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Aus: Ausgabe vom 26.07.2025, Seite 15 / Geschichte
Österreich

Neutral wie die Schweiz

Diplomatische Leistung und glückliche Fügung. Vor 70 Jahren trat der österreichische Staatsvertrag in Kraft
Von Karl Wimmler
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Hoch die Hände, Verhandlungsende! Österreichs Kanzler Julius Raab (l.) mit den Vertretern der Alliierten auf dem Balkon von Schloss Belvedere (15.5.1955)

In Zeiten, in denen in Europa internationale Verhandlungen zur Lösung von Problemen anrüchig gemacht werden, ist es angebracht, sich daran zu erinnern, wie in der Vergangenheit Verhandlungen zwischen Großmächten und den Vertretern eines kleinen Landes zu einem guten Ergebnis geführt haben. Am 15. Mai 1955 unterzeichneten Vertreter der Sowjetunion, Großbritanniens, der USA und Frankreichs einerseits und Österreichs andererseits in Wien den »Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich«, der am 27. Juli des Jahres in Kraft trat. In den darauffolgenden Monaten zogen alle verbliebenen Besatzungssoldaten der vier Mächte aus Österreich ab. Ein solcher Staatsvertrag war schon bald nach Kriegsende immer wieder Thema gewesen, zumal die Alliierten sich bereits 1943 auf die Wiederherstellung Österreichs als Staat verständigt hatten. Es gab jahrelang Sondierungen und Verhandlungen österreichischer Vertreter mit jenen der Besatzungsmächte, die allerdings bereits vom sich abzeichnenden Kalten Krieg geprägt waren.

Sonderfall Österreich

Der rechte Sozialdemokrat Karl Renner, der von 1918 bis 1920 Staatskanzler der Ersten Republik Österreich gewesen war, bekundete 1938 nach dem Einmarsch der Wehrmacht öffentlich und noch vor der Volksabstimmung sein »Ja« zum »Anschluss« an Deutschland. Das Naziregime überlebte er unbehelligt in Gloggnitz, einer Kleinstadt in Niederösterreich. Dort wurde er noch vor der Befreiung Wiens in einem Quartier der Roten Armee vorstellig, die Moskau informierte. Am 15. April, unmittelbar nach der Befreiung Wiens, schrieb Renner an Stalin, der daraufhin die Bildung einer Provisorischen Regierung akzeptierte. Am 27. April 1945 – im Westen und Süden des Landes tobte noch der Krieg – erklärten die Vertreter von SPÖ, ÖVP und KPÖ die Unabhängigkeit des Landes, woraufhin Renner eine aus diesen Parteien bestehende Provisorische Regierung bildete. Das Personal der ÖVP bestand zunächst weitgehend aus ehemaligen Funktionären der unteren und mittleren Ebene des austrofaschistischen Regimes, die von den Nazis verfolgt worden waren. Der Vorsitzende der KPÖ, Johann Koplenig, war mit anderen Genossen aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt.

Die Regierung wurde von den Westmächten zunächst ignoriert, doch ihre Bemühungen um Anerkennung trugen Früchte: Ab dem Spätherbst 1945 gaben auch die Westmächte ihren Widerstand auf. Nach der für die KPÖ enttäuschenden ersten Wahl konstituierte sich im Dezember eine von ÖVP, SPÖ und bis 1947 einem Minister der KPÖ gebildete neue Bundesregierung unter Kanzler Leopold Figl (ÖVP), der die Konzentrationslager Dachau und Mauthausen überlebt hatte. Im April 1945 saß er in einer Todeszelle in Wien, wurde aber angesichts der vorrückenden Roten Armee freigelassen. Figl setzte am 15. Mai 1955 im Wiener Belvedere als Außenminister seine Unterschrift unter den Staatsvertrag.

Das Schicksal Nachkriegsdeutschlands tangierte auch Österreich, da manche Politiker eine zur »Deutschlandfrage« parallele Entwicklung im Blick hatten. Dagegen zielte vor allem die Kommunistische Partei Österreichs, die sich im antinazistischen Widerstand am unbeugsamsten gezeigt und die meisten Opfer erbracht hatte, darauf, Österreich als Sonderfall zu betrachten. Als zentrale Forderung verknüpfte die KPÖ daher die Unabhängigkeit mit der Neutralität des Landes. Dem standen nicht nur die ehemaligen Faschisten entgegen (circa 500.000 von ihnen war das Wahlrecht bei der ersten Wahl entzogen), die nach wie vor einen Anschluss an Deutschland herbeiphantasierten, sondern auch die Mehrheit von SPÖ und ÖVP, die bis Anfang der 1950er Jahre von einer Westblockorientierung nicht ablassen wollte. In der Folge wurde die Verknüpfung von »Neutralität« und »Friedenspolitik« von der Propaganda der Kalten Krieger generell als kommunistisch denunziert.

Diplomatische Wende

Die USA, Großbritannien und Frankreich hatten es mit Österreich nicht eilig und fokussierten sich mehr auf Deutschland, wo sie die Spaltung des Landes vorantrieben. Dagegen konzentrierte sich die Sowjetunion, unter anderem mit der »Stalin-Note« 1952, auf einen Friedensvertrag der Besatzungsmächte mit ganz Deutschland. Es waren schließlich personell bedingte Entwicklungen, die zur Aufweichung der verhärteten Fronten im Hinblick auf Österreich führten. Einerseits gehörte der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow jener Richtung in Moskau an, die einen Friedensvertrag mit Deutschland zur Bedingung für den Abzug der Besatzungssoldaten aus Österreich machte. Nikita Chruschtschow hingegen setzte ab Jahresbeginn 1955 eine flexiblere Politik durch. Schon zuvor hatte die Sowjetunion klargestellt, dass nur die Neutralität des Landes einen Staatsvertrag ermögliche. In Österreich wiederum zeigte der neue Bundeskanzler Julius Friedrich Raab (ÖVP) im Zuge von Debatten über eine mögliche internationale Entspannungspolitik demonstrativ Gesprächsbereitschaft. Die zunächst weitgehend antisowjetische Haltung der Sozialdemokraten wurde unter anderem durch den Ende 1950 aus dem schwedischen Exil heimgekehrten späteren Bundeskanzler Bruno Kreisky gemildert, der 1955 selbst dem finalen Verhandlungsteam in Moskau angehörte.

Kernpunkte der schließlich erzielten Vereinbarungen waren: das explizite Verbot des Anschlusses an Deutschland; die Bestätigung jener Grenzen, die vor der deutschen Okkupation bestanden, also der Verzicht Österreichs auf Südtirol bzw. eine Autonomieregelung, und die Zurückweisung der Ansprüche Jugoslawiens im Süden (Kärnten und Steiermark); die Anerkennung der Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheit; sowie die Neutralität des Landes. Die Neutralität steht allerdings nicht im Staatsvertragstext, sondern wurde entsprechend dem zuvor in Moskau vereinbarten Memorandum als Bundesverfassungsgesetz am 26. Oktober 1955 vom Parlament beschlossen. Sie »verpflichtet Österreich international dazu, eine Neutralität von der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird«.

Insbesondere seit dem EU-Beitritt Österreichs 1995 wird diese Neutralität allerdings durch Tricks schrittweise ausgehöhlt. Seit diesem Frühjahr amtiert, wohl auch auf Wunsch aus Brüssel, Beate Meinl-Reisinger (Neos) als Außenministerin, die eine erklärte Gegnerin der Neutralität und eine Befürworterin der NATO ist. Noch steht dem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Weg.

Mit sowjetischer Hilfe

Werter Genosse!

Die Provisorische Staatsregierung Österreichs steht vor der Anerkennung der vier alliierten Mächte. Mit der Anerkennung setzt eine neue Epoche unseres staatlichen Lebens ein. In diesem Zeitpunkte drängt es mich, Ihnen, hochverehrter Genosse, Dank zu sagen für den außerordentlichen Dienst, welchen Sie der Republik Österreich geleistet haben, indem Sie der auf unserem Gebiete operierenden Roten Armee sofort nach deren Einmarsch im April den Auftrag gaben, den demokratischen antifaschistischen Parteien des Landes die Möglichkeit der freien Regierungsbildung zu bieten, die so eingesetzte Regierung in ihrer Tätigkeit anzuerkennen und ihr über das jeweils befriedete Gebiet die Zivilverwaltung anzuvertrauen.

Dieser Ihr Entschluss hat es der unter meinem Vorsitz stehenden Regierung ermöglicht, schon am 1. Mai ihre Arbeit im Dienste des Landes zu beginnen, in feierlicher Erklärung namens des österreichischen Volkes die Republik loszureißen von der Annexionsmacht, ihren Willen zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu verkünden und unter dieser Parole die gesamte österreichische Bevölkerung (…) einmütig um sich zu scharen. (…)

Es genügt, dem entgegenzuhalten, in welchem Zustande Österreich sich ohne Ihren weisen Entschluss heute befände: Die vier Zonen stünden bis zur Stunde in vollständiger Trennung voneinander, ohne auch nur den Ansatz zu einer zentralen Regierung und Verwaltung, jede einzelne und alle zusammen noch unter reichsdeutschem Rechte, und hätten abzuwarten, bis ein Übereinkommen dieser Mächte die Erlaubnis gäbe, eine zentrale Gesetzgebung und Verwaltung erst aufzurichten! (…)

Brief Karl Renners an Stalin, Wien, 17. Oktober 1945, siehe: https://www.wirtschaftsmuseum.at

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