Tempo, Watt und Pillen
Von Felix Bartels
Die Ente kackt am Ende. Das gilt für die drei Wochen einer Grand Tour, es gilt auch für die Jahre, die ihr folgen. Als Festinas Masseur Willy Voet sich 1998 mit allerhand Medikamenten erwischen ließ, vibrierte Radwelt. 2006 folgte Fuentes, der empirisch fasslich machte, was nach ohnedies klar war: Profisportler nutzen auch nichtathletische Methoden. Zwischen beide Skandale hatte sich passgenau die Armstrong-Ära gezwängt. Der siebenmalige Tour-Sieger wurde stellvertretend durchs Dorf getrieben. Seiner Titel ledig mochte er sich fragen: Warum bloß ich, warum nicht alle? Die Profis des Teams Telekom hatten ihre Geständnisse aus sicherer Verjährungsdistanz zelebriert, Riis und Ullrich stehen bis heute auf der Liste der Tour-Sieger.
Grundsätzlich scheint der Gedanke eines Leistungssports ohne Doping absurd. Athleten sind kompetitive Naturen, sie müssen alle Mittel ausschöpfen. Grenzüberschreiter gibt es in jedem Dorf, so entsteht ein dynamischer Zwang. Die einen tun es, weil sie es wollen, die anderen, weil die einen es tun. Interessant derweil, dass ein Dopingverdacht vor allem dann formuliert wird, wenn irgendwo herausragende Leistung aufscheint. Gerade die aber lässt sich damit kaum erklären. Doping ist Steigerung von Leistung vermittels nichtathletischen Methoden, die als illegal definiert sind. Was immer die Dunkelszene innerhalb der Szene im Repertoire hat, es befindet sich nicht im Alleinbesitz eines Athleten. Das Milieu weiß, was es so gibt. So macht Doping nicht den einen Fahrer schneller als den Rest, es hebt das Niveau aller Topfahrer. Im Angesicht der Indurains, Armstrongs, Froomes oder Pogačars von Doping als Verzerrung des Wettkampfs zu reden setzt den Gedanken voraus, dass die Konkurrenten der Sieger nicht zu illegalen Mitteln gegriffen haben. Auch Doping vorausgesetzt, ist davon auszugehen, dass sich das Leistungsgefälle der Topfahrer in den Wettkämpfen mehr oder weniger authentisch abbildet.
Das Verhältnis des Zirkus zum Doping bleibt damit ambivalent. Jedem scheint klar, dass es einen dopingfreien Leistungssport nur in einer idealen Welt geben könnte. Dennoch kann man die Praktiken nicht einfach transparent machen. Sport lebt von der Illusion reiner Bemühung, der Wettkampf hinter dem Wettkampf, die Steigerung der Leistung mit nichtathletischen Mitteln, muss unsichtbar bleiben, weil der Begeisterung am Sport sonst der Boden entzogen wäre. Folglich empfindet man Beobachter, die gern an Mülltonnen schnuppern, als störend. Hajo Seppelt etwa, der pünktlich zum Tour-Start mit der ARD-Doku »Geheimsache Doping: Im Windschatten« hervortrat, kennt den Reflex. Als Typ, der bei schönstem Wetter reinscheißt, hat er sich während des Fuentes-Skandals Verdienste erworben. Auch in seiner aktuellen Doku geht er hin, wo es wehtut, stellt Fragen, die kaum einer hören will. Was er zur Operation Aderlass, zum Missbrauch von Aicar-Präparaten und den Umtrieben obskurer Figuren im heutigen Radsport ermittelt hat, ist wissenswert und weiterer Verfolgung würdig. Andererseits hat Seppelt im Gespräch mit dem Podcast RTW konzediert, keine konkrete Verbindung zu auch bloß einem aktiv fahrenden Radprofi herstellen zu können. Was für eine investigative Doku eine veritable Leerstelle markiert, die irgendwie gefüllt werden musste. So bemüht Seppelt eine Figur, der man oft bei diesem Thema begegnet: die Behauptung, dass die gegenwärtig gezeigte Leistung im Profisport übermenschlich und folglich nur mit Doping erklärbar sei.
In der Regel wird diese Auffassung von Leuten vorgebracht, die sie nicht begründen können. Offensichtlich zudem ist sie konvenient, weil sie in ein Ausschlussargument eingebettet wird: Alle sonstigen Erklärungen fallen weg, so bleibt nur Doping, das dann auch nicht mehr investigativ nachgewiesen werden muss. In der Doku äußert der Sportwissenschaftler Pierre Sallet: »Wir wissen, was für einen Menschen machbar ist und was nicht. Wir kennen die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit.« Schön, dass er sie kennt. Was wir hingegen kennen: Die Technik, eine Einzelmeinung, die nicht näher geprüft werden soll, rhetorisch so zu verpacken, dass der Eindruck entsteht, es handle sich um wissenschaftlichen Konsens. Es gibt zur Entwicklung der Trainingsmethodik einiges Material, das man nur dann nicht kennen kann, wenn man nicht danach gesucht hat.
Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren viel getan im Radsport. Bei der Aerodynamik, bei der Ernährung, beim Training, beim Renncharakter. Genug jedenfalls, um nicht einfach aus höheren Durchschnittstempi der Rennen Doping ableiten zu können, wie Seppelt es gleich zu Beginn der Doku tut. Problematisch ist bereits, dass nicht zwischen Tempo im Finale und Renndurchschnitt unterschieden wird. Ein Road Race ist kein Zeitfahren und erst recht keine Zwift-Session. Geprägt durch taktische Situationen hängt viel vom Verhalten der Fahrer ab: Wie früh wird das Rennen schwer, wann gehen die Ausreißer, wo nimmt man Tempo raus, um sich zu schonen? Vor zehn Jahren sind Etappen und Eintagesrennen deutlich später in ihre heiße Phase eingetreten, das Feld hat die ersten Kilometer deutlich öfter verschleppt. Weil Teams von heute ihren World-Tour-Status verlieren können, sind die Rennen umkämpfter, zum anderen bestreiten Rennfahrer heute weniger Renntage im Jahr, und die Distanzen der Rennen sind tendenziell kürzer. So wirken sich ein paar km/h mehr im windgeschützten Feld unterhalb der aeroben Schwelle zwar auf das Durchschnittstempo aus, bezeugen aber nicht zwingend auch einen entsprechend hohen Leistungsanstieg. Einfacher gesagt: Was den Renndurchschnitt angeht, hätten die Fahrer vor zehn Jahren durchaus noch schneller fahren können.
Nicht bloße Geschwindigkeit gibt Auskunft über die Leistung eines Radfahrers, sondern getretene Watt, höheres Tempo nämlich kann auch durch effizienteres Fahren erzielt werden. Das schließt Entwicklung des Materials ein. In den letzten Jahren ist das Gewicht der Räder weiter gesunken, Scheibenbremsen, schmalere Lenker und ohne Umfassen zu bedienende Gangschaltungen tragen dazu bei, dass weniger Zeit links und rechts neben dem Rad verlorengeht. Natürlich wurde auch an Rennanzügen, Helmen und Sitzposition weitergearbeitet. Oder an speziellen Patenten wie dem KAPS-System, mit dem sich Reifendruck während der Fahrt optimieren lässt. 2022 hat Matej Mohorič in der Abfahrt nach dem Poggio eine absenkbare Sattelstütze benutzt, im Hochgebirge können Klassementfahrer mittlerweile den Winkel ihres Sattels verändern, um bergauf eine Ergonomik wie im Flachen zu erzeugen.
Was die reinen Wattzahlen betrifft, lassen sich die Entwicklungen der letzten Jahre ebenfalls sportmethodisch erklären. Vermutlich hat sich im Bereich der Ernährung am meisten getan. Noch zu Armstrongs Zeiten war es selten, dass Teams ihren eigenen Koch dabei hatten, es wurde gegessen, was in den Hotels auf den Tisch kam. Heute nehmen Fahrer im und außerhalb des Rennens quantitativ und qualitativ auf sie angepasste Nährstoffmengen zu sich, die Fatmax ist der zentrale Index hier, Zone-2-Training stärkt Muskelgruppen, die bevorzugt auf Fettreserven zugreifen. Viel dreht sich darum, dass der Körper während der niederschwelligen Phasen möglichst wenig die Kohlenhydratspeicher anzapft, die in der höherschwelligen Phase gebraucht werden, und in der Tat gehen Radprofis heute mit einem deutlich höheren Gylkogenlevel in den Schlussanstieg einer Bergetappe als seinerzeit Pantani, Ullrich und Contador.
Hinzu treten zahllose weitere Faktoren, Kleinvieh, das jede Menge Mist macht. Etwa das Ausrollen noch im Zielbereich, das dem Laktatabbau dient. Spezielles Hitzetraining, das die Fähigkeit verbessert, bei hohen Temperaturen Leistung abzurufen. Genaues Monitoring über Tempo und Wattzahlen während des Rennens, wodurch Rennarbeit besser kalkuliert und Überpacen verhindert werden kann. All das und dergleichen kann nicht ausgeklammert werden, wenn über Doping auf Basis von Renngeschwindigkeit spekuliert wird. Gewiss, die Ente darf gern auch früher kacken, bloß, es sollte dann halt Festeres herauskommen als Diarrhoe.
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