»Ich wollte die Politiker damit konfrontieren«
Interview: Andy Vantino
Sie sind in erster Instanz vom Amtsgericht Tiergarten in Berlin aufgrund eines Protestplakats mit der Aufschrift »Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?« wegen Volksverhetzung verurteilt worden. Wie kann man den Holocaust verharmlosen, wenn die Frage klar so gestellt ist, dass sie den Holocaust sehr ernst nimmt?
Sie haben die Frage im Endeffekt schon beantwortet. Mein zweites Plakat sagte übrigens »Nein zur Ermordung von derzeit 8.500 Zivilisten in Gaza«. Somit weise ich darauf hin, dass unsere deutsche Geschichte uns – vielleicht noch mal mehr als andere Nationen – lehrt, sich gegen Menschen und Völkerrechtsverletzungen und noch vieles mehr auszusprechen. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass nicht nur die Lehren des Holocausts von mir auf Gaza bezogen werden, sondern, dass ich das Schicksal der während des Holocausts deportierten und vernichteten Menschen mit dem Schicksal der bis dahin 8.500 ermordeten Zivilisten in Gaza gleichsetze. Es geht wohl um ein Ungleichgewicht in Art, Ausmaß und Folgen der Unterdrückung und Gewalt.
Ignoriert der Vorwurf der Verharmlosung Ihren tatsächlichen Appell?
Ja, selbstverständlich. Es ist pervers, darüber zu streiten, ob hier eine Gleichsetzung gemeint ist, wenn ich mit Verweis auf unsere eigene Geschichte auf aktuelle Menschenrechtsverbrechen und unsere Untätigkeit aufmerksam mache.
Wie hat die Staatsanwaltschaft den Vorwurf begründet?
Sie hat darauf hingewiesen, dass wenn ich den Holocaust mit dem Genozid in Gaza vergleiche, das Geschehen des Holocausts an »Wert« verliere. Da haben meine Anwälte auch entschlossen gegengehalten, denn es darf kein quantitativer Unterschied zwischen Menschenleben gemacht werden.
Für die Staatsanwältin war es nicht nur ein Bezug, sondern ein Vergleich. Und ja, es ging hier darum, mit dem Appell »gehetzt« oder »den Frieden gestört« zu haben. Sie bezieht sich auf Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs: » … in einer Art, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost«.
Welche Fragen wurden Ihnen im Laufe des Verfahrens gestellt?
Ich wurde einmal gefragt, wie Leute auf meine Plakate reagiert haben und ob es irgendwie Auseinandersetzungen gab, ob ich in irgendeiner Form Verbindungen zu der Demonstration hatte: Es gab wohl eine Demo von »Next Generation« in der Nähe. Ich wusste aber gar nichts davon. Die Situation in Gaza, vor allem der Angriff auf das erste Krankenhaus hatte mich sehr belastet. Und ich dachte mir: Ich gehe jetzt einfach ins Regierungsviertel und konfrontiere die Politikerinnen und Politiker mit meinen Plakaten, damit sie wissen, was ich will. Das war der Grund, weshalb ich genau den Ort auswählte. Wie gesagt, gab es aber eine Demo, und die Staatsanwaltschaft hat versucht, das miteinander in Verbindung zu setzen.
Wie genau wurde versucht, Sie mit der Demo in Verbindung zu bringen, mit der Sie nichts zu tun hatten?
Der Polizist wurde befragt, ob ich Verbindungen zu der Demo gehabt haben könnte. Dieser verneinte ausdrücklich. Daraufhin versuchte man, einen zweiten Polizisten zu kontaktieren, der gar nicht vor Ort war. Der war allerdings nicht erreichbar. Dennoch meinte der Richter am Ende, es könne kein Zufall gewesen sein, dass ich an dem Tag der Demo da war.
Haben Sie damit gerechnet, verurteilt zu werden und somit weitere Rechtsmittel einlegen zu müssen?
Nein, nach der Verteidigung von drei Anwältinnen, die argumentativ sehr stark waren, und nach der Zeugenaussage, die auch für mich sprach, hatten wir mit dem Urteil nicht gerechnet. Zumal es ja noch härter ausfiel, als anfangs erklärt wurde. Meine Sorge ist, dass die Erinnerungskultur staatliche Einschränkung erfährt.
Martina Winkler (Name geändert) hat im Berliner Regierungsviertel aus Protest gegen das Vorgehen israelischer Truppen in Gaza ein Schild mit der Aufschrift »Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?« getragen und wurde dafür in erster Instanz vom Amtsgericht Tiergarten wegen Volksverhetzung verurteilt
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Sean Smuda/IMAGO/ZUMA Wire27.05.2025
Rechtsprechung nicht auf Linie
- Fabian Bimmer/EPA POOL via dpa/dpa08.05.2025
Mit Kufiya auf der Anklagebank
- Joerg Carstensen/dpa25.04.2025
Journalist gegen »Jüdische Stimme«
Mehr aus: Inland
-
»Der Druck aus der Bevölkerung nimmt langsam zu«
vom 12.06.2025 -
Wasser für alle
vom 12.06.2025 -
Dienst droht »Jüdischer Stimme«
vom 12.06.2025 -
Mit Zitaten gegen rechte Blattmacher
vom 12.06.2025 -
Notfall Krankenkassen
vom 12.06.2025 -
Praxis Doktor »Machmichdünn«
vom 12.06.2025