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Aus: Ausgabe vom 11.06.2025, Seite 8 / Ansichten

Visionär des Tages: Bruno Kahl

Von Arnold Schölzel
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Das Jenseitige im Blick: Bruno Kahl am 4. Juli 2024 im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages

An diesem Mittwoch beschließt das Bundeskabinett, wer demnächst wo deutscher Botschafter wird. Ein Stuhlrücker heißt Bruno Kahl, seit 2016 Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND): Er wird zum Vatikan beordert, muss sich also kaum umgewöhnen. Für Übersinnliches und Jenseitiges ist der Heilige Stuhl mindestens so zuständig wie der BND: Dessen regelmäßig laut vorgetragene Halluzination »Die Russen kommen« sichert seine Existenz. Auch Kahl leidet an Erscheinungen und macht das manchmal öffentlich. Etwas Aufsehen erregte zum Beispiel sein Interview mit der Deutschen Welle am 8. März, in dem er formulierte: »Ein frühes Kriegsende in der Ukraine befähigt die Russen, ihre Energie dort einzusetzen, wo sie sie eigentlich haben wollen, nämlich gegen Europa.« Als aus diesem und anderen Sätzen geschlossen wurde, er sei für einen möglichst langen Krieg, hatten die staatsfrommen Medien einige Mühe beim Geraderücken.

Dabei stimmt doch Kahls Vision. Am Montag erteilte er sich daher im Podcast »Table Today« erneut die Lizenz zum Spökenkieken: Der BND habe »Belege, dass die Ukraine nur ein Schritt auf dem Weg nach Westen ist«. In Moskau gebe es Leute, die nicht mehr daran glaubten, dass die USA von Russland angegriffenen Ländern in Europa wirklich beispringen würden. Sie wollten deshalb etwa im Baltikum den Artikel 5 der NATO testen. Dafür müsse Russland »keine großen Bombenangriffe fliegen oder Panzerarmeen in Bewegung setzen«. Es reiche schon, »kleine grüne Männchen« nach Estland zu schicken, um vorgeblich unterdrückte russische Minderheiten zu schützen. Verhandlungen des Westens mit Russland bezeichnete Kahl als nicht vielversprechend, weil Russland eine Kapitulation der Ukrai­ne wolle.

Kahl ist der Beleg: Es gibt Leute, die wegen Geisterseherei kein Interesse an einem frühen Kriegsende haben.

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  • Leserbrief von Emmo Frey aus Dachau (12. Juni 2025 um 11:50 Uhr)
    Bruno Kahl, BND-Chef, ist ein würdiger Nachfolger des BND-Gründers Reinhard Gehlen. Lesen Sie doch bitte Otto Köhlers Themen-Aufsatz vom 31. Dez. 2019 »Gehlens Dritter Welkrieg« noch mal nach. Ganz am Schluss des Köhler-Textes wird dort ein CIA-Chefauswerter (Victor Marchetti) zitiert: »Meiner Ansicht nach lieferte die Organisation Gehlen nichts, das zum Verständnis oder zur richtigen Einschätzung des politischen oder militärischen Potentials in Osteuropa oder sonstwo beitrug. Statt dessen wurde jetzt behauptet, dass die Sowjets in der Lage wären, in Europa, im Nahen und im Fernen Osten gleichzeitig große Offensiven zu starten.« Man hatte damals Gehlen geglaubt, der Kalte Krieg begann, aber die Bedrohungen durch Stalins Armeen waren von Gehlen erfunden. Kahl macht also nur da weiter, wo Gehlen angefangen hatte, bei Halluzinationen, wie Herr Schölzel richtig schreibt. Man wird jedoch Russland so lange provozieren, bis die dann zwangsläufigen Reaktionen Russlands zur Bedrohung werden könnten. Unsere Regierung will das, mir graut.
    Wann formieren sich endlich statt »Mütter gegen Atomkraft« nun »Mütter gegen Kanonenfutter« oder dergleichen?
  • Leserbrief von AG (11. Juni 2025 um 19:18 Uhr)
    Warum fordert aber keiner die Offenlegung dieser vermeintlichen Beweise? Man braucht kein Genie zu sein, um das als ziemlich drittklassige Charade zu entlarven. Diese Leute lügen uns ins Gesicht. Er will bluffen? Gerne, dann will ich seine Karten sehen. Der Geheimdienst und seine vertraulichen Akten stehen nicht über dem Souverän. Aber so wie es sich mit der Staatshörigkeit der Gerichte in diesem Land verhält, bräuchte es wohl einen Ellsberg, der sich über die Betrugsmanöver hinwegsetzt und uns offenbart was sich hinter den Kleidern verbirgt.

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