch flüchtiger als die sportlichen – und am Ende nutzen Zahlen allein reichlich wenig.
Um die Sehnsucht nach Rekorden zu verstehen, muss man zumindest einen kurzen Blick in die Geschichte des Sports werfen. Frauen, die kicken wollten, hatten in vielen Ländern zu kämpfen mit Verbotsphasen der nationalen Verbände. In Westdeutschland war ihnen das Spiel am Ball innerhalb des Deutschen Fußballbundes (DFB) von 1955 bis 1970 verboten, im englischen Verband sogar von 1921 bis 1970. Natürlich wurde weitergespielt, doch Partien jener Zeit, die teils Zehntausende Menschen in die Stadien lockten, gelten bis heute als »inoffiziell«. Was nichts anderes bedeutet als: nicht anerkannt von den Verbänden, die die Verbote ausgesprochen hatten.
Die Zählung der UEFA in Sachen EM beginnt im Jahr 1984. Doch bereits 1957 sowie 1969 und 1979 gab es europäische Turniere, Weltmeisterinnenschaften beispielsweise 1970 und 1971. Beim Finale der Copa 71 füllten 110.000 Fans das Aztekenstadion in Mexiko-Stadt. Trotzdem wird bei jedem sich bietenden Anlass die Erzählung wiederholt, Fußball der Frauen sei eine junge Sportart, die sich erst in der Entwicklung befände. Nein.
Es ist eine, deren Protagonistinnen die Entwicklung gegen Verbote, Widerstände, Spott und auch persönliche Abwertung immer wieder von vorn beginnen musste, deren Pionierinnen in Vergessenheit gerieten, statt dass ihre Geschichten erzählt worden wären. Auch deswegen sind die Rekordzahlen so wertvoll, als Beweis nach innen wie nach außen, endlich da zu sein, das Interesse auf sich zu ziehen, natürlich auch: es zu verdienen.
Gemessen wird dabei nicht nur an sich selbst, den Zahlen der Vergangenheit, sondern immer auch mit Blick auf den Männerfußball. Kaum eine Grafik kommt aus ohne Zahlen der Männer-Turniere – und immer da, wo sie übertroffen werden, ist der Triumph scheinbar besonders groß. Doch wenn die Frauen sich an diesem größten Eventspektakel im Sport orientieren, ist nichts gewonnen. Das ginge übrigens keiner Sportart hierzulande anders: Vergleiche ohne Wert.
So wichtig es ist, zu betonen, dass Fußballerinnen von ihrem Lohn leben können sollten, muss doch festgehalten werden: Niemand kann ernsthaft den entfesselten Turbokapitalismus des Männerfußballs kopieren wollen. Statt dessen gilt es, den Kern des Frauenfußballs hervorzuheben. Dafür hat diese EM wieder positive Beispiele geboten. Die Frauen punkten mit einer Nähe zu den Fans, die einige der schönsten EM-Momente ermöglichte. Auch im Umgang mit Medien lassen die Sportlerinnen anders Nähe zu, womit keine plumpe gegenseitige Anbiederei gemeint ist, sondern reflektierte und offene Aussagen sowie ein guter Umgang mit eigenen Fehlern in Interviews nach den Spielen.
Sportlich hat diese EM ohnehin alles geboten, von Partien auf hohem Niveau über Herzschlag-Elfmeterschießen, das extrem schöne Spiel der Spanierinnen und das extrem erfolgreiche der titelverteidigenden Engländerinnen. Von beiden Nationen kann Deutschland sich eine Scheibe abschneiden, was Entwicklung, Strategie und Investment angeht. Gleichzeitig war der Einzug der DFB-Elf ins Halbfinale nach den ersten durchwachsenen Monaten mit Neubundestrainer Christian Wück und bei einer erheblichen Verletztenmisere ein Ergebnis, mit dem sich der Verband nicht verstecken muss. Lehren lassen sich dennoch etliche ziehen aus dem Turnierverlauf.
Dazu gehört, dass der nun schon seit Jahren gemunkelte Wachstums- und Entwicklungsplan des DFB für die 1. Liga der Frauen endlich aus den Schubladen der Funktionärinnen und Funktionäre auf die Plätze der Republik gebracht werden muss. Aber auch ein frischer Blick auf Veränderungen der Nachwuchsarbeit, die bisher nicht aufgegangen sind, tut not sowie eine Strategie, die bei Frauen und Mädchen neben der Spitze die Breite mitdenkt – anders wird es nicht gehen.
Zum Fazit der EM ebenso wie ihrer Aufarbeitung gehört auch, dass Spielerinnen im Turnierverlauf diskriminierend beleidigt worden sind, durch die Bank sexistisch und vielfach kombiniert mit übelstem Rassismus. Immer mehr wird beim Umgang mit diesem Thema auf Monitoring-Tools gesetzt, die Spielerinnen und Spieler schützen sollen, gleichzeitig muss der Umgang mit Täterinnen und Tätern in den Fokus genommen werden. Es ist ein Problem der Gesamtgesellschaft, das sich hier im Fußball ausdrückt, wie überall nimmt es zuletzt aber zu. Dem muss mit großer Entschlossenheit begegnet werden.
Bleiben von dem Turnier demnach ausschließlich Hausaufgaben? Definitiv nicht. Es bleibt die Erkenntnis, dass ein kleines Land in der Lage war, eine große Begeisterung zu entfachen, dass Frauen am Ball sportlich in den letzten zehn Jahren erneut eine enorme Entwicklung hingelegt haben, das deutsche Team mit Ann-Katrin Berger im Tor eine Elfmeterkillerin in seinen Reihen hat, deren Namen unter Kindern auf dem Schulhof nun selbstverständlich ausgetauscht wird, es bleiben neue Vorbilder für kleine Jungs und Mädchen, natürlich auch all die Rekorde. Und es bleibt die Erkenntnis, dass nicht jedes dieser Turniere ein neuer Hype ist, sondern sie alle Teil einer Entwicklung.
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