Die kleinen Gesten
Von Andreas Müller
Timo Boll hat sein »Tischtennisalter« so weit wie möglich gestreckt. Nun endete die leistungssportliche Karriere des beliebten Ausnahmeathleten. Vorigen Sonntag spielte der 44jährige im Bundesligafinale zwischen seiner Düsseldorfer Borussia und Ochsenhausen sein letztes professionelles Match. In vollbesetzter Halle, vor den Augen seiner Familie, Dirk Nowitzki und zahlreichen Wegbegleitern, musste er sich Vizeweltmeister Hugo Calderano aus Brasilien knapp mit 9:11 im fünften Satz geschlagen geben. Er unterlag wie sein Team mit 2:3 und verpasste den Gewinn seiner 15. nationalen Mannschaftsmeisterschaft. Natürlich waren ihm die Ovationen der rund 5.000 Zuschauer dennoch sicher.
Der Aufstieg von Timo Boll und seine Triumphe in der von der Tischtennisnation China dominierten Sportart muten für einen Mitteleuropäer nahezu surreal an. Viermal schaffte er es an die Spitze der Weltrangliste, zunächst 2003 als erster deutscher Tischtennisspieler überhaupt. Zuletzt im Jahr 2018 als 37jähriger und damit bislang ältester Spieler. Zu einer Einzelmedaille bei Olympia hat es für den zweimaligen WM-Dritten und zweimaligen Sieger des Weltcups der besten Solisten trotzdem nie gereicht. Doch er führte das Männerteam bei den Spielen in Beijing 2008 und 2021 in Tokio jeweils zu Silber sowie 2012 in London und 2016 in Rio zu Bronze.
Der Rekordeuropameister (achtmal) wird nicht nur wegen seiner üppigen Medaillensammlung in Erinnerung bleiben: Unvergessen ist seine Fairplay-Geste vor einem Milliardenpublikum an den TV-Geräten, als er bei den Tischtennisweltmeisterschaften 2005 in Shanghai den Schiedsrichter korrigierte. Zum eigenen Nachteil, wohlgemerkt. Der Referee hatte einen Kantenball seines Kontrahenten Liu Guozheng übersehen. Ähnlich großartig hatte sich Boll drei Jahre zuvor bei den »Katar Open« verhalten. Im Viertelfinale beschädigte der damalige Weltranglistenzweite Ma Lin aus China den Belag seines Schlägers und hätte laut Reglement nur mit einer Ersatzkelle weiterspielen dürfen. Weil keine vorhanden war, akzeptierte Boll, dass sein Gegenüber an der beschädigten einen neuen Belag aufklebte – und unterlag mit 1:4 Sätzen.
Solche Gesten wiegen so schwer wie sportliche Meriten. Stets hat Boll ohne Ausreden anerkannt, wenn ein anderer besser war. Fairplay und sportliche Weltklasse waren für ihn zwei Seiten derselben Medaille. Diese Haltung hat ihm auch in der »Heimat des Tischtennis« zu einer enormen, hierzulande unvorstellbaren Popularität verholfen. Boll war in der Volksrepublik fast so beliebt wie die chinesischen Stars. Zugleich war er dort zu seiner sportlich besten Zeit gefürchtet wie kein anderer. Phasenweise sollen die chinesischen Asse gegen »Boll-Kopien« trainiert haben. So versuchten sie sich an die unangenehme Spielweise des Linkshänders zu gewöhnen.
Zuletzt plagten Boll immer wieder Schmerzen, seine lange Karriere forderte zunehmend ihren Tribut. Schon 2016 hatte er ein EM-Match verletzungsbedingt aufgegeben. Er musste lernen, mit seinen Kräften zu haushalten. Um so erstaunlicher, dass Bundestrainer Jörg Roßkopf ihn noch einmal für die Sommerspiele 2024 nominierte. Damit bringt es Boll auf insgesamt sieben Olympiateilnahmen. So viele, wie aus den Reihen der deutschen Männer nur noch Springreiter Ludger Beerbaum und Sportschütze Ralf Schumann vorweisen können. Trotz der Niederlage bei Olympia in Paris gegen Schweden im Viertelfinale gab es für »Oldie Boll« bei seinem letzten Einsatz im Nationalmannschaftstrikot von den Zuschauern reichlich Beifall.
Sein letztes internationales Match im Verein bestritt er Anfang dieses Monats im Finale der Champions League, wo Düsseldorf gegen Saarbrücken unterlag. Nun also der endgültige Schlusspunkt beim Bundesligafinale in Frankfurt am Main. Damit schloss sich ein Kreis. 1981 im nahen Odenwald geboren und bis heute dort zu Hause, wurde Timo Boll als Junge vom langjährigen Landestrainer Helmut Hampl entdeckt. In Frankfurt schnupperte er erstmals Oberligaluft. 1995 heuerte das Jahrhunderttalent beim mittelhessischen TTV Gönnern an, unter einer Bedingung: Seine Mannschaftskollegen wurden verpflichtet, täglich mit dem damals 14jährigen zu trainieren.
Der Aufwand hat sich gelohnt. 1996 stieg Gönnern in die Bundesliga auf. Timo Boll, längst ein Weltstar, hielt dem Verein die Treue. Er wechselte erst 2007 zur Borussia nach Düsseldorf. »Beim letzten Punkt wird es schwer und schlimm«, wähnte er schon letztes Jahr.
Damit im sportlichen Ruhestand keine Langeweile aufkommt, machte ihn der Deutsche Tischtennisbund (DTTB) jüngst zu seinem »Botschafter«. Einen besseren kann man sich kaum vorstellen.
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