Livestream: technische Störung
Gegründet 1947 Freitag, 20. Juni 2025, Nr. 140
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Livestream: technische Störung Livestream: technische Störung
Livestream: technische Störung
Aus: Ausgabe vom 24.05.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Rösselsprünge des Glücks

Vor rund 200 Jahren verfeinerte der britische Philosoph John Stuart Mill eine Lehre, die das Nützliche zum Guten erklärte. Über den Utilitarismus
Von Barbara Eder
12-13.jpg
Die Aussicht auf die mit einer möglichen Strafe verbundene Unlust soll das Verhalten von Gefangenen regulieren: Panoptikon auf der italienischen Gefängnisinsel Santo Stefano

Unweit der süditalienischen Hafenstadt Formia liegt die Gefängnisinsel Santo Stefano – ein schroffes Stück Fels mit einem Verlies, das aus der Vogelperspektive aussieht wie ein Hufeisen. König Ferdinand IV. ließ die Anlage mit angeschlossenem Friedhof im 18. Jahrhundert errichten, sie diente zur »Verwahrung« von rund 800 Gefangenen. Während des italienischen Faschismus wurde das ehemalige Bourbonen-Gefängnis als »Zuchthaus« genutzt. Zu den Internierten zählten neben Dieben und kleinen Gaunern vor allem politische Dissidenten, darunter auch der Anarchist Gaetano Bresci. Am 22. Mai 1901, weniger als ein Jahr nach seiner Verurteilung, wurde Bresci tot in seiner Zelle aufgefunden. Das Gitter des Fensters, an dem er sich erhängt haben soll, liegt nur einen Meter über ebener Erde.¹

Die Isolation der Gefangenen auf Santo Stefano war dauerhaft und systematisch. Um den Willen der Häftlinge zu brechen, durften die Zellentüren niemals geöffnet werden. Der Grundriss des Gebäudes nahm Anleihen beim kreisförmigen Bau des Theaters San Carlo in Neapel. Architekt Francesco Carpi hatte die Rollen bewusst vertauscht: Nicht die Bühne, sondern der Zuschauerraum wurde zum Schauplatz – die Gefangenen befanden sich somit im Sichtfeld. Die Zellen waren wie die Sitzreihen eines Amphitheaters angeordnet, alle Insassen zugleich Akteure und Beobachtete – ohne zu wissen, ob sie tatsächlich gesehen wurden.

Im Zentrum der panoptischen Anlage sorgte eine Überwachungsloge für die Illusion permanenter Observation. Visuell und symbolisch erinnert die Kontrolleinrichtung an eine Kanzel, sie liegt jedoch zu tief, um alle Gefängniszellen überblicken zu können. Um diesen Eindruck zu erzeugen, wurden die Insassen getäuscht: Die obere Hälfte der Kanzel war mit farbigen Glasfenstern versehen, hineinsehen konnte man nicht; es blieb somit unklar, ob der Gefängnisaufseher anwesend war – allein die Möglichkeit, unter Beobachtung zu stehen, sollte den erwünschten Effekt hervorrufen: Disziplin und Gehorsam ohne sichtbare Autorität.

Panoptische Architekturen

Der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) gilt als geistiger Vater einer Architektur, die nur dem Anschein nach ohne Zwang auskommt: Die Folgsamkeit aller Gefangenen sollte gleichsam von selbst eintreten. Hinter seinem Panoptikon steckt jedoch nicht weniger als die Idee einer »Gottesmaschine«: Dass der Aufseher im Verborgenen bleibt, macht ihn übermächtig – nicht als Person, sondern als Prinzip. Der Gefangene weiß nicht, ob er gerade gesehen wird, und handelt gerade deshalb so, als ob dies der Fall wäre. Doch es gibt ein Schlupfloch im System: Wer Widerstand leistet, kann die Überwachungsillusion ein für allemal durchbrechen.

Bentham empfahl, in diesem Fall ein Exempel zu statuieren – und damit allen vor Augen zu führen, was infolge eines Verstoßes mit jedem einzelnen passieren würde. »Man könnte einen Apparat bauen, der mehrere elastische Rohre aus Schilf oder Fischbein in Bewegung setzt, deren Anzahl und Größe vom Gesetz her vorgeschrieben wären«, heißt es dazu in Benthams posthum publiziertem Entwurf »Principles of Penal Law«. Weiter ist dort zu lesen: »Der Körper des Verbrechers sollte den Schlägen dieser Rohre ausgesetzt werden, wobei die Stärke und die Geschwindigkeit der Schläge vom Richter zu bestimmen sind. Auf diese Weise wird jegliche Willkür ausgeräumt.«²

Der vermeintlich liberale Strafvollzug hat eine barbarische Kehrseite – und sie ist essentieller Bestandteil der ihm zugrundeliegenden Ideologie: Im Utilitarismus ist jegliches Handeln zweckgebunden und auf ein quantifizierbares Resultat ausgerichtet. Die schlichte Tatsache, dass dieselbe Ursache verschiedene Wirkungen hervorrufen kann, gilt als Störfaktor im Getriebe; die richtige Maschinerie soll im Hinblick auf das Ergebnis eine kalkulierbare Wirkung erzielen. Die Disziplinararchitektur von Santo Stefano ist dahingehend bezeichnend: Errichtet wurde die Anlage unabhängig, aber parallel zu Benthams erstem panoptischen Entwurf von 1791. Der Philosoph hat die englische Regierung zwanzig Jahre lang davon zu überzeugen versucht, ihn mit dem Bau eines derartigen Gefängnisses zu betrauen. 1803 wurde dieses Vorhaben eingestellt, bis 1813 wurden alle weiteren Anträge abgelehnt;³ der Erfinder des Panoptikons hatte sich in der Rolle des künftigen Gefängniswärters gesehen – und wähnte sich somit selbst an der Stelle des allwissenden Aufsehers.

Das Gute und der Nutzen

Benthams Panoptikon war kein kühnes Architekturprojekt, sondern Ausdruck eines moralphilosophischen Programms. Die Idee, dass menschliches Verhalten sich durch Aussicht auf einen unmittelbaren Nutzen regulieren ließe, geht diesem als Maxime voraus. Bentham zufolge reagiere ein Mensch nicht aus innerem Antrieb gut, sondern weil er mit Sanktionen rechnet – in positiver wie in negativer Hinsicht. Moralisches Handeln entsteht somit nicht aus Tugend, sondern durch Nutzenmaximierung unter strikter Beobachtung. Die Frage nach dem Guten wird mit dem zweckrational bestimmbaren Nützlichen verschränkt: Das summum bonum – das höchste Gut jeder Ethik – dient, anders als etwa bei Immanuel Kant, nicht länger als regulative Idee der praktischen Vernunft, die moralisches Handeln mit der Hoffnung auf eine gerechtere Weltordnung verbindet; statt dessen wird es zu einem profanen, empirischen Sachverhalt, der sich beziffern lässt: Als gut gilt, was sich als nützlich erweisen wird.

Es gehört zu den Mustern moderner Moralphilosophie, in Momenten theoretischer Erschöpfung das »Nützliche« zur neuen Leitkategorie zu erheben. Wo das Gute zu vage, zu schwer greifbar wird, tritt das Kalkül an seine Stelle. Zur Hochzeit des Manchester-Kapitalismus gilt Ethik nicht länger als Antwort auf Fragen des Gewissens; sie soll sich statt dessen formelhaft erfassen lassen. John Stuart Mill (1806–1873) hat den Ansatz seines philosophischen Lehrers Jeremy Bentham in diesem Sinn weiterentwickelt; seine programmatische Schrift »Utilitarianism« erschien 1863 in Buchform. Darin hält Mill am utilitaristischen Grundprinzip fest und radikalisiert die Nützlichkeitsethik seines Vorgängers. Er sieht sich zur Feststellung gezwungen, dass »alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln« und suspendiert infolgedessen den Kategorischen Imperativ: »Was er (Kant, Anm. B. E.) zeigt, ist eigentlich das, daß die Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wären, daß jedermann von ihnen verschont bleiben wollte.«⁴

Für Mill ist es fortan die Aussicht auf Glück, die zum Movens der guten und gerechten Handlung wird: »Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter ›Glück‹ (happiness) ist dabei Lust (pleasure) und das Freisein von Unlust (pain), unter ›Unglück‹ (unhappiness) Unlust und das Fehlen von Lust verstanden.«

Nützliches Glück

Die Rechnung wirkt einfach – und geht am Ende doch nicht auf. Mills Glücksbilanz scheitert immer wieder an Größen, die sich nicht eindeutig bestimmen lassen. Die Variablen innerhalb seiner Theorie widersetzen sich der Zuordnung von Werten, die den Eintrag auf der fiktiven Lustskala gewährleisten könnten – demnach kommt Mill bereits im Vorwort seiner Schrift zum Schluss, dass die Lust selbst wohl in der Nützlichkeit bestehen müsse.

Mill löst das Glück – als Freisein von Unlust – aus der epikureischen Innerlichkeit und versucht immer wieder, es im Maßstab einer Kosten-Nutzen-Rechnung quantifizierbar zu machen. Es selbst scheint jedoch nicht von Dauer. Das, was begrifflich zu fassen wäre, erweist sich zu Beginn von »Utilitarianism« als markante Leerstelle. Dort heißt es: »Freilich: Versteht man unter Glück das Fortdauern einer im höchsten Grade lustvollen Erregung, dann ist die Unerreichbarkeit von Glück nur offensichtlich. Der Zustand der Überschwänglichkeit hält höchstens einige Augenblicke, in einigen Fällen – mit Unterbrechungen – auch Stunden und Tage an. (…) Darüber waren sich die Philosophen, die die Glückseligkeit zum Endzweck des Lebens erklärten, ebenso im klaren wie die, die ihren Spott über sie ergießen.«

Für Kant, von dem Mill sich entschieden abgrenzt, blieb Glück ein flüchtiges Phänomen – allein schon deshalb konnte es unmöglich zum Ziel ethischen Handelns werden. Kant definierte Lust und Unlust nicht als einfache Gegensätze in einem Nullsummenspiel; Schmerz ist für ihn nicht bloß ein Mangel an Lust, sondern ein gesondert davon zu begreifendes Phänomen.⁵ Mill hingegen nivelliert diese Nuancen: Lust erscheint ihm als messbares Plus, Unlust als subtraktives Minus – im Sinne von zwei Seiten derselben Medaille. Ein unstetes, vielleicht sogar metaphysisches Flackern, das sich Kalkül und Empirie entzieht, ist in seiner Glücksbilanz nicht vorgesehen.

Wer Lust zur höchsten Maxime macht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein »Schweinethos« zu vertreten. In seiner Polemik gegen den Utilitarismus sprach der schottische Schriftsteller Thomas Carlyle (1795–1881) von einer »pig philosophy«, die mit seinem heroisch gefärbten Ideal des Entsagens kontrastierte.⁶ Dagegen setzte Mill das Bild eines »höheren Glücks«, das sich Bildung, Selbstreflexion und moralischer Anstrengung verdanke. Aber dieser Gegensatz funktioniert nur, wenn man qualitative Unterschiede voraussetzt, was wiederum im Widerspruch zur hedonistischen Ausgangsthese steht, wonach allein das Maß an Lust entscheidend sei. Aus diesem Grund sollte Mill »neben der Quantität auch die Qualität«⁷ des Glücks berücksichtigen.

Glücksritter des Kapitals

Glück ist nicht nur in philosophischer Hinsicht ein dehnbarer Begriff – flüchtig, kontingent und abhängig von Zeit und Ort. In der antiken Ethik war die Vorstellung davon in ein Weltbild eingebettet, das als solches Sinn stiften sollte: Die Eudaimonia bei Aristoteles war an Tugend und Gemeinschaft gebunden, bei den Stoikern an Gelassenheit im Weltganzen. In der Moderne – dahingehend war John Stuart Mill ein Vordenker – wird Glück hingegen zur privatisierbaren Größe. Die Forderung nach Verteilungsgerechtigkeit kann seine utilitaristische Ethik allein schon deshalb nicht einlösen: Innerhalb derselben wird das Interesse des einzelnen gegenüber dem, was für jeden einzelnen gut wäre, privilegiert.

Wer mit einem »Glück« wie diesem argumentiert, bewegt sich – ob moralphilosophisch oder politisch – auf unsicherem Grund. Das utilitaristische Vorhaben verliert damit seinen Anspruch auf Universalisierbarkeit. Angesichts des kapitalistischen Desasters, das in Großbritannien, dem am meisten industrialisierten Land der Welt zu Mills Zeiten, einen strukturellen Überschuss an Unglück hervorgebracht hat, bleibt vom Ideal der allgemeinen Glückserfüllung für die Mehrheit nichts mehr übrig. Daraus schlussfolgert John Stuart Mill, dass es jederzeit und überall nunmehr möglich sein muss, auch »ohne Glück auszukommen« – und zwar in einer Größenordnung, die, wie Mill einräumt, wohl »neunzehn Zwanzigstel der Menschheit« betrifft.

Ohne dies offen auszusprechen, muss er damit das Heer der proletarisierten Massen gemeint haben. Seine Schrift »Utilitarianism« nimmt vielleicht auch aus diesem Grund mit Beginn des vorletzten Kapitels eine so unerwartete Wendung – Geld ist ihm dort nämlich nicht mehr bloß Mittel, sondern selbst Teil des Zweckes. Mit fast naiver Direktheit stellt der Engländer fest, dass es vielfach »auch an sich und um seiner selbst willen begehrt« werden könne – als sei sein bloßer Besitz bereits ein Beweis von Glück.⁸ Die Lust des Homo oeconomicus wird in diesem Moment zu der des Schatzbildners: Der utilitaristische Glücksritter hat im Goldbad seine Erfüllung gefunden. Wo anfangs noch das »größte Glück der größten Zahl« angestrebt wurde, triumphiert ein glitzernder Haufen: Geld, ursprünglich nur als Werkzeug zur Glücksvermehrung gedacht, kann nunmehr selbst zum »höchsten Gut« einer vermeintlichen Ethik werden.⁹

Von Bentham zu Mill

Was Jeremy Bentham rein instrumentell dachte, erscheint bei John Stuart Mill differenzierter: Er erkennt qualitative Unterschiede im Glück, betont die Charakterbildung und versteht Freiheit als Voraussetzung für moralische Urteilskraft. Und doch bleibt das Band zwischen beiden Philosophen bestehen – nicht nur im Begriff des Nützlichen, sondern auch in jenem spezifisch englischen Bemühen, Ethik und Pragmatismus nicht als Gegensatz, sondern als politische Aufgabe zu begreifen. Mills Blick reicht dabei weit über die Gefängnismauern Benthams hinaus: Der Utilitarismus, wie er ihn reformulierte, bedarf am Ende offenbar keiner Verteidigung mehr, weil ihm im Argumentationsverlauf sämtliche Gegner abhanden gekommen zu sein scheinen. In diesem Licht ist auch William James’ satirisch zugespitztes Porträt des Autors von »Utilitarianism« zu lesen: »Mills gewöhnliche Art zu philosophieren bestand darin, zunächst eine von seinem Vater entlehnte Theorie kühn zu behaupten, und dann im einzelnen an die Gegner der Theorie so viele Zugeständnisse zu machen, daß von dieser praktisch nichts mehr übrig blieb.«¹⁰

Eine Ideologie, die es sich anmaßt, fast alles zu durchdringen, kennt kein Außen mehr. John Stuart Mills Entwurf einer im Glück fundierten Ethik umfasst nicht nur den Strafvollzug, sondern auch Gesetzgebung, Bildung, Moral und Ökonomie. Das Prinzip vom »größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl« geriet ihm zur sittlichen Universalformel, die sich im Spannungsfeld von Industriekapitalismus und Technokratie unter dem Diktat des Kapitals etablieren konnte. Im Vergleich zu Mill wirkt Jeremy Bentham weniger wie ein Moralphilosoph denn vielmehr als Sozialtechniker. Sein Ideal ist ein gesellschaftliches Gleichgewicht, in dem alle Abweichungen in Wahrscheinlichkeiten aufgelöst werden. Es überrascht somit nicht, dass das Denken der englischen Utilitaristen später in Verwaltungslogiken und Algorithmen aufgegangen ist – dort, wo Entscheidungsprozesse auf Kennziffern beruhen.

Was der Utilitarismus mit dem einzelnen macht, lässt sich vielleicht am genauesten dort erkennen, wo er sich als »Gewissensbuchhaltung« in die Subjekte einschreibt – als inneres Rechenwesen eines Homo oeconomicus, der fortlaufend Bilanz zieht zwischen Lust und Unlust, Pflicht und Ertrag, realer Handlung und hypothetischem Gemeinwohl. Bei Bentham wird dieser Vorgang als Freudenkalkül verbucht. Bei Mill verfeinert es sich zur moralischen Selbstprüfung, bleibt aber dem Schema der Quantifizierbarkeit verpflichtet. Auf diese Weise entstanden ist weniger eine Ethik als eine Disziplinartechnik: Die Idee des moralisch richtigen Handelns wird zum Instrument der Selbstoptimierung unter Bedingungen möglicher Beobachtung. In diesem Sinn ist die utilitaristische Ethik nicht bloß ein Prinzip, sondern eine Technologie der Selbstführung: Sie produziert ein Individuum, das nicht befreit ist, sondern sich selbst gut verwaltet. Glück wird damit nicht Ziel, sondern Kontrollgröße – und das »neue« Ziel in einer Gesellschaft, in der das Gute zur Frage der privaten Lustbilanz geworden ist.

Blick statt Schlag

Im Panoptikon auf der italienischen Gefangeneninsel Santo Stefano – jenem kreisförmig angelegten Modellgefängnis mit zentraler Überwachungskanzel – offenbart sich die Kehrseite jener utilitaristischen Scheinmoral, die das Nützliche mit dem Guten gleichsetzt. Nicht die Strafe selbst, sondern die Aussicht auf die damit verbundene Unlust soll das Verhalten der Gefangenen regulieren. Der imaginäre und imaginierte Blick des anderen wird zur Disziplinarmacht: Kontrolle ohne Gewalt, Ordnung ohne Transzendenz. Die Figuren des Wahnsinnigen, des Kindes, der »Irren« haben keinen Platz mehr am Tableau einer derart geordneten Gesellschaft – die utilitaristische Orientierung am Nützlichen reicht aus, um eigene Verbannungszonen für sie zu errichten.

Wenn ein Autor wie Christian Neuhäuser in seinem Buch »Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit« dieser Tage die ethischen Implikationen von Reichtum verhandelt, kommt auch er am Utilitarismus nicht vorbei. Das Argument, wonach Reichtum legitim sei, solange dieser das gesellschaftliche Gesamtniveau an Glück hebt, wird von ihm in Anschlag gebracht – jedoch, um es noch im selben Atemzug zu demontieren.¹¹ Dass die Vermögen der Ultrareichen vielleicht auch nützlich sein könnten, weil sie in Philanthropie oder Investitionen münden könnten, zieht der Autor nicht in Zweifel.

Zu Beginn seiner programmatischen Schrift »Utilitarianism« scheint John Stuart Mill bereits zu ahnen, dass das Streben nach Glück unter Bedingungen des entfesselten Kapitalismus keine zuverlässige Handlungsmaxime sein kann, die mit dem Anspruch auf soziale Gleichheit vereinbar ist; aus seinem Glücksmaximierungsvorhaben wird nach und nach eine Strategie der Schadensvermeidung: lieber weniger Unglück als mehr Enttäuschung für alle. Sein wohl gewagtestes Denkmanöver besteht darin, aus der Unmöglichkeit des Glücks ein Argument für seine Notwendigkeit gemacht zu haben. Wenn unter dem Joch gegenwärtiger Arbeitsbedingungen schon niemand glücklich werden kann, greift das grassierende Unglück wenigstens mit Effizienz um sich. So verwandelt sich das Glücksversprechen in eine Strategie zur Verringerung des Mangels – gemäß der Annahme: Weil Glück ohnehin illusorisch ist, müssen wir uns mit der Minimierung des Unglücks begnügen. Der Utilitarismus ist keine Ethik der Verteilungsgerechtigkeit, sondern eine des Rückzugs. Selbst das Glück der Negation ließe sich darin auf das Nützliche reduzieren. In genau diesem Moment verliert es seine Unverfügbarkeit.

Anmerkungen

1 Vgl. Paolo Pasi: Ho ucciso un principio. Gaetano Bresci e il regicidio di Monza. Rom 2020

2 Jeremy Bentham: Principles of Penal Law, Volume I, S. 414, zit. nach Jacques-Alain Miller (Hg.): Utilitarismus. Wien 1996, S. 21

3 Vgl. Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze und Foucault – eine Dekonstruktion. Hamburg 2004, S. 167

4 John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976, S. 8

5 Schmerz ist Kant zufolge etwas anderes als die Fortdauer von Unlust. In seinen »Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie« schrieb er: »Schmerz ist die Unlust durch den Sinn, und was jenen hervorbringt, ist unangenehm. – Sie sind einander nicht wie Erwerb und Mangel (+ und 0), sondern wie Erwerb und Verlust (+ und -), d. i. eines dem anderen nicht bloß als Gegenteil (contradictorie s. logice oppositum), sondern auch als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegengesetzt.« (Immanuel Kant: Das Gefühl der Lust und Unlust, in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, Bd. 1. Frankfurt am Main 1996, S. 171)

6 Bevor sich Mill zunehmend von Carlyles Heroismus und Geschichtsbild distanzierte, wirkte dieser als geistige Einflussgröße auf diesen.

7 Mill: Utilitarismus, S. 15

8 Dazu heißt es bei Mill: »Trotzdem ist die Liebe zum Geld nicht nur eine der stärksten Triebfedern im menschlichen Leben, sondern Geld wird vielfach auch an sich und um seiner selbst willen begehrt: der Wunsch, es zu besitzen, ist oftmals stärker als der Wunsch, davon Gebrauch zu machen, und steigert sich noch, wenn das Bedürfnis nach den Dingen, die man sich mit ihm verschaffen könnte, nachläßt.« (ebd., S. 63 f.)

9 Über den Geldbesitz bemerkt Mill: »Was einmal als Mittel zur Erlangung von Glück begehrt wurde, wird nun um seiner selbst willen begehrt. Indem es aber um seiner selbst willen begehrt wird, wird es als Teil des Glücks begehrt: durch den bloßen Besitz wird der Mensch glücklich oder glaubt, glücklich zu werden, und wird unglücklich, wenn der Versuch, in seinen Besitz zu gelangen, mißlingt. Der Wunsch nach ihm ist von dem Wunsch nach Glück ebensowenig verschieden wie die Liebe zur Musik oder der Wunsch nach Gesundheit. Sie alle sind im Glück enthalten.« (ebd., S. 64 f.)

10 William James, zit. nach: Dieter Birnbacher: Nachwort, in: John Stuart Mill: Der Utilitarismus. Stuttgart 1976, S. 117–126, hier: S. 120 f.

11 Dabei verteidigt Neuhäuser den Standpunkt des Liberalismus: »Wann aber ist Reichtum ungerecht? Meiner Meinung nach ist das immer dann der Fall, wenn Reichtum zu grundsätzlichen Schädigungen von Strukturen und anderen Menschen führt. Sollten beispielsweise reiche Menschen anfangen, erheblichen Einfluss auf die Politik zu nehmen, schädigt das unmittelbar die für liberale Republiken zentrale Grundidee der politischen Gleichheit aller Staatsbürgerinnen.« (Christian Neuhäuser: Wie reich darf man sein? Über Gier, Neid und Gerechtigkeit. Stuttgart 2022, S. 63)

Barbara Eder schrieb an dieser Stelle ­zuletzt am 4. April 2025 über die österreichische ­Sozialpsychologin Marie Jahoda: »Das Elend der Soziologie«.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Lesenswert trotz der späteren politischen Entwicklung, die Lucio...
    07.12.2024

    Schluss mit Hegel

    Antiidealistischer Marxismus. Lucio Collettis Kritik des Revisionismus. Zum 100. Geburtstag des italienischen Philosophen

Regio:

                                                                   junge Welt stärken: 1.000 Abos jetzt!