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Aus: Ausgabe vom 16.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Wohnungspolitik

Superblock des Sozialismus

100 Jahre: Der Sandleitenhof, der größte Gemeindebau des »Roten Wiens«, feiert Jubiläum. Eine Würdigung
Von Anselm Schindler
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Nützliche Steuer: Sandleitenhof in Wien

In der Hektik der Stadt wirkt der Sandleitenhof wie eine kleine, in sich ruhende Welt. Ein Ort, an dem sich das Leben langsamer anfühlt. Die auf unterschiedlichen Ebenen gelegenen Gebäude des Sandleitenhofes sind durch verwinkelte Steintreppen verbunden, die Mauern dick, trotzig. Die Assoziation zur Burg drängt sich förmlich auf, was passt: Die Gemeindebauten wurden von der Sozialdemokratie in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch als Bollwerke gegen den aufziehenden Faschismus errichtet. Aber beginnen wir von vorne.

Der Sandleitenhof entstand in einer Zeit heftiger sozialer Kämpfe. Nach dem Gemetzel des Ersten Weltkrieges war Wien geprägt von Massenarbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hunger. Gleichzeitig war da Hoffnung: Die Monarchie war gefallen, und in der Ersten Republik des neuen demokratischen Österreichs regierte die sozialdemokratische Partei die Hauptstadt, in scharfem Kontrast zum tiefschwarzen, von der rechtskonservativen Christlichsozialen Partei, der Vorgängerpartei der heutigen Österreichischen Volkspartei (ÖVP), dominierten Umland. Ziel der Sozialdemokratie war damals nicht weniger als die vollständige Umgestaltung der Lebensrealität der arbeitenden Klasse. In einer beispiellosen kommunalen Offensive schuf sie ein umfassendes Netz sozialer Infrastruktur – und der Sandleitenhof war ihr größtes und ehrgeizigstes Bauprojekt.

Mieterparadies

Die österreichische Sozialdemokratie ließ Hunderte Gemeindebauten entwerfen und bauen. In den 1920ern und frühen 1930ern schufen Arbeiterinnen und Arbeiter unter Führung der damals noch marxistisch orientierten Sozialdemokratie rund 400 Gemeindebauten mit insgesamt 65.000 Wohnungen, in denen 200.000 Menschen ein Zuhause fanden. Die Mieten waren sehr preiswert, weil niemand damit Profit machte.

Das ist der Hintergrund, vor dem die Bauarbeiter ab 1924 auch am nordwestlichen Stadtrand von Wien, am Fuß des hügeligen Wienerwaldes, den Grundstein für den Sandleitenhof legten. Er ist das größte der vielen Bauprojekte damals, gemessen an der Anzahl der Wohneinheiten. 1925 wurden die ersten Wohnungen fertiggestellt, deshalb wurde am vergangenen Wochenende, einhundert Jahre später, das Jubiläum begangen. Gefeiert wurde mit Musik, Rundgängen und Workshops.

»Erbaut von der Gemeinde Wien aus den Mitteln der Wohnbausteuer« – dieser Satz steht in roten Lettern an den Fassaden vieler Wiener Gemeindebauten, so auch am Sandleitenhof. Die Steuer wurde im Januar 1923 von der Sozialdemokratie eingeführt, die zu diesem Zeitpunkt fast eine Zweidrittelmehrheit im Wiener Gemeinderat hatte. Die Wohnbausteuer belastete alle Mietobjekte, allerdings stark gestaffelt: Kleinwohnungen wurden mit zwei Prozent der Vorkriegsmiete belastet, Luxuswohnungen mit über 36 Prozent. Das teuerste Prozent der Wohnungen erbrachte knapp die Hälfte der Einkünfte, die von der Gemeinde Wien dann in den Bau von kommunalen Wohnblocks gesteckt wurde.

Der Sandleitenhof ist ein bewusster Gegenentwurf zur Enge der sogenannten Zinshäuser, also zu den Miethäusern der Kaiserzeit, in denen viele Arbeiterfamilien auf engstem Raum in sehr schlechten Wohnungen lebten, oft ohne Wasseranschluss. Im Gegensatz zu den Miethäusern in Privatbesitz bot der Sandleitenhof den einfachen Leuten Platz. Auf über 68.500 Quadratmetern Fläche entstanden insgesamt 1.587 Wohnungen, die 5.000 bis 6.000 Menschen Platz machten. Die Wohnungen waren modern ausgestattet, jede hatte fließendes Wasser, eine eigene Toilette und einen Gasanschluss – ein Mieterparadies für die damaligen Verhältnisse. Der Hof war auch Ausdruck des sozialistischen Grundanspruchs – dass gutes, menschenwürdiges Leben kein Privileg der Reichen, sondern ein Recht aller sein sollte.

Stadt in der Stadt

Jenseits der menschenwürdigen Unterbringung von Arbeiterinnen und Arbeitern ging es den Architekten des »Roten Wiens« auch darum, Rahmenbedingungen für ein gemeinschaftliches Leben zu schaffen: Kollektive Waschküchen, Kindergärten, eine Bibliothek, Arztpraxen und sogar ein Kino – das sogenannte Volkskino – machten den Sandleitenhof zu einer kleinen Stadt in der Stadt. Der Sandleitenhof ist ein sozialistisches Bollwerk, ein Organ einer sich selbst bewusst gewordenen arbeitenden Klasse.

Den Kapitalistenverbänden und den Konservativen waren die proletarische Kultur und die Emanzipation des »Pöbels« freilich ein Dorn im Auge. In den 1930er Jahren spitzten sich die Konflikte dann zu. 1933 schaltete sich das Parlament selbst aus, Kanzler Engelbert Dollfuß errichtete den sogenannten Ständestaat – es begann die kurze Phase des sogenannten Austrofaschismus, der einige Jahre später in den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland münden sollte. Gewerkschaften wurden verboten, politische Gegner verfolgt. Widerstand leistete der Republikanische Schutzbund, die letzte Bastion der organisierten Arbeiterbewegung.

Als im Februar 1934 der Aufstand der Arbeiterbewegung gegen das austrofaschistische Regime ausbrach, war der Sandleitenhof einer der zentralen Schauplätze des Widerstands. Am Vormittag des 12. Februars versuchte die Polizei, in den Hof einzudringen, um Waffenlager auszuheben und Schutzbündler festzunehmen. Doch die Bewohner, viele von ihnen aktive Mitglieder des Schutzbundes, waren vorbereitet. Die Anlage wurde verbarrikadiert, dann wurde geschossen. Die Polizei wurde zunächst zurückgeschlagen, das Bundesheer gegen das Nest der Emanzipation angefordert. Das Heer rückte auch an, mit Maschinengewehren und Minenwerfern, und feuerte auf den Wohnbau.

Schließlich mussten sich die Verteidiger zurückziehen. Viele wurden verhaftet, einige hingerichtet, in den Folgejahren wurden jüdische Bewohnerinnen und Bewohner aus ihren Wohnungen vertrieben und deportiert. Nach der Machtübernahme durch die Austrofaschisten versuchten diese, dem Sandleitenhof ihren Stempel aufzudrücken. Im Rahmen der Kirchenbauoffensive der österreichischen Faschisten wurde auch neben dem Sandleitenhof eine Kirche errichtet. Für die damals mehrheitlich konfessionslosen Arbeiter eine Provokation.

Geschichte spürbar

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Anlage teilweise renoviert, blieb aber ihrer ursprünglichen Funktion treu. Heute leben hier rund 4.000 Menschen. Die Geschichte ist spürbar – in den Gebäuden, in den Erzählungen älterer Bewohnerinnen und Bewohner und zum 100jährigen Jubiläum des sozialistischen ­Superblocks auch durch die Jubiläumsveranstaltungen. Aber ist das noch echt, in einer Stadt, in der die weiterhin regierende Sozialdemokratie immer wieder in der Kritik steht, die Interessen der Leute, für die der Sandleitenhof damals gebaut wurde, nicht mehr zu vertreten?

Ja und nein, findet die österreichische Wohn- und Stadtforscherin Sarah Kumnig. Einige Aspekte könnten heute immer noch Vorbild sein, sagt Kumnig, zum Beispiel, dass der soziale Wohnbau weiterhin in öffentlicher Hand ist und nicht privatisiert wurde – konkret geht es dabei um 42 Prozent der Wohnungen in Wien. Gleichzeitig steigt auch in Wien der Druck, Wien wächst, das Leben wird teurer, und die Hitzesommer machen vielen Menschen zu schaffen. Kumnig fordert deshalb neben vielen weiteren Dingen eine ­Mietpreisregulierung für alle Mietwohnungen. Außerdem eine Anpassung des Wohnbestands an die Klimakrise – ohne dass dabei Mieter verdrängt werden.

Das sind Forderungen, mit denen auch die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) heute Druck auf die Sozialdemokratie macht. KPÖ-Aktive waren deshalb in den vergangenen Monaten auch immer wieder im Sandleitenhof und haben dort an Haustüren geklingelt, um mit den Mieterinnen und Mietern ins Gespräch zu kommen. Denn 100 Jahre nachdem das gute Wohnen, zumindest für einen Teil der Wiener ­Bevölkerung, erkämpft worden war, sollte dieser Kampf fortgesetzt werden.

Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es fälschlicherweise, die ersten Wohnungen am Sandleitenhof seien 2025 fertiggestellt worden. Richtig ist 1925.

Widerstand im Sandleitenhof

Eine silberne Tafel an einer Betonsäule im Sandleitenhof erinnert heute noch an die kommunistischen Jugendlichen, die hier in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges Wehrmachtssoldaten aufhielten und sie überredeten, ihre Waffen abzulegen. Kein ungefährliches Unterfangen, wie der österreichische Historiker Peter Autengruber bei einem historischen Rundgang zum 100jährigen Jubiläum des Sandleitenhofes erzählt: »Noch im April 1945, also in den letzten Kriegstagen, hat die SS hier Leute ermordet.« Doch die kommunistischen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer hatten Erfolg: Die Soldaten legten ihre Waffen ab und bekamen zivile Kleidung, die die Kommunisten aus einem aufgebrochenen Depot entwendet hatten.

Die Aktionen sorgten für Aufsehen. Propagandaminister Joseph Goebbels schrieb in seinem Tagebuch wütend über »Aufruhraktionen in den ehemals roten Vororten« Wiens. Bei den Aufrührern handele es sich um »Gesindel, und dieses Gesindel muss zusammengeschossen werden«, so Goebbels. Der Plan der kommunistischen Widerständler war, die vom Wienerwald nach Wien vorstoßenden Einheiten der Roten Armee dabei zu unterstützen, kampflos die westlichen Bezirke Wiens zu durchqueren. Als der erste sowjetische Spähtrupp in Sandleiten auftauchte, schlossen sich Kommunistinnen und Kommunisten aus Ottakring an und begleiteten den Spähtrupp durch den ganzen Bezirk. Weil es Gerüchte gab, die SS könne zurückkehren, begann die Gruppe mit dem Aufbau eines bewaffneten Trupps. Der aber kam nie zum Einsatz. Die Rote Armee nahm den Wiener Bezirk Ottakring, also den Bezirk, in dem auch der Sandleitenhof steht, kampflos ein. Gleichzeitig trugen die jungen Kommunistinnen und Kommunisten auch dazu bei, dass das Leben weiterging: Sie sicherten Betriebe und Läden vor Plünderungen und halfen, die Verwaltung neu aufzubauen.

Wenn heute an den Widerstand von damals erinnert wird, fällt auch immer wieder der Name Heinrich Klein. Klein gehörte seit 1934 dem Kommunistischen Jugendverband Österreichs in Ottakring an. Er war in der Illegalität weiter aktiv, wurde dann aber im Oktober 1940 in die Wehrmacht eingezogen. Einige Monate vor Kriegsende schaffte er es, zu desertieren. Schon vorher hatte er den Kontakt zu kommunistischen Jugendlichen hergestellt, die seit 1944 im Untergrund den von der Gestapo zerschlagenen Jugendverband neu organisiert hatten.

Am Matteottiplatz, einem zentralen Platz inmitten des Sandleitenhofes, erinnert heute eine Tafel an den Genossen Klein, der 1997 verstorben ist. Er wird mit den Worten zitiert: »Ich habe den Wunsch, dass die heutige Jugend nie eine Zeit von Krieg und Faschismus erleben muss.« (asch)

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