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Aus: Ausgabe vom 15.07.2025, Seite 12 / Thema
USA

Eingang in die Unmündigkeit

Vordergründig staatskritisch, aber im Kern zutiefst antidemokratisch: In der politischen Rechten der USA gewinnt die »Dunkle Aufklärung« immer mehr Einfluss
Von Holger Wendt
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Über den Milliardär Peter Thiel (r.) gelangt das Gedankengut der »Dunklen Aufklärung« bis an die Schaltstellen der Macht

Die extreme Rechte in den USA ist wesentlich durch drei einander überlappende und dennoch distinkte Strömungen geprägt. Die beiden ersten sind in Deutschland recht gut bekannt; mit Büchern und Zeitungsbeiträgen über christlichen Fundamentalismus oder amerikanischen Ethnonationalismus lassen sich unzählige Regalmeter füllen. Über die dritte, relativ junge Strömung hört und liest man hingegen wenig. Dabei ist ihr Einfluss auf die Administration Donald Trumps beträchtlich, sie prägt sowohl das Denken einiger seiner einflussreichsten Mitstreiter als auch einige der bemerkenswertesten Entscheidungen seiner Regierung.

Alter Wein, neue Schläuche

Die »Dunkle Aufklärung«, auch Neoreaktionäre Strömung (NRx) genannt, entstand in den 2000er Jahren in den Untiefen des Internets. Ein Großteil ihrer Wegbereiter, allen voran ihr Vordenker Curtis Yarvin, arbeitete in der US-amerikanischen Techindustrie. Ihr Wirken begann ursprünglich kaum merklich mit der Verbreitung reaktionärer Onlinepamphlete, deren Publikum nicht über einen überschaubaren Kreis von Gleichgesinnten hinauskam. So bescheiden die Anfänge, so wenig originell waren die Inhalte: Antiaufklärung, Elitenkult, Rassismus, Sozialdarwinismus, Frauenfeindlichkeit, Ablehnung von Demokratie, etc. sind samt und sonders Themenfelder, auf denen die Pfade kaum ausgetretener sein könnten. Das Neue der Neoreaktion ist folglich ein Neues im Alten. Selbst das ist nicht wirklich neu, Faschismus in allen seinen Spielarten präsentiert sich stets als hochmoderne, »revolutionäre« Bewegung. Das immergleiche Motiv, die absolut rücksichtlose Verteidigung überkommener monopolkapitalistischer Herrschaft, wird in sich verändernden politischen Situationen in stets anderen, stets aktualisierten Formen für ein sich wandelndes Publikum vorgetragen.

Nehmen wir Curtis Yarvin zum Beispiel. Seine Herkunft ist für die traditionelle amerikanische Rechte eher untypisch, wenn nicht gar anrüchig. 1973 wurde er in eine säkulare, liberale Familie geboren, der Vater arbeitete für das US-Außenministerium, seine Großeltern väterlicherseits waren Kommunisten jüdischer Herkunft. Während seiner Studienzeit wurde Yarvin in seiner politischen Entwicklung durch libertäres und neoklassisches Gedankengut geprägt, fügte sich somit nahtlos ein in eine Strömung, die die Ideologieproduktion des Silicon Valley wie keine andere beherrschte. Nach dem Abbruch seiner computerwissenschaftlichen Doktorarbeit arbeitete er zunächst als Programmierer. Im Jahr 2000, im Kontext des Platzens der New-Economy-Blase, gab Yarvin seinen gut dotierten Techjob gegen eine stattliche Abfindung auf und widmete sich gesellschaftswissenschaftlichen Themen. In diese Zeit fällt sein Übergang vom typisch US-amerikanischen Ultraliberalismus zur offen rechtsextremen Ideologie. Von 2007 bis 2014 betrieb er unter dem Pseudonym Mencius Moldbug den Blog »Unqualified Reservations« (UR), mit dem er rasch zum ideologischen Zentrum einer kleinen Szene Gleichgesinnter avancierte. Heute gilt Yarvin als wichtiger Einflussgeber zentraler Figuren der Trump-Administration, etwa von Vizepräsident J. D. Vance oder dem Director of Policy Planning Michael Anton.

Die »Dunkle Aufklärung« spricht ein Publikum an, das sich von den üblichen Verdächtigen, von rassistischen »Rednecks« und frömmelnden Bibelklopfern, deutlich unterscheidet. Ihr Anhang ist besser gebildet, beruflich höher qualifiziert, steht den tatsächlich Herrschenden der USA sozial näher. Sein Übergang von libertären zu offen faschistischen Positionen fiel größtenteils in das vergangene Jahrzehnt, also in eine Zeit, in der sich der siegesgewisse US-Liberalismus offen blamierte. Die einstmals unanfechtbare globale Hegemonie der USA schwindet, gesellschaftliche Auflösungserscheinungen stehen vor aller Augen, die ökonomische Krise bedroht selbst privilegierte Bevölkerungsteile, die sich über Fragen von Abstieg, Arbeitslosigkeit und Armut erhaben glaubten. Unter solchen Bedingungen bekommen Bewegungen nach rechts außen Oberwasser, auch und gerade unter den Angehörigen gehobener Schichten.

Angriff auf Liberalismus

Die Verteidigung der Herrschaft der Konzernherren erscheint innerhalb der »Dunklen Aufklärung« zunächst als radikale Kritik am Staat, als kompromissloser Angriff auf dessen Herrschaftsideologie. Die Herrschaft wird allerdings nicht bei den tatsächlich Mächtigen verortet, sondern bei Teilen ihrer bürokratischen und ideologischen Apparate. Diese hätten als parasitäre Kaste sämtliche Schlüsselstellen besetzt, eigneten sich immer größere Anteile des nationalen Reichtums an und erstickten jede Infragestellung ihrer Macht im Keim.

Eine solche Herrschaftskritik, wiewohl grotesk einseitig, hat ihre Stärken. Sie erfasst nachvollziehbar Momente des bisherigen liberalen Konsensus sowie seiner Befestigung mittels administrativer Gewalt, und sie knüpft an Erfahrungen junger Akademiker an. Verstöße gegen die von Leitmedien und Universitäten definierte »Political Correctness« diskreditierten die Übeltäter moralisch, führten schnell zu potentiell karrierezerstörender Ausgrenzung. Ein dichtes Netzwerk von Institutionen machte den politischen Mainstream unangreifbar. Solche Mechanismen richteten sich sowohl gegen rechte als auch gegen linke Überschreitungen der Grenzen etablierter Ideologie, allerdings hat sich die US-Rechte längst ein gewaltiges, mit dem liberalen Block offen konkurrierendes Imperium an »alternativen« Institutionen geschaffen. Dieses liefert den Resonanzboden, auf dem sich die Anhänger der »Dunklen Aufklärung« medienwirksam als Opfer einer linken, sozialistischen Übermacht in Szene setzen können.

Für die Struktur der vorgeblich linken Apparate, also der Universitäten, Medien, liberalen Thinktanks, der Demokratischen und von weiten Teilen der Republikanischen Partei etc., hat Yarvin einen Oberbegriff geprägt: »Cathedral«, Kathedrale. Sie sei es, die alle gesellschaftliche Macht in den Händen halte. Die religiöse Konnotation des Wortes ist kein Zufall. Die vermeintlich alles beherrschende »woke« US-Ideologie wird weniger als politisches Konstrukt, sondern vielmehr als ein in sich zutiefst irrationales theologisches Gebäude beschrieben, ihre Anhänger entsprechend als fanatische Gläubige dargestellt. Yarvin gibt sich große Mühe, die Ursprünge selbst explizit säkularer liberaler Weltauffassungen als Ausformungen von Vorstellungen radikaler protestantischer Sekten der Frühen Neuzeit zu entlarven. Einiges an seinen Ausführungen mag richtig sein, dennoch verfehlt es den Punkt. Selbst wo sich moderne Ideen ursprünglich innerhalb religiöser Kontexte etablierten, sind sie nicht allein deshalb zurückzuweisen. Religionen sind nicht einfach irrationaler Unfug, sie sind mangelhafte Formen der Reflexion menschlichen Seins. Rationale Elemente religiöser Anschauungen lassen sich von ihrem religiösen Rahmen trennen, was in der Vergangenheit auch oft geschehen ist. Die Darstellung der weltanschaulichen Gegner der Neoreaktionäre als fanatische Sektengläubige ermöglicht hingegen, sie von vornherein als unzurechnungsfähig abzuschreiben.

An dieser Stelle besteht eine zumeist unausgesprochene Spannung zwischen den Vorstellungen führender »Dunkler Aufklärer« und dem Großteil der US-Reaktionäre, die sich ja explizit als tiefgläubige Nachfahren der kritisierten protestantischen Strömungen begreifen. Der Gegensatz zwischen einer tendenziell atheistischen Sichtweise¹, die Religion primär als politisches Machtmittel auffasst, und einem politisch radikalisierten Protestantismus bleibt jedoch implizit, damit das Bündnis mit der religiösen Rechten nicht gefährdet wird.

Gegen den Staat

Antistaatliche Rhetorik gehört zum alle Strömungen der US-Rechten übergreifenden Mainstream. Ob Vertreter der Republikanischen Partei, christliche Fundamentalisten oder Anhänger paramilitärischer Milizen, sie alle üben Kritik am »Big Government«, an Steuern, an öffentlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge. Sie alle beschwören den freien Mann, der von der Gesellschaft nur eines will: in Ruhe gelassen werden. My pony, my rifle and me.

Neoreaktionäre haben die Hoffnung auf eine graduelle Veränderung staatlicher Strukturen aufgegeben. Man sucht nicht nach sukzessiver Übernahme von Teilen der »Cathedral«, strebt – wenigstens offiziell – keinen Kampf um diese oder jene politische oder ideologische Position an. Die Macht der Kathedrale sei mittels demokratischer Mittel nicht zu bezwingen, solches Bemühen sei angesichts ihrer totalen Dominanz von vornherein aussichtslos, würde allenfalls zum Aufgehen der Aktivisten in der bestehenden Machtstruktur führen. Auch sei es für Reformbemühungen längst zu spät, der Zusammenbruch des gescheiterten liberalen Modells stehe unmittelbar bevor. Für Angehörige der wirklichen geistigen Eliten existiere nur eine Alternative zum Untergang: das sinkende Schiff so schnell wie möglich zu verlassen. Statt des Strebens nach Veränderung (im dunkelaufklärerischen Slang »Voice« genannt) propagiert man den Ausstieg (»Exit«) aus der Gesellschaft.

Der schlechten Gegenwart werden reaktionäre Utopien entgegengestellt. Bestehende Städte sollen sich vom Staat unabhängig machen und völlig autonome Machtstrukturen entwickeln. Auch das »sea-steading« wird diskutiert, das heißt die Gründung neuer Gesellschaften in internationalen Gewässern, ebenso das Ausweichen auf Kolonien im Weltraum. Es existieren technologische Ausstiegsszenarien, man setzt auf die Nutzung von Kryptowährungen, verschlüsselte Netzwerke und die digitale Verbreitung von Alternativideologien. Der Ursprung derartigen Gedankengutes aus ultraliberalen, technofetischistischen Vorstellungen des Silicon Valley ist nicht zu übersehen.

Dunkelaufklärerische Idealgesellschaften sind durchgängig antiegalitär aufgebaut, sowohl in sozialer wie in politischer Hinsicht. Demokratie gilt nicht lediglich als defizitär, sie sei im Kern ineffizient, betrügerisch und somit notwendig dem Untergang geweiht. Die im Kern richtige Kritik am US-amerikanischen Modell zweier sich wechselseitig ablösender, dabei stets gegen die Interessen der Mehrheitsbevölkerung arbeitender Parteien wird umgebogen zur Kritik an demokratischen Vorstellungen schlechthin. An deren Stelle tritt die Forderung nach unmittelbarer Herrschaft der wahren (monopolkapitalistischen) Eliten, wahlweise in der Form eines monarchistischen Apparates oder, in nur scheinbar modernerer Formulierung, derjenigen eines Unternehmens. Ein König, der den Staat als seinen Familienbesitz betrachte, versuche, ihn zum Wohle seiner Erben langfristig zu stärken. Der auf Zeit gewählte Politiker hingegen, gleichgültig welcher Partei er entstamme, suche, seine temporäre Machtposition auszunutzen. Er opfere langfristige staatliche Interessen für kurzfristige persönliche Vorteile – und nach ihm die Sintflut.

Das Gegenmodell, als »Neokameralismus« bezeichnet, fordert die Umgestaltung von Staaten nach dem Vorbild absoluter Monarchien bzw. kapitalistischer Konzerne. An die Stelle des gleichen und geheimen Wahlrechtes soll die nicht hinterfragbare Autorität der Shareholder (Anteilseigner) treten, vertreten durch einen verantwortlichen, souveränen Vorstandsvorsitzenden (»CEO«). Die Masse der Bevölkerung sei hingegen zum Regieren ungeeignet, tauge allenfalls zur Ausführung von Befehlen. Wir erhalten somit eine Dreiteilung der Gesellschaft: Ganz oben steht die kleine Minderheit superreicher Shareholder, unter ihnen eine Klasse größerer oder kleinerer Manager, ganz unten die große Masse der als bloße Ausbeutungsobjekte betrachteten Bevölkerung.

Wer hier Ähnlichkeiten zur wirklichen Machtverteilung innerhalb kapitalistischer Gesellschaften erblickt, hat einen Punkt. Die »Dunkle Aufklärung« will keinen Umsturz der sozialen Verhältnisse, sie zielt darauf ab, die politischen Systeme kompromisslos gemäß den ökonomisch fundierten Herrschaftsstrukturen umzugestalten. Der ideologische Schleier von Gleichheit wird zerrissen, hart erkämpfte Mitbestimmungsrechte der arbeitenden Bevölkerung werden durch eine unverhüllte Diktatur ersetzt. Alle weltanschaulichen Verbrämungen, realen Einschränkungen, politischen und sozialen Vermittlungen monopolkapitalistischer Herrschaftsausübung fallen fort, gelten als ineffizient und betrügerisch. Aus der Erkenntnis, dass das Freiheitspathos liberaler Ideologien tatsächliche Machtverhältnisse verdeckt, folgt nicht die Forderung nach Überwindung reaktionärer Herrschaft, sondern ihre Anerkennung als unhintergehbare Grundbedingung menschlicher Existenz.

Die Konsequenzen sind entsprechend. Was geschieht mit jenen, die aufgrund fehlenden Reichtums und unpassender Arbeitsfähigkeiten in den schönen neuen Charterstädten keinen Platz mehr finden? »Was tun wir mit ihnen? Verkauft ihre Slums unter ihrem Hintern weg; demoliert alles, desinfiziert gegen Schaben, Nagetiere und Pitbulls, glättet die Trümmer mit ein bis zwei Bulldozern und möglicherweise mit etwas Bombardierung aus der Luft; errichtet neue Bezirke, passend für russische Oligarchen. Nächste Frage?«²

Die Herrschaft der Monopolherren wird unanfechtbar, gestützt auf modernste Technik, computergesteuerte Waffensysteme und – expressis verbis – orwellianische Totalüberwachung.³ Seine zur neoreaktionären Utopie umgebaute Idealstadt San Francisco beschreibt Yarvin so: »Alle Einwohner, selbst kurzfristige Besucher, tragen ID-Karten mit RFID (Radiofrequenzidentifikation, jW). Von allen wird die DNS erfasst und die Iris gescannt. Öffentliche Plätze und Transportsysteme erfassen alle. Sicherheitskameras überall. Jedes Auto weiß, wo es ist und wer in ihm sitzt. Die Anwohner können diese Daten nicht nutzen, um andere auszuspionieren, aber Friscorp (die Betreibergesellschaft, H. W.) kann sie nutzen, um die Gesellschaft auf einer nahezu willkürlich detaillierten Ebene zu überwachen.«⁴

Popkultur statt Wissenschaft

Die »Dunkle Aufklärung« verbreitet ihre Weltauffassung mit der Attitüde des überlegenen Durchblickers, der, auf harten wissenschaftlichen Fakten aufbauend, die weltanschauliche Verwirrung seiner intellektuell minderbemittelten Kontrahenten seziert. Man nutzt zeitgenössisches Managementvokabular, stützt sich zudem auf zahllose popkulturelle Referenzen, von H. P. Lovecraft bis zu Star Trek. Zentrale Begriffe beziehen sich auf Hollywood-Produktionen, etwa auf die rote Pille aus Matrix, durch die sich der Protagonist Neo entscheidet, die Wahrheit über die Realität zu erkennen, oder auf die Gedankenkontrollwürmer aus »Der Zorn des Khan«. Curtis Yarvin wird von seinen Anhängern in Anspielung auf das Star-Wars-Universum als »Oberster Sith Lord«⁵ bezeichnet.

So anziehend eine derartig modernisierte Rhetorik auf jüngere Akademiker wirken mag, ihr aufgeblähtes Selbstbild widerspiegelt, der weltanschauliche Kern ist alles andere als neu. Im Gegenteil werden reihenweise Elemente überkommener reaktionärer Ideologien übernommen und zum x-ten Male neu verpackt. Der alte Wunsch, Frauen als devote Heimchen auf ihre Rolle in Bett, Küche und Kinderzimmer zu beschränken, wird als empirisch fundierte Erkenntnis der Schädlichkeit evolutionär bedingter weiblicher Emotionalität in den angeblich männlich-rationalen Sphären von Politik, Wirtschaft und Militär verkauft. Der Rassismus, ohne den der Antidemokratismus der Neoreaktion nicht auskommt, wird mit Verweis auf die »Human Biodiversity« propagiert, also auf ein auf klassisch eugenische Vorstellungen zurückzuführendes Projekt aus den sumpfigen Grenzbereichen der Biologie. Wirkliche argumentative Auseinandersetzungen finden bei alledem nicht statt, Diskursfragmente des wissenschaftlichen Randes werden mit breiter Brust als etablierte Fakten vorgetragen, marginale Extrempositionen von Außenseitern gelten als letzter Schrei der Forschung.

Massen und Machthaber

Leider ist dergleichen mehr als eine Ausgeburt der Hirne überspannter Technerds, als eine pathologische Kompensation zunehmender gesellschaftlicher Unsicherheit. Die »Dunkle Aufklärung«, emporgewachsen aus libertären Ideologien des Silicon Valley, ist deren adäquate Übersetzung in Zeiten einer umfassenden strukturellen Krise der USA. Wie schon der historische Faschismus keine dem Liberalismus diametral entgegenstehende Weltauffassung war, er vielmehr – bei gleichzeitig lärmender Abgrenzung – auf Schritt und Tritt an dessen Vorarbeiten anknüpfte, so ist die »Dunkle Aufklärung« die konsequente Fortsetzung eines Denkens in der Tradition von Ayn Rand und Murray Rothbard in Zeiten von dessen Kollaps. Der im Liberalismus immer schon angelegte Gegensatz von Freiheit und Demokratie wird auf die Spitze getrieben, in Richtung der absoluten Freiheit gesellschaftlich erfolgreicher Lichtgestalten aufgelöst. Einmal mehr erweist sich Nietzsches »starkes Individuum« als Herrenmensch. Die dystopische Gewalt gegenüber den Verlierern, in neoreaktionären Utopien offen ausgesprochen, ja stolz propagiert, existierte implizit bereits bei ihren liberalen Vorläufern. Die »Dunkle Aufklärung« rekrutiert große Teile ihrer Anhängerschaft aus Kreisen, die noch gestern zum Kern der liberalen Eliten gehörten, sich nicht selten politisch eher links verorteten.

Während die Neoreaktion ihr Gefolge aus der gehobenen US-amerikanischen Mittelschicht rekrutiert, findet sie ihre Förderer ganz oben. Selbstverständlich lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, was in den Köpfen von US-Milliardären vorgeht, ihr Handeln jedoch spricht für sich. Peter Thiel, deutschstämmiger Silicon-Valley-Milliardär, unter anderem Mitbegründer von Paypal, erster Investor bei Facebook/Meta und Anteilseigner der Überwachungsplattform Palantir, war finanzieller Förderer von Yarvins Unternehmen Urbit. Er vertritt zahlreiche mit Yarvin übereinstimmende Vorstellungen, wie etwa seine Aussage demonstriert, er glaube nicht mehr an eine Vereinbarkeit von Freiheit und Demokratie.⁶ Thiel gilt als graue Eminenz des rechten Flügels der Republikanischen Partei und trat als zentraler Sponsor von Donald Trumps Präsidentschaftskampagnen in Erscheinung. Elon Musk, mittlerweile vom größten Geldgeber zum offenen Konkurrenten Trumps mutiert, inszenierte anlässlich von dessen Inauguration auf offener Bühne groteske Imitationen des Hitlergrußes. Seine Tätigkeit als Führungsfigur des neugegründeten DOGE (»Department of Government Efficiency«), mit dessen Hilfe der Milliardär gegen Angehörige staatlicher Dienste vorging, entsprach weitgehend dem Drehbuch von Yarvins fiktivem RAGE (»Retire All Government Employees«).⁷ Auch Trumps Kampagnen gegen Eliteuniversitäten und liberale Presseorgane weisen weitreichende Analogien zur neoreaktionären Polemik gegen Institutionen der »Cathedral« auf.

Inwieweit politische Übereinstimmungen bloß Resultate von Parallelen im Denken führender US-Reaktionäre sind oder sie sich auf direkte intellektuelle Einflüsse zurückführen lassen, bleibt Spekulation. Die realen Anforderungen an die Politik einer strauchelnden Weltmacht unterscheiden sich sicherlich von den Lebensbedingungen eines von Rechtslibertären erdachten utopischen Netzwerkes imaginärer Kleinstaaten in monopolkapitalistischem Besitz. Die »Dunkle Aufklärung« ist zudem nur eine von verschiedenen rechtsextremen Strömungen, die Einfluss auf die US-Regierung ausüben. Dennoch lässt sich sagen, dass vieles, was bundesdeutschen Transatlantikern als wirrer Irrsinn eines Kabinetts von Verrückten erscheint, Resultat einer Politik ist, die reaktionäre Konsequenzen aus dem Scheitern des US-amerikanischen Liberalismus gezogen hat.

Anmerkungen

1 »I am a hardcore, deep-fried atheist.«, Mencius Moldbug (Curtis Yarvin): How Dawkins Got Pwned, 2007, S. 28

2 Mencius Moldbug (Curtis Yarvin): Patchwork – A Political System for the 21st Century, S. 17 (Übersetzung: H.W.)

3 Vgl. Mencius Moldbug (Curtis Yarvin): A Gentle Introduction to Unqualified Reservations, S. 3f.

4 Mencius Moldbug (Curtis Yarvin): Patchwork – A Political System for the 21st Century, S. 27 (Übersetzung: H. W.)

5 Nick Land: The Dark Enlightenment. Imperium Press, Perth 2023

6 https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/

7 https://www.washingtonpost.com/politics/2025/05/08/curtis-yarvin-doge-musk-thiel/

Holger Wendt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Januar 2022 über Ayn Rands ultraliberales, antisoziales Werk: »Von Orks und Helden«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael Faulhaber (15. Juli 2025 um 03:31 Uhr)
    Bei dem Satz »Die dystopische Gewalt gegenüber den Verlierern, in neoreaktionären Utopien offen ausgesprochen, ja stolz propagiert, …« fällt mir sofort das »Sommerinterview« des Kanzlers ein. Ist die Ankündigung der Kürzung oder Streichung von Sozialleistungen nicht auch eine Form der Gewalt? Stolz vorgetragene Ideen der AfD?

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