»Ihre Geschichte selbstbestimmt erzählen«
Von Ina Sembdner
Sie sind die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Seit wann und mit welchem Auftrag arbeitet Sie?
Die Kommission gibt es seit 2016, und unser Auftrag ist es, den sexuellen Kindesmissbrauch in allen Kontexten aufzuarbeiten. Und zwar seit Gründung der Bundesrepublik, sowohl für die DDR als auch für die BRD, und dann nach der »Wende« auch für Gesamtdeutschland.
Sie arbeiten eng mit Betroffenen zusammen. Wie gestaltet sich das?
Der Kern unserer Arbeit besteht darin, dass wir Betroffene oder auch Zeitzeugen dazu aufrufen, uns ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen. Wenn sie sexuellen Kindesmissbrauch erlebt haben, egal in welchen Bereichen, dann haben sie die Möglichkeit, uns einen schriftlichen Bericht zu schicken oder eine vertrauliche Anhörung mit uns zu verabreden. Ein Team von etwa 20 Anhörungsbeauftragten in ganz Deutschland bietet einen geschützten Rahmen von etwa zwei Stunden, in dem Betroffene oder Zeitzeugen ganz selbstbestimmt ihre Geschichte erzählen können. Und damit arbeiten wir dann weiter.
Wir haben mit dem Portal »Geschichten, die zählen« einen digitalen Erinnerungsort geschaffen. Mehr als 100 Geschichten gibt es dort bereits, monatlich stellen wir eine weitere ein. Mit diesen Geschichten arbeiten wir auch wissenschaftlich weiter. Wir geben Fallstudien in Auftrag und versuchen so, Empfehlungen auszusprechen für die Politik, aber auch für Institutionen. Unser Auftrag ist es, genau hinzuschauen: Wie sind typischerweise Täter oder auch Täterinnen vorgegangen? Wie konnte es sein, dass die Kinder und Jugendlichen alleine gelassen wurden? Warum haben sie keine Hilfe erfahren? Oder haben sie vielleicht sogar versucht, sich an jemanden zu wenden? Und wie wurde dann damit umgegangen? Wo wurden Taten vertuscht, bagatellisiert? Und weil die Betroffenen jetzt erwachsen sind, geht es auch um die Folgen.
Viele Betroffene machen also Gebrauch von dem Angebot?
Genau, es haben uns seit 2016 schon über 3.000 Menschen ihre Geschichte erzählt, die meisten in einer vertraulichen Anhörung. Diese Anhörungen sind für uns sehr wichtig, weil sie eine Form von Anerkennung darstellen für das erlebte Leid und Unrecht.
Aus welchen Bereichen wenden sich Personen oder eventuell auch Personengruppen an Sie?
Tatsächlich hat der größte Teil der Betroffenen den Missbrauch in der eigenen Familie erlebt, viele aber auch im näheren sozialen Umfeld. Wir haben Betroffene aus den Kirchen, aus organisierten Freizeitangeboten, aus der Schule und aus Heimen. Erst am Dienstag hatten wir ein großes öffentliches Hearing zum Thema sexueller Kindesmissbrauch in der Heimerziehung. Das ist noch eine Form, die wir anbieten, so dass Menschen ihre Geschichte öffentlich erzählen dürfen.
Sie haben eine Vorstudie zu pädosexuellen Netzwerken in Berlin in den 1980er und 1990er Jahren veranlasst und 2021 veröffentlicht. Wie lässt sich dieser Bereich einordnen?
Erst in den letzten Jahren hat die Aufarbeitung dahingehend zugenommen. In diesem Bereich, den ich jetzt mal den der emanzipatorischen sozialen Bewegungen nenne, und dazu würde ich im weitesten Sinne auch die Jugendantifagruppe Edelweißpiraten und die Antifaszene zählen, sind emanzipatorische Ansätze verfolgt und alternative Lebenskonzepte entwickelt worden. Das war erst mal etwas Progressives. Gleichzeitig wissen wir, dass eben auch diese sehr liberalen Strukturen Risiken bergen. Wenn keine Generationengrenzen mehr wahrgenommen werden, wenn überhaupt keine Hierarchien mehr existieren, dann können diese informellen Strukturen viel wirkmächtiger werden. Und das ist für Kinder und Jugendliche dann noch schwieriger, sich dagegen wehren zu können. Bei den Edelweißpiraten ist es noch mal extremer, weil es nicht mal diese institutionellen Strukturen gibt, die wir in irgendeiner Form zur Verantwortung ziehen können. Lose Netzwerke machen auch die Aufarbeitung heute so schwierig.
Erhalten Sie von politischer Seite die Unterstützung, die es braucht?
Hier sind wir erst mal sehr zuversichtlich. Zum 1. Juli tritt das »Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen« in Kraft, das die Unabhängige Kommission neben anderen Bundesstrukturen gesetzlich verankert. Bisher wurde unser Auftrag über Kabinettsbeschlüsse verlängert, und wir hatten immer die Sorge, dass unsere Arbeit irgendwann eingestellt wird. Bei den kommenden Haushaltsverhandlungen hoffen wir auf die entsprechenden Ressourcen, um die Aufgaben, die im Gesetz formuliert sind, auch wirklich umsetzen zu können. Denn neben den Anhörungen wollen wir Aufarbeitungsprojekte in den Kirchen, in den Schulen, aber eben auch in wenig organisierten Strukturen wie den Edelweißpiraten oder auch in Familien voranbringen.Interview:
Julia Gebrande ist Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.
Siehe auch
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