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Aus: Ausgabe vom 31.07.2025, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Mitbestimmung bei Speditionen

Richter bremst Trucker aus

Fahrer der Spedition Wilking unterliegt im Kündigungsschutzprozess. Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Wilking wegen Vorenthaltung von Lohn
Von Jessica Reisner
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Schwer zu organisieren: Trucker

Der Arbeitsgerichtsprozess war zugleich ein Lehrbeispiel. Am 23. Juli verhandelte das Arbeitsgericht Herne unter Vorsitz von Richter Ulrich Nierhoff die Kündigungsschutzklage des Lkw-Fahrers Marcel G. gegen die Waltroper Spedition Wilking. Das Urteil fiel zugunsten der Firma aus. Marcel G. prüft, in Berufung zu gehen.

Interessant ist der Fall nicht nur, weil Marcel G. plante, einen Betriebsrat zu gründen, um, nach seinen Worten, Missstände bezüglich fehlender Genehmigungen und Fahrzeugmängeln zu beheben. Über den Youtuber »German Truck Driver« (GTD) mit mehr als 160.000 Followern läuft außerdem eine regelrechte Schmähkampagne gegen den Fahrer.

Im analogen Leben verhandelte die 5. Kammer des Arbeitsgerichts Herne vor nur wenigen Zuschauern über die Rechtmäßigkeit der fristlosen Kündigung G.s am 14. März. Wilking wirft dem Trucker vor, für die Weiterfahrt eines Transports einen Tankgutschein in Höhe von 200 Euro verlangt zu haben. Ein unvereidigter Zeuge bestätigte das. Schon schien Richter Nierhoff überzeugt und wischte weitere Hinweise auf Unstimmigkeiten durch Marcel G. vom Tisch.

Am Ende des Tages ist Marcel G. seinen Job los und muss die Kosten des Rechtsstreits tragen. Ein Fehler: Marcel war ohne seinen Anwalt Karl Ronald Neumann, der für sich als Truckeranwalt wirbt, in die Verhandlung gegangen. Dieser hatte sich kurzfristig krank gemeldet. Statt Vertagung zu beantragen, war sich Marcel seiner Sache zu sicher. Eine Fehleinschätzung, der viele Gekündigte erliegen. Sie erwarten im Kündigungsschutzverfahren eine öffentliche Generalabrechnung, bei der sie Missstände im Betrieb öffentlich machen. Doch wo sie Skandalpotential sehen, winken Arbeitsrichter müde ab.

Denn die Arbeitsrichter bleiben in der Regel ganz nah am Kündigungsgrund. Weitere Aspekte interessieren nur, sofern sie zur Klärung der Frage der Rechtmäßigkeit der Kündigung beitragen. Und wenn der eigene Anwalt sie schon in den Schriftsätzen eingeführt hat. Neues kann in der mündlichen Verhandlung meist nicht mehr eingebracht werden.

Auch Marcel G. hatte sich einen Showdown erhofft. Doch auch wenn er in Berufung geht, wird das Landesarbeitsgericht (LAG) nur verhandeln, was bereits in den Schriftsätzen steht. Neue Fakten können nur eingebracht werden, sofern sie später bekannt wurden. Bestenfalls fordert das LAG selbst die Parteien auf, entscheidungsrelevante Aspekte neu zu erklären. Fehlende Fakten aufgrund von Nachlässigkeit des Anwalts bleiben dagegen außen vor. Deshalb sollten Gekündigte ihren Anwalt sorgsam wählen und bei Zweifeln unbedingt wechseln. Schlecht aufgearbeitete Schriftsätze, Ahnungslosigkeit und Desinteresse haben schon viele Gekündigte um ihr Recht gebracht.

Der Youtuber GTD alias Kai Nußbaum war nicht zur Verhandlung erschienen. Dabei generiert er mit dem Fall Zehntausende Klicks. Nach der Veröffentlichung eines wieder gelöschten Videos, in dem er Marcel nach seiner Kündigung selbst interviewte, postete GTD ein zweites Video mit Unternehmer Wilking und wechselte komplett die Seiten. Auch viele Follower von GTD kommentieren pro Unternehmerseite. Darunter offensichtlich viele Berufskraftfahrer. In der Branche scheint es eine Art Kodex zu geben, bei dem Grenzüberschreitungen durch Unternehmen als Notwendigkeit gesehen und komplizenhaft mitgetragen werden. Kein Wunder, dass Verdi unter Truckern nur schwer organisieren kann.

Die Staatsanwaltschaft Bochum bestätigte auf Anfrage, wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach Paragraph 266 a StGB gegen Wilking zu ermitteln. Unternehmer Henrik Wilking möchte sich dazu nicht äußern.

Der Fall wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die Branche. Er scheint auch noch nicht ausgestanden. Dem Laien stockt jedenfalls der Atem, wenn im GTD-Video vom 18. Mai 2025 Henrik Wilking sagt, er und die Kollegen seien sich einig, dass in der Firma niemand einen Betriebsrat brauche, und ein Fahrer beteuert, in sechs Jahren nicht einmal Druck von der Dispo bekommen zu haben. Klingt nach geliefert wie bestellt.

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