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Aus: Ausgabe vom 18.06.2025, Seite 4 / Inland
35 Jahre nach dem Anschluss der DDR

Beauftragte erfüllt Auftrag

»Einfache NSDAP-Mitglieder«: Ombudsfrau für Opfer der »SED-Diktatur« legt Jahresbericht vor, darunter auch Inhaftierte sowjetischer Speziallager. Von Marc Bebenroth
Von Marc Bebenroth
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Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (M.) zu Besuch in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen (17.6.2025)

Wer sogar den Zusammenbruch der Wirtschaft im Ostdeutschland der 1990er Jahre der politischen Führung der DDR anlastet, hat eine Mission. So diente auch der Termin am Dienstag in der Bundespressekonferenz vor allem zwei Zielen: einmal mehr der Öffentlichkeit die Doktrin vom »Unrechtsstaat DDR« in Erinnerung rufen und die Forderung nach höheren Leistungen für amtlich definierte Opfergruppen stellen. In ihrer Rolle als vom Bundestag bestellte »Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur« hat Evelyn Zupke sich vor allem für die staatliche Entschädigung der Menschen ausgesprochen, die aufgrund des »Zwangsdopings« des DDR-Sportsystems bis heute gesundheitliche Belastungen erleiden würden.

Den anwesenden Journalisten stellte Zupke ihren neuen Jahresbericht vor, den sie am selben Tag an Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CSU) überreichte. Das dafür gewählte Datum, der 17. Juni, ist die übliche Anspielung auf die Proteste und Kundgebungen in der DDR im Jahr 1953, die in der BRD-Rückschau zum »Volks«- oder »Arbeiteraufstand« stilisiert werden. Dem 104 Seiten umfassenden Papier zufolge unterscheidet die Bundesbeauftragte neben den zwangsweise und teils ohne deren Wissen Gedopten noch zwischen 21 weiteren Opfergruppen, wobei die in Westdeutschland lebenden Betroffenen als eigene Gruppe zählen.

Bekannt sei über deren Größe nur, dass »rund ein Fünftel« aller Bezieher der sogenannten SED-Opferrente in den westdeutschen Bundesländern lebt. Insgesamt bilde diese Gruppe »das gesamte Spektrum« erlebten »SED-Unrechts« ab: »politische Haft, Zersetzung oder Einweisung in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe oder Anstalten« sowie »politisch motivierte Eingriffe in Familien«, Zwangsaussiedlungen – von der deutsch-deutschen Grenze ins DDR-Inland –, Verhinderung von Bildungs- und Berufswegen und Schulabschlüssen.

Konkrete Zahlen nannte Zupke auf Nachfrage von jW zu den »politischen Häftlingen«. Zwischen den Jahren 1945 und 1989 – die Bundesbeauftragte zählt Fälle aus der Besatzungszeit nach dem Krieg mit – seien es rund 250.000 gewesen. »Hier schwanken die Zahlen etwas«, relativierte Zupke die mit Blick auf die Zeitspanne von knapp 45 Jahren auffallend hoch wirkende Angabe. In jedem Jahr hätte es demnach mehrere tausend neue politische Häftlinge geben müssen. Die »Schwankungen« lägen daran, »dass eben viele Menschen auch schon tot sind« und nicht »von Anfang an alles dokumentiert und erfasst werden konnte«, wie das heutzutage möglich sei.

Unterschieden werde zwischen den »Politischen«, also denjenigen, »die nach dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz« erfasst seien, und den »Jugendlichen, die in Spezialkinderheimen und Jugendhöfen waren«. Bei letzteren handele es sich um etwa 135.000 Menschen. »Das sind die, die die Opferrente auch bekommen, zum Beispiel, wenn sie mehr als 90 Tage inhaftiert waren«, erklärte Zupke.

Mit Blick auf Gefangene, die in der DDR Möbel etwa für IKEA produziert hatten, begrüßte Zupke, dass das schwedische Unternehmen sich mit sechs Millionen Euro an der Entschädigung der Betroffenen beteilige. Auf jW-Nachfrage, was die Arbeit von Gefängnisinsassen speziell mit der »SED-Diktatur« zu tun habe, sagte die Beauftragte: »Die DDR war eine Diktatur«, und diese Menschen seien unschuldig im Gefängnis gewesen. »Sie mussten diese Haftzwangsarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen leisten«, betonte Zupke.

Der Jahresbericht listet unter den »SED-Opfern« auch »Inhaftierte der sowjetischen Speziallager und ihre Angehörigen« auf. »Etwa 176.000« hätten in den Speziallagern eingesessen, heißt es. Unter ihnen nicht nur NSDAP-Mitglieder oder Repräsentanten des faschistischen Staatsapparates, sondern auch, so wörtlich, »Partisanen« und jene, die sich »ablehnend« gegenüber der Besatzungsmacht »verhielten«.

In dem Zupke-Papier wird behauptet, dass die sowjetische Seite keine »präzisen Kriterien« zur Entnazifizierung formuliert habe. Der Bericht postuliert, dass »tatsächlich für das NS-System Verantwortliche« nur »in geringem Maße« in den Speziallagern einsaßen. Die Mehrzahl seien »einfache NSDAP-Mitglieder, Mitläufer und Parteifunktionäre der unteren Ebene« sowie »vollkommen Unbeteiligte« gewesen. Auf Nachfrage von jW, ob mit dem staatlichen Gedenken an »Opfer des Kommunismus«, zum Beispiel durch das geplante Mahnmal, nicht auch Faschisten geehrt werden, betonte die Opferbeauftragte, dass man Nazis keineswegs zu den Opfergruppen zähle.

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  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (18. Juni 2025 um 02:26 Uhr)
    »Etwa 176.000« hätten in den Speziallagern eingesessen, heißt es. Unter ihnen nicht nur NSDAP-Mitglieder oder Repräsentanten des faschistischen Staatsapparates, sondern auch »Partisanen« und jene, die sich »ablehnend« gegenüber der Besatzungsmacht »verhielten«. Wer dort im Osten einsaß bestimmte in letzter Instanz nicht die SED, sondern die Besatzungsmacht, ebenso wie in den Westzonen. Und nun warten wir gespannt auf den Bericht eines Bundesbeauftragten für die Opfer der US-amerikanischen Besatzungsmacht in Speziallagern für deutsche Kriegsgefangene, Anhänger des NS-Regimes und Gegner der Besatzungsmacht namens »Rheinwiesenlager« (von den USA weniger nett »concentration camps« genannt). Doch starben mehr als 176.000 Menschen unter unmenschlichen Bedingungen. Also starben dort mehr als im Osten in Speziallagern überhaupt einsaßen. Die Lebensmittelrationen der Kriegsgefangenen in der UdSSR waren die gleichen wie für die Bevölkerung, während man sich in den US-Speziallagern von Unkraut ernährte, in schlammigen Erdlöchern, ohne Dach, ohne Decke, teils sogar ohne Mantel, Hunderttausende Gefangene, eng bei grassierender Ruhr und anderen Epidemien. Die Menschen starben wie die Fliegen. Hilfslieferungen aus der Schweiz vom Roten Kreuz wurden nicht durchgelassen. Verwandte, welche durch den Stacheldraht Essen durchreichen wollten, wurden erschossen. Christiane Weber vom Referat Gedenkarbeit Rheinland-Pfalz schreibt dazu: »Vertreter der extremen Rechten nutzen die Thematik und verbreiten falsche, übertriebene oder aus dem Zusammenhang gerissene Darstellungen der Bedingungen in den Kriegsgefangenenlagern, um Stimmung gegen demokratische Werte zu machen. Die Rheinwiesenlager müssen aber mit dem politischen und militärischen Geschehen vor 1945 in Verbindung gebracht werden, denn die Lager sind eine Folge der NS-Diktatur, des von Deutschland ausgehenden Zweiten Weltkriegs sowie der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.«
    Schau an, so kann man das auch formulieren, wenn es um einen jetzigen Verbündeten geht und nicht um Russen oder um die DDR. Kritik an diesen Zuständen im Westen wird nach üblicher Masche sofort als rechtsextrem gebrandmarkt. Kritik an sowjetischen Speziallagern ist dagegen demokratisch und erfordert bezahlte Beauftragte. Die Rheinwiesenlager hat man mit Erfolg im Herbstnebel verschwinden lassen. Der NS-Gegner (also kein Rechtsradikaler) Bischof Clemens August Graf von Galen sprach nach Empfang der Kardinalsinsignien im Februar 1946 in Rom in einer eine Rede über die von den westlichen Siegern betriebenen Internierungslager: »Die Alliierten setzen in Deutschland eine Militärpolizei ein, die außerhalb des Bereichs aller ordentlichen Gerichte steht und keinem Gericht verantwortlich ist. Die Polizei bedarf ebenso wenig wie die Gestapo eines richterlichen Befehls, um einen deutschen Bürger zu verhaften. (…) Sie verhaftet, genau wie die Gestapo, die Männer nachts, holt sie ohne Angabe des Grundes der Verhaftung aus den Häusern, schafft sie weg, ohne der Familie Mitteilung zu machen, wohin sie gebracht werden, schneidet jede Verbindung zwischen der Familie und den Häftlingen ab, hält sie monatelang im Lager, ohne sie zu verhören, kurz, sie hat die Methode der Gestapo übernommen.«

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