Der Sinn der Sprache
Von Enno Stahl
Hat Dietmar Dath wieder einen Science-Fiction-Roman geschrieben? Ja. Vielleicht aber auch nicht. Es ist ziemlich polyperspektivisch. Aber, um genau zu sein: Das fast tausendseitige Mammutwerk endet jedenfalls in fernerer Zukunft und mit Wissenschaft hat es sowieso zu tun.
Worum es geht, ist nicht einfach zu sagen. Andererseits allerdings schon: Die schwer hochbegabte Renate Hofer, Sonderkind aus Superreichenkontext, verwendet all ihr Können, Wissen, ihre ganze Außergewöhnlichkeit darauf, eine Maschine zu bauen, das Katakategorion, die fundamentale Folgen für die Welt hat. Fragt sich nur welche, fragt sich nur, wofür diese Maschine eigentlich da ist. Das Denken zu verändern? Die Gesellschaft zu verändern, oder besser: alles komplett umzukrempeln? Wahrscheinlich ja, all das. Doch bleiben diese Maschine und ihre Effekte lange Zeit weitgehend diffus.
Renate Hofers Kindheit wird erzählt – und dann, wie sie langsam hineinwächst in die Rolle, die sie sich zugedacht hat. Sie ist schon so etwas wie eine Superheldin: super-lakonisch, super-witzig, super-schlau und super-sexy. Hat auch viel Sex mit Männern und Frauen, mitunter auch mehreren, treibt ziemlich heftige Spielchen mit der Psychologin Melissa und dem Vernehmen nach auch mit einem Hund.
Sie schart nach und nach Leute mit ausufernder Intelligenz um sich, die sich mit den komplexesten neuro- und computerlinguistischen Prozessen befassen, mit den Zusammenhängen von Physik und Sprache, mit Programmierung. Das Niveau, das Dath hier inszeniert, ist nicht gerade niedrig. Er macht keine Kompromisse. Nicht mit dem Buchmarkt, auch nicht mit den Leserinnen und Lesern. Er tut einfach, was er tun muss, und so, wie er das will. Das ist schon mal sehr gut.
Es ist ein avanciertes Erzählen, hochreflexiv, dennoch salopp geschrieben. Verschiedene Textsorten und Textebenen: Lange theoretische Exkurse stehen alltagsrealistischen Schilderungen gegenüber und mimisch-notierten Dialogen mit Stockungen und Auslassungen, semantisch falschen Anschlüssen, ganz so, wie man spricht. Dann wieder verfremdete Passagen, die in ihrer Bildlichkeit und Drastik komplett an Bizarrcomics erinnern.
Das heißt nicht, dass das Ganze ohne Story wäre. Die kristallisiert sich nur nicht ganz so schnell heraus. Ein zentrales Ereignis, das man zunächst kaum begreift, ist ein logisches Paradoxon. Renates zeitweiliger Freund, der Physiker Patrick, ist völlig von der Rolle wegen des kleinen Sohnes eines Kollegen, Emil Kurland, der nicht glaubt, dass Ausländer wirklich eine Sprache sprechen, weil er sie nicht versteht. Alle ihre Reaktionen auf das, was gesagt wird, tut er kaltschnäuzig ab: »Das machen sie sowieso.« Dafür bräuchten sie keine Sprache, wie Tiere halt.
Patrick setzt das so unter Druck, dass er seine Exfreundin Kerstin Waldmann besucht, die am MIT in Boston arbeitet. Er erhofft sich von ihr den Beweis, dass Sprache etwas bedeutet, dass sie zielgerichtet ist und Interaktion bewirkt. Aber ihre Forschung weist ebenfalls auf eine gewisse Beliebigkeit des sprachlichen Vermögens.
Man hält das Ganze vielleicht für abgehoben und ephemer. Doch es ist der Nukleus des gesamten riesigen Romanwerks. Denn um eine ganz neuartige Art von (Programmier-)Sprache geht es auch bei der Maschine, die Renate Hofer mit all diesen verschiedenen Expertinnen und Experten zu bauen beabsichtigt – eine Sprache, die Realitäten erzeugt, Gegenstände und Sachverhalte, die also weit mehr generiert als unsere aktuelle künstliche Intelligenz. Gewissermaßen ein überdimensionaler 3-D-Drucker, der ganz losgelöst von äußeren Eingaben Wirklichkeit produziert, Emergenz aus dem Nichts.
Dath baut ebenso schnoddrig wie souverän immer wieder Figuren aus älteren Büchern mit ein (den Mathematiker Gerhard Gentzen und den Physiker Paul Dirac zum Beispiel, beides zugleich reale Personen) und wirkt sogar selbst als Lohnschreiber für Renate Hofer, dann wiederum für deren Widersacherin Cordula Späth, die bereits 1995 im Debütroman Daths auftauchte.
Jede Menge Personen treten in Erscheinung, die Kontexte bleiben lange obskur und doch führt am Ende alles zusammen. Ein entscheidender Schritt für die Realisierung der Maschine ist, dass die begabte Neurolinguistin Kerstin Waldmann durch eine OP mit einem neuen »Leib« versehen wird und so Direktkontakt zu den »Freunden und Nachbarn« bekommt: Diffpersonen, irgendwie rein digitale Entitäten, die über ein gemeinsames Netzwerk unmittelbar kommunizieren. Für Kerstin fühlt sich das so an: »Das war, als fallen die Gedanken durch den Kopf und den Hals und die Brust. In die Arme. In die Hände, in die Finger, und stürzen da durch. (…) Und da gab es eine Rückkopplung, da hatte ich plötzlich die Frage wie so einen quer gelegten Riegel in mir: Wo sitzen die Gedanken eigentlich sonst?«
Zum Dank dafür schneidet ihr Renate Hofer später, wieder so eine mangaartige Szene, die Kehle durch. Denn mit dieser neuen Fähigkeit ist Kerstin für die Maschine auf Dauer zu gefährlich.
Irgendwann erfolgt ein Zeitsprung in die Zukunft, 80 oder 100 Jahre von heute aus. Inzwischen leben Menschen und Diffpersonen einträchtig mit komischen Zwittertieren im Katakategorion. Während die restliche Welt nahezu untergegangen ist, verschieden an den Widersprüchen eines dysfunktionalen Kapitalismus, bildet das Katakategorion, abgeschottet von alldem, ein selbsterhaltendes System. Die Maschine ist in Wahrheit eine Stadt, die sich stets aus sich selbst heraus weiterentwickelt, eine Art Paradise in progress.
Doch Unbill naht. In Gestalt von Emil Kurland. Er hat ebenso wie Renate und viele andere Figuren des Buches verschiedene Mutationen erlebt und greift mit all seinem Hass und seiner Kälte die ideelle Stadt an. Es ist die Endschlacht derer, die an die Sprache glauben, gegen jene, die das nicht tun. Der Grundkonflikt des Romans. Kurland möchte verhindern, dass die Stadt ihre letzte Wandlung erlebt: Sie »soll sich nicht zu Ende denken, sich nicht ausformulieren dürfen.«
Aber Renate hat das eingeplant: »Ringsum taucht die Stadt in den Satz, zu dem sie wird / Von unten und von oben her kommt sie zu sich selbst. / Es ist kein Untergang, es ist eine Formulierung.«
Alles irisierend, oberseltsam und super. Natürlich auch eine Zumutung. Toll, dass es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur überhaupt noch solche Zumutungen gibt und Verlage, die solch aufwendige Buchprojekte zu realisieren wagen.
Dietmar Dath: Skyrmionen oder: A Fucking Army. Matthes & Seitz, Berlin 2025, 966 Seiten, 38 Euro
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