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Aus: Ausgabe vom 11.07.2025, Seite 15 / Feminismus
»Chopin in Kentucky«

Kunst als Überlebensstrategie

»Chopin in Kentucky«: Ein kleines Mädchen in der amerikanischen Provinz der 1970er Jahre kämpft für Selbstverwirklichung und die Befreiung vom gewalttätigen Vater. Eine Rezension
Von Mona Grosche
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Elizabeth Heichelbech war selbst professionelle Tänzerin

Roanville, Kentucky, ist kein Ort, wo hochfliegende Träume wahr werden. Schon gar nicht für jemanden wie Marie Higginbottom. Die Zehnjährige lebt hier in sehr bescheidenen Verhältnissen und leidet sowohl unter dem Chaos, das die Großfamilie beherrscht, als auch unter der Gewalttätigkeit des Vaters, der als religiöser Eiferer ein eisernes Regiment führt. Die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt. Sie verfolgt ein Bastelprojekt nach dem anderen und müllt das ganze Haus mit vermeintlich nützlichem Kram zu. Außerdem hortet sie muffig riechende alte Stoffe, um damit Marie und die anderen Geschwister nach dem modischen Vorbild der Siedlerserie »Unsere kleine Farm« auszustaffieren. Sie ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie weder den Schimmel in ihrem heruntergekommenen Haus bemerkt noch versteht, dass sie ihre Sprösslinge zum Gespött von Mitschülern und Nachbarn macht.

Da wundert es wenig, dass Marie keinerlei Freunde hat – außer ihren eingebildeten ständigen Begleiter, den französischen Komponisten Frédéric Chopin. Er bereichert ihren öden Alltag, der allenfalls durch Besuche im örtlichen »Kmart« (einem Supermarkt) aufgelockert wird, mit seinem intellektuellen Parlieren. Mitunter nervt er sie aber auch gewaltig mit seinen Starallüren und seiner gnadenlosen Kritik. Doch der einförmige Trott wird plötzlich durchbrochen. Ihr Leben erfährt eine drastische Wende, als eine Balletttruppe aus Paris (natürlich dem in Kentucky, nicht in Europa) zu einem Gastspiel in die Kleinstadt kommt. Und damit nicht genug: Ausgerechnet sie und ihre Familie werden Teil des kulturellen Ausnahmeereignisses, denn einige der Tänzerinnen übernachten in ihrem Haus. Solche Sensationen hat Marie noch nie erlebt und da macht es letztendlich auch nichts aus, dass sie sich aus Versehen über einen der Übernachtungsgäste übergeben muss.

Von der Aufführung förmlich verzaubert, beschließt Marie, selbst als Tänzerin Karriere zu machen. Doch der seit einer Kopfverletzung unberechenbare Vater will davon nichts wissen. Sie muss dementsprechend einige Tricks anwenden, um dennoch zum Tanzunterricht zu kommen. Das ist für sie überlebenswichtig, denn im Ballett sieht sie die einzige Chance, der Gewalt und der Verwahrlosung in ihrer »White Trash«-Familie zu entfliehen. Unterstützt wird sie dabei von ihrer neuen realen Freundin Misty McPherson, die ihrerseits als erstes weibliches Kinder-Elvis-Double entdeckt werden will.

Aus dem Blickwinkel Maries erleben wir die bewegende, mitreißende Coming-of-Age-Geschichte einer Kämpferin, die sich mit Sturheit, Willenskraft und Optimismus die Basis für ein besseres Leben erschafft. Mit hintergründigem Humor und einigem Sarkasmus lässt uns Elizabeth Heichelbech an Maries Befreiung aus vorgegebenen Rollenerwartungen teilhaben.

Und insbesondere Marie und Misty überzeugen als authentische weibliche »Heldinnen«, die allen Hürden zum Trotz mutig ihr Anderssein ausleben. So sorgen schillernde Figuren (imaginäre wie echte) und der Spannungsbogen zwischen Kunst und Provinztristesse dafür, dass man Maries Befreiungskampf gebannt mitverfolgt, auch wenn manche Szenen des teilweise autofiktionalen Romans nur schwer auszuhalten sind. Dennoch ist es eine lohnende Lektüre, die mit viel Fingerspitzengefühl und großer Empathie zeigt, wie wichtig es ist, insbesondere als Mädchen die eigenen Träume zu verfolgen – egal, was die Umwelt dazu sagt.

Elisabeth Heichelbech: Chopin in Kentucky, Schöffling & Co. 2025, 256 Seiten, 24 EUR

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