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Aus: Ausgabe vom 14.07.2025, Seite 12 / Thema
Familienrecht

Vom Staat getrennt

Deutsche Gerichte, Staatsanwaltschaften und Jugendämter agieren bei der Trennung von Kindern und Jugendlichen von streitenden Elternteilen oft entgegen der Rechtslage
Von Ralf Hutter
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Wenn Eltern sich nicht mehr verstehen, leiden Kinder ohnehin. Deutsche Familiengerichte ordnen im Vergleich zu anderen Ländern häufig Kontaktabbrüche zu einem der Elternteile an

Tuttlingen liegt in der Nähe des Bodensees, im Südwesten Deutschlands. Rolf Fritz will diese Gemeinde ins Zentrum der familienrechtlichen Diskussion holen. Der dreifache Vater hat kürzlich den Internetauftritt Tuttlinger-gebote.de ins Leben gerufen, dessen wichtigste Funktion zur Zeit im Pilotbetrieb erprobt wird: Eltern, die vor einem Familiengericht um ihre Kinder streiten oder gestritten haben, können PDF-Dateien der Gerichtsbeschlüsse hochladen. Eine Software prüft, ob das Gericht das Kindeswohl angemessen berücksichtigt hat.

Der Hintergrund: Deutschlands Familiengerichte stehen seit langem in der Kritik. Das hat auch mit der Gesetzes- und Ausbildungslage zu tun, also den politisch gesetzten Rahmenbedingungen. Die Gerichte handeln ständig ihrem Hauptdaseinszweck zuwider, und das auf eine besonders eklatante Weise: Sie bewirken oft direkt oder indirekt, dass ein Kind nach der Trennung seiner Eltern den Kontakt zu einem von beiden verliert. Fachleute gehen von einer jährlich fünfstelligen Zahl an betroffenen Kindern und Jugendlichen aus.

Darüber wird zwar in der Öffentlichkeit wenig geredet, aber der Missstand ist bekannt. Selbst der im Januar erschienene »Zehnte Familienbericht« der Bundesregierung hält fest: »Vergleichende Analysen auf Basis des europäischen ›Generations and Gender Survey‹ weisen darauf hin, dass Kontaktabbrüche zwischen Kind(ern) und einem Elternteil nach Trennung und Scheidung in Deutschland besonders häufig sind.« Später im Bericht wird präzisiert, dass es dabei um »eine Vielzahl von Abbrüchen vor allem bei Vater-Kind-Kontakten« geht.

Software soll helfen

Rolf Fritz ist selbst betroffen von einem solchen Abbruch. Und von verfassungswidrigen Gerichtsbeschlüssen. Nach dem verlorenen Kampf um den Kontakt zu seinen beiden jüngsten Kindern kämpft er nun gegen die bundesweite familiengerichtliche Praxis. »Familienrecht hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, und das geht vor allem zu Lasten der Kinder«, sagt der 69jährige. »Da herrscht eine große Inkompetenz. Fakten werden nicht berücksichtigt. Das will ich öffentlich machen.«

In Tuttlingen, dem nahen Rottweil und auch in Stuttgart hat Fritz im April Kundgebungen durchgeführt, wobei er aber fast alleine blieb. Mehr Aufmerksamkeit hatte seine Aktion am 11. September 2024 erregt, als er sich vom Dach des Amtsgerichts Tuttlingen abseilte. Fritz »brachte Banner an und tat seinen Unmut lautstark über ein Megafon kund«, berichtete die Schwäbische Zeitung. Daraufhin hätten ihn andere Betroffene ausfindig gemacht – im Internet betreibt er eine Seite für die Suche nach seinen beiden Kindern –, gemeinsam mit ihnen und Mitgliedern des überregionalen Vereins »Väteraufbruch für Kinder« habe er dann die neun Tuttlinger Gebote erarbeitet, berichtet Fritz.

Darin wird unter anderem gefordert: Dokumentation und Sanktionierung von Täuschungen der Gerichte; stärkere Gewichtung von Eltern-Kind-Bindung und elterlicher Fürsorgepflicht gegenüber den elterlichen Freiheiten; statistische und wissenschaftliche Aufbereitung der Gerichtsentscheidungen; teilweise Aufhebung der Nichtöffentlichkeit von Gerichtsanhörungen, bei denen es um Kinder geht. Andere Forderungen sind allerdings eher vage oder theoretisch bereits erfüllt, wie die nach der Pflicht für das staatliche Helfersystem zu Neutralität und Wahrheitssuche oder die nach Berücksichtigung der UN-Kinderrechtskonvention.

Das Ziel der Onlineplattform ist es, darzustellen, wie sehr die deutsche Familiengerichtspraxis diesen Maßgaben entspricht. Langfristig soll anhand der eingereichten, automatisch ausgewerteten Gerichtsbeschlüsse ein kritisches Bild der Tätigkeit der Familiengerichte erstellt werden. Die Ergebnisse sollen jeweils am 25. April, dem von zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgerufenen »Tag der Eltern-Kind-Entfremdung«, den deutschen Familiengerichten und Jugendämtern überreicht werden. Laut Fritz liegen bereits einige Gerichtsbeschlüsse vor, an denen die Software getestet wird. Im August soll die Pilotphase beendet werden.

Fritz’ eigener Fall verlief, kurz gesagt, so: 2018 wollte sich die Mutter seiner beiden jüngsten Kinder (das erste war da bereits lange volljährig) scheiden lassen und zurück in die USA gehen. Da sie mehr Zeit mit den drei- und sechsjährigen Kindern verbracht hatte als der Vater, entschieden Amts- und Oberlandesgericht, dass die Kinder mit ihr gehen sollten. Dieses quantitative Denken berücksichtigt nicht die Beziehungsqualität, die in diesem Fall zu beiden Elternteilen gleich gut war. Das Oberlandesgericht Stuttgart behauptete sogar, es drohe keineswegs der Kontaktabbruch zum Vater, dabei war die Mutter ein halbes Jahr zuvor monatelang unabgesprochen mit den Kindern in den USA gewesen. Es kam dann tatsächlich zum Kontaktverlust. Rolf Fritz weiß seit Jahren nichts mehr von seinen Kindern.

Bei all dem wurde dem Familienvater vom Gericht keinerlei Vorwurf gemacht, im Gegenteil: Seine Fähigkeit zur Erziehung und Förderung seiner Kinder wurde explizit hervorgehoben. Beide Eltern seien dazu gleichermaßen in der Lage gewesen. Die Gerichte stellen sich schlicht auf den Standpunkt: Wenn die Eltern nicht mehr zusammen leben, muss ein Lebensmittelpunkt der Kinder festgelegt werden (übrigens auch, weil das deutsche Melderecht einen Hauptwohnsitz verlangt). Wenn die Kinder – vermeintlich – eine bessere Beziehung zu dem Elternteil haben, der aus- bzw. umziehen will, müssen sie eben mit umziehen.

Grundrecht verletzt

Dass die Gerichte im Fall der Familie Fritz verfassungswidrig gehandelt haben, ist offensichtlich. Laut Artikel 6 des Grundgesetzes steht die Familie »unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung«. Kein anderes Grundrecht ist in Deutschland »besonders« geschützt. Die vorherrschende Praxis der Familiengerichte kommt hingegen eher einer Familienzerstörung gleich. Bei ungefähr gleich guter Beziehung der Kinder zu beiden Elternteilen kann der Elternteil, der mehr Zeit mit den Kindern verbracht hat, sich im Falle eines Umzugs gute Chancen ausrechnen, die Kinder dem anderen Elternteil weitgehend oder komplett wegzunehmen, ganz unabhängig von der Sorgerechtslage.

Eigentlich müssten die Gerichte die Grundrechte der Kinder bei solchen Entscheidungen gesondert würdigen. Eigentlich ist es sogar ihr fundamentaler Auftrag, die Kinderrechte über denen der Eltern anzusiedeln. Schließlich folgt schon aus Artikel 1 des Grundgesetzes, dass kein Mensch primär als Objekt oder gar als Eigentum zu behandeln ist (das bei einem Umzug einfach mitgenommen wird). Somit müssten die Gerichte eigentlich urteilen: Ich kann dir nicht verbieten, umzuziehen, aber es ist nicht im Interesse der Kinder, ihr soziales Umfeld (weitgehend) und eventuell auch den Kontakt zum anderen Elternteil oder zumindest die Qualität der Beziehung zu ihm zu verlieren, also wäre dein Haushalt nach einem relativ weit weg führenden Umzug nicht mehr ihr Lebensmittelpunkt. Der Hintergedanke wäre dann: Mal sehen, ob du unter diesen Bedingungen wirklich umziehst; ob die Gründe, die du für den Umzug angibst, wirklich so stichhaltig sind. Doch das passiert nicht, denn, in den Worten des Oberlandesgerichts Stuttgart im Fall Fritz:

»Für die Beurteilung des Kindeswohls und die Abwägung der beiderseitigen Elternrechte ist nicht davon auszugehen, dass der Elternteil mit dem Kind im Inland verbleibt, selbst wenn diese Möglichkeit mit dem Kindeswohl am besten zu vereinbaren wäre. Tatsächlicher Ausgangspunkt muss vielmehr sein, dass der Elternteil seinen Auswanderungswunsch in die Tat umsetzt. (…) Die Motive des Elternteils für seinen Auswanderungsentschluss stehen grundsätzlich nicht zur Überprüfung des Familiengerichts. Es kommt nicht darauf an, ob der Elternteil triftige Gründe anführen kann.«

Verräterischerweise spricht das Gericht da nur von der »Abwägung der beiderseitigen Elternrechte«. Die Kinder werden in die Position rechtloser Möbelstücke gesetzt, die bei einem Umzug mitgenommen werden. Selbst wenn sie nach einem nicht zu weit weg führenden Umzug im typischen Modell leben, dass sie jedes zweite Wochenende beim anderen Elternteil verbringen – die Pendelei über größere Entfernungen ist nicht nur anstrengend und erfordert eine eher starre Regelung (weil Abweichungen Flexibilität beider Eltern erfordern, die ja bis zu einem gewissen Alter der Kinder die Wege mitmachen müssen), sondern verhindert sogar ein normales Aufwachsen, weil die Kinder bei ihren regelmäßigen Freizeitbeschäftigungen eingeschränkt werden. Wer zum Beispiel ein besonderes sportliches oder musikalisches Talent zeigt, aber seine ganze Kindheit über jedes zweite Wochenende seinen Wohnort verlassen muss, kann dieses Talent kaum zu einer Betätigung auf hohem Niveau ausnutzen.

Und die Gerichte setzen unnötigerweise noch einen drauf. Normalerweise wird nämlich dem benachteiligten Elternteil die Aufgabe zugewiesen, die Kinder für die Umgänge (das ist der juristische Begriff für die Treffen mit ihnen) zu holen und anschließend wieder zurückzubringen. Wäre es umgekehrt, dass also der privilegierte Elternteil die Wege auf sich nehmen muss, würde dieser schon aus eigenem Interesse nicht allzu weit wegziehen. Für die genannte Gerichtspraxis gibt es übrigens keine gesetzliche Grundlage.

Dass die Entfernung nach einem Umzug eine große Rolle spielt, liegt auf der Hand. Das schlägt sich auch in den Statistiken nieder. So hielt ein Forschungsteam des Deutschen Jugendinstituts 2022 im Fachmagazin Social Sciences auf Basis der Erhebung »Aufwachsen in Deutschland«: von 2019 fest: Wenn die Eltern in unterschiedlichen Städten wohnen, steige die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder bei der Mutter wohnen und keinen oder nur wenig Kontakt zum Vater haben. Auf Basis derselben Erhebung ist im aktuellen Familienbericht der Bundesregierung zu lesen, dass ein Viertel aller Trennungseltern mindestens eine Stunde Fahrt voneinander entfernt lebe. Da überrascht es nicht, dass mehr als 20 Prozent der Trennungskinder den Kontakt zu einem Elternteil komplett verloren haben. Die Studie »Getrennt gemeinsam erziehen« des Umfrageinstituts Allensbach im Auftrag des Bundesjustizministeriums von 2017 erbrachte folgende dazu passende Zahlen: Elf Prozent aller Trennungseltern lebten mehr als 300 Kilometer weit auseinander, weitere acht Prozent mehr als 100 Kilometer, und weitere acht Prozent mehr als 50 Kilometer.

Die vielen Kontaktabbrüche stehen nicht nur dem Geist des Grundgesetzes entgegen, sondern auch expliziten Vorgaben überstaatlicher Grundrechtsgarantien. So hält die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die 1992 in Deutschland in Kraft trat und wie ein Gesetz behandelt werden muss, in Artikel 9 fest: »Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes, das von einem oder beiden Elternteilen getrennt ist, regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbare Kontakte zu beiden Elternteilen zu pflegen, soweit dies nicht dem Wohl des Kindes widerspricht.« Und die im Jahr 2000 verabschiedete EU-Grundrechtecharta verlangt in Artikel 24: »Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.« Die parlamentarische Versammlung des Europarats verabschiedete zudem im Oktober 2015 die Resolution 2079 mit der Überschrift: »Gleichheit und gemeinsame elterliche Verantwortung, die Rolle der Väter«. Weil sie in mehreren Punkten Dinge empfiehlt, die in Deutschland im Widerspruch zur Rechtslage stehen, hat der Bundestag sie nicht übernommen. Darin wird jedenfalls festgehalten: »Eltern-Kind-Trennung hat unheilbare Auswirkungen auf ihre Beziehung. Eine solche Trennung sollte nur von einem Gericht und nur unter außergewöhnlichen Umständen mit ernsten Risiken für das Wohl des Kindes angeordnet werden.«

Komplette oder weitestgehende Kontaktabbrüche sind in Deutschland dessen ungeachtet an der Tagesordnung, und sie werden meist nicht wegen ernster Risiken angeordnet, sondern als Folge grundrechtlich extrem fraglicher Gerichtsbeschlüsse in Kauf genommen. Nicht selten ergeben sie sich schon aus einer schlechten Verfahrensführung des Familiengerichts. Es ist seit langem bekannt, dass die Verfahren in viel zu vielen Fällen so lange dauern, dass das Kind in der Zwischenzeit den weitgehend oder komplett abwesenden Elternteil ablehnt. Diese Ablehnung kann eine Reaktion auf den psychischen Druck sein, der entsteht, wenn das Kind den Widerspruch zwischen der Liebe zum Elternteil und dessen Abwesenheit oder sogar Diffamierung nicht verarbeiten kann.

Kuppinger gegen Deutschland

Schon 2011 wurde die Bundesrepublik vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt, weil der Vater Bernd Kuppinger, dem der Kontakt zu seinem anderthalbjährigen Kind von der Mutter fast immer verunmöglicht worden war, nach Stellung eines familiengerichtlichen Antrags rund fünf Jahre lang immer nur gerichtliche Zwischenentscheidungen erreichte und nur wenige Male sein Kind treffen konnte. Der EGMR wacht über die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention – noch so ein Grundrechtsdokument, das Familiengrundrechte festschreibt und in Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes hat. Er sah in dem besagten Fall gleich zwei Artikel der Konvention verletzt, nämlich wegen der langen Verfahrensdauer und weil es keine juristische Beschwerdemöglichkeit dagegen gab.

Wenige Monate, nachdem Bernd Kuppinger ein Schmerzensgeld von 5.200 Euro und eine Erstattung von Gerichts- und Anwaltskosten zugesprochen bekommen hatte, reichte er eine neue Beschwerde beim EGMR ein. Sie führte 2015 erneut zur Verurteilung der deutschen Justiz und Regierung (diesmal wurde ihm ein Schmerzensgeld im Umfang von 15.000 Euro zugesprochen). Diesmal ging es um Ereignisse, die nach dem Einreichen der ersten Beschwerde stattgefunden hatten. Die Mutter hatte trotz gerichtlicher Anordnung weiterhin den Kontakt zum Kind verhindert, und das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hatte nicht nachdrücklich versucht, seinen Beschluss durchzusetzen (so verhängte es nur ein Ordnungsgeld von lediglich 300 Euro, maximal wären 25.000 Euro möglich): Zudem verhängte es wegen der Unwilligkeit des mittlerweile neunjährigen Kindes, den ihm fremden Vater zu treffen, ein fast zweijähriges Kontaktverbot.

In diesem Fall sah der EGMR nicht nur einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, weil keine effektive Beschleunigung der Gerichtsverfahren möglich war, sondern auch gegen Artikel 8 der Konvention, der die Achtung des »Privat- und Familienlebens« vorschreibt. Die Verurteilung hatte zur Konsequenz, dass der Bundestag ein Jahr später speziell für Gerichtsverfahren, an denen Kinder beteiligt sind, einen Paragraphen einzuführen, mit dem Verfahrensbeschleunigungen erreicht werden können (§ 155 b FamFG).

Skandalöse Ausbildungsmängel

Die Unwilligkeit der deutschen Justiz sowie des Gesetzgebers, in Kindschaftsrechtsfällen die Wahrung der Kindergrundrechte sicherzustellen, zeigt sich auch an der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen. Nach wie vor gibt es keine verpflichtende familienrichterliche Ausbildung. Die Familiengerichte sind Abteilungen der Amts- und Oberlandesgerichte und als richterlicher Arbeitsplatz eher unbeliebt. Familienrecht wird kaum im Studium durchgenommen, wie eine hochrangige Familienrichterin 2019 im Rechtsausschuss des Bundestags berichtete. Wer so einen Posten übernimmt, muss sich nebenbei in die Familienrechtsprechung einarbeiten – theoretisch. Eine Verpflichtung dazu gibt es nämlich nicht. Die Kritik an diesem Zustand ist den Verantwortlichen in Justiz und Politik seit langem bekannt, aber es gibt offenbar nicht ausreichend Veränderungsdruck.

Ähnlich lax sind die Vorgaben für die freiberuflichen Verfahrensbeistände, die von den Gerichten beauftragt werden, die Interessen des Kindes zu vertreten. Erst seit 2021 sind für sie überhaupt fachliche Anforderungen gesetzlich festgeschrieben, aber eine staatliche Standardisierung für die Ausbildungskurse, die bundesweit nur wenige Institutionen anbieten, existiert nicht. Weiterhin kann also ein Familienrichter nach Belieben einen Verfahrensbeistand bestellen, der ihm in den Kram passt, etwa weil er ihn von früher kennt, als es noch keine gesetzlichen Vorgaben für die Qualifikationen dieses Berufsstands gab. Ein Verfahrensbeistand läuft zudem Gefahr, bei Kritik am Richter von diesem nicht mehr beauftragt zu werden. Es liegt also zudem noch eine finanzielle Abhängigkeit vor.

Auch die Jugendämter, die bei gerichtlichen Streitigkeiten um Kinder normalerweise eingeschaltet werden, sind oft nicht kompetent. Das ist auch im EU-Rahmen schon aufgefallen. Nachdem das EU-Parlament wegen der relativ vielen Petitionen ausländischer Eltern mit Beschwerden über das Agieren deutscher Jugendämter schon zwei Mal eine Delegation zur Bundesregierung geschickt hatte, fasste es im November 2018 einen mehrheitlichen Beschluss mit der Überschrift: »Rolle des Jugendamts in Deutschland bei grenzüberschreitenden Familienstreitigkeiten«. Darin wurde die Vielzahl der Petitionen angesprochen, »in denen eine sehr große Zahl nichtdeutscher Elternteile systematische Diskriminierung und willkürliche Maßnahmen des deutschen Jugendamtes gegen sie beklagen«.

2019 kritisierte ein Familienrechtsanwalt im Rechtsausschuss des Bundestages, dass Jugendamtsangestellte im Familiengericht nicht als Zeuginnen bzw. Zeugen gelten und damit nicht wegen Falschaussagen belangt werden können. Er fügte hinzu: »Sie können straflos lügen, aufbauschen, beschönigen, weglassen.« Die Jugendämter nannte er »die eigentlichen Herren des Verfahrens«. Hinzu kommt, dass es für sie keine Fachaufsicht gibt. Wer sich über Mitarbeiter des Jugendamts beschweren will, kann sich nur an die jeweilige Kommune oder den Landkreis wenden, dessen Verwaltung sie angehören, und dort ist niemand mit Kompetenz zur sachlich-fachlichen Prüfung des Vorgehens des Jugendamts vorgesehen.

»Offizielle Duldung«

Doch nicht nur bei den familiengerichtlichen Akteuren ist kein Verlass darauf, dass sie sich kompetent der Wahrung der Kindergrundrechte annehmen. Auch Deutschlands Strafjustiz versagt. Im Strafgesetzbuch gibt es mehrere Paragraphen, mit deren Hilfe Elternteile bestraft werden können, die ihren Kindern den anderen Elternteil vorenthalten und sie so der Gefahr psychischer (im Gesetz immer noch »seelischer« genannt) Schäden aussetzen: Paragraph 171 StGB (Vernachlässigung der Fürsorgepflicht), Paragraph 225 StGB (Misshandlung von Schutzbefohlenen) und Paragraph 235 StGB (Kindesentziehung).

Die Anwendung des Strafrechts ist aber unüblich. Der Jurist Jorge Guerra González, der als Verfahrensbeistand arbeitet und an der Universität Lüneburg lehrt, hielt in einem Beitrag für den 2023 erschienenen Sammelband »Recht für soziale Berufe 23/24« zur Ahndung von Eltern-Kind-Entfremdung fest: »Eine Anwendung des Strafrechts ist unbekannt.« Dabei hält der Skandal schon sehr lange an. Bereits im Dezember 1995 hielt der Psychologieprofessor und Gerichtssachverständige Wolfgang Klenner in der Zeitschrift für das gesamte Familienrecht fest: »Die Zahl widerspenstiger Sorgerechtsinhaber unter den Eltern, sowohl gegenüber außergerichtlichen als auch gegenüber gerichtlichen Bemühungen zur Respektierung der Umgangsbefugnis, hat derart zugenommen, dass darüber nicht mehr einfach zur Tagesordnung übergegangen werden kann.« Er diagnostizierte sogar eine »offizielle Duldung« dieser Straftaten, der »weiteres Unrecht und auch mangelnder Respekt vor der Gerichtsbarkeit auf dem Fuße folgen«.

So dürften mittlerweile Hunderttausende (ehemalige) Kinder und Jugendliche betroffen sein, hinzu kommen die leidenden Angehörigen. Die so erzeugten psychischen Schäden, unter denen die Gesellschaft in der einen oder anderen Form leidet, sind unermesslich.

Ralf Hutter ist Journalist und Autor des kürzlich erschienenen Buches: »Staatlich erzeugte Halbwaisen. Wie Gerichte und Jugendämter systematisch Trennungsfamilien zerstören« (Verlag Alibri, 166 S., 16 Euro).

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  • Leserbrief von Sabine Bartsch aus Wriezen (15. Juli 2025 um 11:46 Uhr)
    Welchem Bock seid Ihr da aufgesessen mit dem Artikel »Vom Staat getrennt«? (14.07.25)
    Die Gerichte müssten »Kinderrechte über Elternrechte« stellen, schreiben Sie. Hier spielen Sie zwei in unserem Staat mehr oder weniger entrechtete Gruppen gegeneinander aus: Frauen gegen Kinder; denn der Begriff der »Eltern« taugt nicht für die Realität der meisten Kinder in diesem Land.
    82 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen, einen Anteil von 10 Prozent weiblicher Mitglieder weist der Verein »Väteraufbruch« aus. Jährlich verhandeln Familiengerichte ca. knapp 150.000 Fälle von Umgangs- und Sorgerechtsentscheidungen nach Trennungen. Sind davon 82 Prozent Kinderrechte verletzende Jugendgerichtsentscheidungen? Wollten da eigentlich die Väter/Erzeuger lieber mit den Kindern allein leben?
    Tatsächlich entscheiden die Gerichte nicht im Sinne des Kindeswohls, wenn sie den für sie sorgenden Müttern damit gegen ihren begründeten Willen einen fortwährenden Kontakt zum Vater/Erzeuger des Kindes aufzwingen bzw. diesem ermöglichen über die »Kindergeiseln« weiter einen Platz im Leben dieser Frauen einzunehmen. Noch ungeheuerlicher ist es, einer Frau ihren Aufenthaltsort vorschreiben zu wollen. Männer tun das. Gerichte sind dafür da, das zu verhindern.
    Bei jeder 10. Trennung kommt es zu Gewalt des männlichen Expartners gegen Frau/Kind(er). »Nachtrennungsgewalt« heißt das. D. h. das Umgangsrecht ist ein Einfallstor für Nachtrennungsgewalt. (Nach Untersuchungen von Terre des Femmes, Mai 2025) Dass sich im Falle des per Gerichtsentscheidung »entrechteten« Mannes Rolf Fritz, (Der Mutter wurde das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Kinder zugesprochen, »da sie mehr Zeit mit den drei- und sechsjährigen Kindern verbracht hatte als der Vater«, der der Frau im Sinne seiner Forderung nach Umgangsrecht mit den Kindern ihren Aufenthaltsort gerichtlich vorschreiben lassen wollte), das Gericht auf eine geschlechterspezifische Sorgerealität in Deutschland bezieht, halte ich für angemessen. Nach wie vor klafft die Selbstwahrnehmung von Vätern bzgl. ihres Anteils an der Kindersorge in gemeinschaftlicher Erziehung sehr sehr weit von der diesbzgl. Wahrnehmung ihrer Partnerinnen auseinander. Und selbst in dieser Selbstwahrnehmung kommen sie nicht auf 50 Prozent. Die meisten Frauen, die mit »ihren« Männern Kinder großziehen, wünschen sich von ihnen mehr Teilhabe an der Sorgearbeit. Noch heute nimmt die überwiegende Mehrheit der Väter nicht die mögliche Elternzeit in Anspruch. Vor Gericht reicht es dann oft aus, dass der Mann/Vater/Erzeuger seinen Wunsch nach Umgang kundtut, um als engagierter, sorge- und umgangsberechtigter Vater anerkannt zu werden.
    Was aber Männer wie Rolf Fritz und Mitstreiter der Väterrechtsvereine in Anspruch nehmen, ist eine fortgesetzte Kontrolle über das Leben der Frau, die sie verlassen hat. Dass sie verlassen wurden, ist die Kränkung, über die sie nicht hinwegkommen. Es ist nicht ein Schmerz über den Verlust der Kinder. Auf den »Umgang« mit ihnen haben sie ja – statistisch gesehen -schon vor der Trennung mehr oder weniger weit reichend verzichtet. Nicht die Kinder werden von Gerichten und Müttern, die sich als Frauen einen neuen Aufenthaltsort suchen, wie Möbel verschoben, wie Sie es in Ihrer Reportage schreiben, Ralf Hutter; diese Männer betrachten Frau(en) und Kinder als ihr Eigentum.
    Die in dem Artikel wiedergegebene Aktion des Ralf Fritz (Bekletterung des Amtsgerichtes und Entfaltung eines Banners – Was stand da drauf?) zeugt von Größenwahn einer im Innersten gekränkten, als Kind zurückgesetzten, unerwachsenen Persönlichkeit mit entsetzlichen Minderwertigkeitsproblemen. Dieser Persönlichkeit entspricht ganz dem aggressiven Opferton des Vereins »Väteraufbruch« (s. Homepage) und er erinnert fatal an die Selbstdarstellung von AFD-Mitgliedern als Opfer eines »feministisch« ausgerichteten Staates und seiner Instanzen; d. h. sie sind antifeministisch und queerfeindlich. Nicht selten verkehren sie die Rollen von Opfern und Tätern. In ihrer pathetischen Bewertung der Rolle des Vaters qua Geschlecht sind sie patriarchalisch. Das ist eine gefährliche Mischung. Sie führt zu Gewalt an Frauen, zu deren Verunglimpfung bis hin zu Rufmord im privaten und Arbeitsumfeld. Viel zu häufig lassen sich Gerichte davon beeindrucken. Wenn nämlich Frauen vor Gericht den Umgang aus Sorge um das Wohl ihrer Kinder ablehnen, wird das nicht selten als »Bindungsintoleranz« gegen sie verwandt.
    Im Sinne einer Rehabilitation der jW und auch meiner Person als Betroffene wünsche ich mir eine »Gegenrecherche« von Euch.
    (Ich beziehe mich auf Daten des Bundesfamilienministeriums, Seiten von Terre des Femmes und einer Studie von Wolfgang Hammer von 2024 zu Macht und Kontrolle in familienrechtlichen Verfahren in Deutschland und auf eigene Erfahrungen)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ellen W. aus Berlin (14. Juli 2025 um 22:42 Uhr)
    Hi, könntet ihr euch, bevor ihr so etwas publiziert, mal mit den politischen Verwicklungen bspw. des hier genannten »Väteraufbruchs für Kinder« beschäftigen? Hinter deren und auch den hier genannten Positionen steckt seit einigen Jahren eine umfangreiche Lobbyarbeit der Väterrechtsbewegung, welche versucht, sie gesellschaftlich zu verankern. Die Netzwerke reichen bis in Incel-Kreise. Wer trägt denn in den allermeisten Fällen den größten Teil der ökonomischen Verpflichtungen und kümmert sich um konkrete Sorge und Mental load? Und wer hat ein großes Interesse daran, durch Wechselmodelle, welche aber trotzdem oft bedeuten, dass die Mutter weiter für das meiste sorgt zu vermeiden Unterhalt zu zahlen? Vor Jahren gab es mal einen sehr passenden Artikel von Anja Röhl zum Thema bei Euch. Solidarische Grüße
    • Leserbrief von Peter Nowak aus Berlin (15. Juli 2025 um 14:40 Uhr)
      Warum der Vorwurf, die Väterrechtsbewegung mache eine »umfangreiche Lobbyarbeit«? Die verschiedenen Mütterorganisationen machen doch auch ihre Lobbyarbeit und sind dabei nicht erfolglos. Sie propagieren dabei oft die Vorstellung, dass die Mütter sich um die Kinder kümmern müssten, die wenig mit Feminismus, aber viel mit einem konservativen Frauenbild zu tun haben. Gerade Feministinnen, die immer mit Recht fordern, dass sich die Männer ebenso um ihre Kinder kümmern sollen und es nicht den Frauen überlassen, müssten doch mit dem Zielen der Väterbewegung übereinstimmen.

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