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11.05.2025, 12:46:52 / Feuilleton
Nachruf

Ein Platz am Tisch

So hart, wie sie es wollen: Zum Tod des Rappers Xatar
Von Marcus Staiger
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Xatar (1981–2025)

Giwar Hajabi ist tot. Die Nachricht erreichte mich am Freitag und zuerst dachte ich, es handle sich um ein Gerücht, wie es so viele gibt, in dieser von Gossip verseuchten Hip-Hop-Welt. Szenetalk, den man nicht weiter beachten muss, doch die Gerüchte verdichteten sich und schließlich erhielt ich die persönliche Bestätigung: Xatar ist gestorben. Eine der verrücktesten und beeindruckendsten Karrieren in Rap-Deutschland hat ihr vorzeitiges, viel zu frühes Ende gefunden.

Zum ersten Mal begegnete mir Xatar im Dezember 2008 in Köln, als ich ihn für rap.de zum Interview traf. Ich glaube, es war sogar eines seiner ersten Interviews mit einem Deutschrap-Magazin überhaupt und dementsprechend imposant wollte er auch auftreten. Langer Mantel schon damals, ein Markenzeichen, das er später zum Kultstatus erheben sollte und ein geliehener Ferrari. Extrastress für den Künstler: Dass da bloß kein Kratzer reinkommt. Die Fotos, die ich von ihm geschossen habe, waren derart legendär, dass sie später sogar von Bild.de geklaut wurden. Einstweilige Verfügung ging raus. Leider sind die Originale über die Zeit verloren gegangen.

Der Kontakt in der Folgezeit blieb lose, aber beständig. Man traf sich hin und wieder auf Szene oder F-Prominenten-Partys. Wir kannten uns. Er wollte ein Label aufmachen und fragte hin und wieder um Rat. Wir waren beim selben Vertrieb. Wir mochten uns.

Irgendwann rief er mich an und erzählte mir in seiner sehr nachdrucksvollen Art, dass wir unbedingt eine Doku zusammen machen müssten, die wir dann an RTL verkaufen könnten, oder so. Es war eine wilde Geschichte, die von einer Flucht aus den USA nach Mexiko handelte und er habe alles gefilmt und das würde so richtig knallen. Ich lachte und wimmelte ihn ein bisschen ab. Wer sollte sich denn für so eine Scheiße interessieren? Semiprominenter Rapper schlägt Frau in der Playboy-Mansion von Hugh Heffner bei der Produktpräsentation eines deutschen Energydrinks, wird von Russen mit einem Geldkoffer auf Kaution freigekauft und flieht dann über Mexiko nach Deutschland. Später sollte das ganze von Fatih Akin verfilmt werden. Aber hey – ich kenne einen Typen, der hat als Lektor für den Brasilianischen Markt die »Game of Thrones«-Bücher abgelehnt. Es gibt schlimmere Fails in der Geschichte der Popkultur, aber eins wurde an dieser Stelle schon offensichtlich: Xatar wollte rein in dieses Universum aus Ruhm und Erfolg. Dafür war ihm jede Geschichte und vor allem jede Schlagzeile recht. Ich dagegen war ihm eindeutig zu langsam.

Und die nächste Schlagzeile ließ nicht lange auf sich warten. Offensichtlich lief es mit der Musikkarriere nicht ganz so gut, anders kann man sich nicht erklären, warum Xatar sich in einen Goldraub verwickeln ließ, der spektakulärer nicht hätte sein können. Mehrere junge Männer verkleideten sich als Zivilpolizisten, stoppten auf der Autobahn einen Goldtransporter, nahmen die Fahrer des Wagens unter dem Vorwand der Steuerhinterziehung fest, setzten diese in einem Wald in der Nähe von Stuttgart aus und machten sich mit dem Transporter aus dem Staub. Die Beute: Mehrere hundert Kilo ungereinigtes Zahngold. Wer bitteschön klaut ungereinigtes Zahngold? Erst später verstand ich, dass das fast so gut wie eine Bankkarte ist – eigentlich noch besser. Du gehst mit zwei drei Zähnen zu einem Goldhändler, lässt Dir dafür Bargeld geben und die Sache ist geritzt. Keine Registrierung. Keine Spuren. Für Xatar ging die Sache allerdings nicht so gut aus. Die Polizei kam den Gangstern auf die Spur und Xatar musste fliehen. Erst nach Moskau, dann in den Irak. In Irakisch-Kurdistan wurde er festgenommen und von den Peschmerga gefoltert, die wissen wollten, wo er das Gold versteckt hatte. Das deutsche Bundeskriminalamt holte ihn dann raus und verbrachte ihn nach Deutschland, wo er zu einer Haftstrafe von insgesamt acht Jahren verurteilt wurde, anscheinend auf der Grundlage eines Paragraphen, der noch aus Kaiserzeiten stammte und sich gegen Wegelagerei richtete.

Zu der Zeit habe ich ihn dann auch im Knast besucht und einen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geschrieben, der dann später auch auf Juice.de veröffentlicht wurde.

Im Knast hat Xatar zum Glauben gefunden. Ein blauer Fleck auf seiner Stirn sollte von häufigen Gebeten zeugen. Gerüchten zufolge war es nach der Haft damit aber schnell vorbei und der erste Besuch nach dem Gefängnisaufenthalt führte ihn nicht in die Moschee, sondern in eher fleischliche Gefilde. Kein Wunder. Xatar war mittlerweile zu einem Mythos geworden, der hinter Gittern heimlich ein Album aufgenommen und aus dem Knast heraus sein Label aufgebaut hatte. Der Goldraub machte ihn zu einem echten, realen Gangster inmitten der ganzen Fake-Rapper. Dieser Nimbus war ihm nicht zu nehmen und mit Witz und Unverfrorenheit schlachtete er die Geschichte aus. So verpackte er falsche Goldzähne in den Boxen, mit denen er sein Album verkaufte, nicht ohne zu erwähnen, dass in einigen der Boxen auch echte Goldzähne liegen würden. Mit Schwesta Ewa und SSIO brachte er erfolgreich alte Weggefährten ins Rap-Game und mit Mero entdeckte er einen der erfolgreichsten und vielversprechendsten Newcomer der aufkommenden TikTok-Ära. Doch Xatar wollte mehr. Er wollte Alles oder Nix. So nannte er dann auch sein Label, das Motto war Programm.

Vielleicht lag es auch daran, dass er trotz der Erfolge immer das Gefühl hatte, ein Außenseiter im Musikgeschäft zu sein. Nicht zu Unrecht. Als Xatar und Gang einmal bei der Echo-Gala aufschlugen und mit Jogginganzügen, Sonnenbrillen und dicken Goldketten protzten, rümpfte so mancher Musikmanager die Nase. Zu prollig das Ganze. Zu kanakisch. Jahre später waren das die gleichen Leute, die um Xatars Gunst buhlten und irre Vorschüsse bezahlten, als es bei ihm lief und er drauf und dran war, ein echtes Musikimperium aufzubauen. Doch die Dinge glitten ihm aus der Hand. Zu viele Pferde gleichzeitig reiten zu wollen ist dann auch für einen Mensch von Xatars Statur zu viel und schließlich ruinierte sein Lifestyle nicht nur seine Gesundheit, sondern auch ihn selbst. In den letzten Jahren musste er Insolvenz anmelden. Sein Goldmann Tower in Köln musste schließen. Xatar war pleite.

Was bleibt, sind zwei Geschichten, die mir immer im Kopf bleiben werden.

Die erste erzählte er mir nebenher, als wir uns einmal mit dem Chef unseres Vertriebs trafen. Sie geht so: Xatar wuchs in Bonn Brüser Berg auf, einer Gegend, die man heute als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde. Er selbst wollte da gar nicht unbedingt raus und setzte dem Stadtteil in seinem Song »Ich will hier nicht weg« ein ebenso witziges wie sozialkritisches musikalisches Denkmal. Brüser Berg wiederum ist ein Stadtteil in der Nähe der Bonner Hardthöhe, wo das Verteidigungsministerium seinen Sitz hat. Da Xatar relativ gut in der Schule war, sollte er das Gymnasium im besseren Stadtteil besuchen, wo er aber als kleiner Junge aus dem Assiviertel keinen Anschluss fand. Als einziger Ausländer (heute »Mensch mit Migrationsgeschichte«) hatte er keine Freunde dort, wurde geschnitten und zu keinem einzigen Geburtstag eingeladen. Xatar war alleine, seine Kumpels waren alle auf der Hauptschule und somit aussortiert, da wo ihn auch seine Gymnasiallehrer lieber gesehen hätten. Deutlich ließen sie ihn spüren, dass auch er eigentlich nicht dorthin gehörte und selbst die anderen Kinder aus dem Verteidigungsministerium ließen den stillen, unauffälligen Jungen aus der schlechten Gegend links liegen. Das änderte sich erst, als Xatar anfing, kleine Päckchen mit in die Schule zu bringen und sie an seine Klassenkameraden zu verkaufen. Es änderte sich, als er sich eine Lederjacke kaufte und bekannt wurde, dass er diese und jene Geschäfte machen würde. Es änderte sich erst dann, als er zu dem asozialen Kanaken wurde, den die anderen in ihm sahen. Ab dann wurde Xatar geschätzt und zu den Partys eingeladen. Ab dann war es cool und auch ein bisschen gefährlich, mit ihm rumzuhängen. Dass er das Gymnasium in der elften Klasse verlassen musste, hatte wahrscheinlich viel mit dem neuen Lebenswandel zu tun – die meisten seiner damaligen Mitschüler und Lehrer dürfte das nicht weiter gejuckt haben, passte das doch mehr ins Bild, als wenn der Schwarzkopf Abitur gemacht hätte.

Später dann eine andere Geschichte. RTL II hatte sich eine Fernsehshow überlegt, in der ein absoluter Volltrottel zum MC ausgebildet werden sollte. Das Ganze hieß »Der Bluff« und einer der Raptrainer war Xatar, der aus einem Lyrikstudenten aus Tübingen einen harter Straßenrapper machen sollte. Der Typ war ein richtig reaktionärer Nerd aus einer Studentenverbindung und konnte mit der Subkultur, die ihm da begegnete, nichts anfangen – ja er wollte das Experiment sogar abbrechen, weil er die Leute so unappetitlich fand. Das war die Stunde, in der ihn Xatar am Arm packte und ihn fragte, ob er Antonín Dvořák kennen würde. Natürlich kenne er Antonín Dvořák, antwortete Fridolin, oder wie auch immer er hieß. »Nun gut«, sagte Xatar, »dann kennst du auch die Symphonie aus der neuen Welt.« »Natürlich kenne ich die Symphonie aus der neuen Welt«, sagte Fridolin. »Dann weißt Du auch, was Dvořák getan hat, um sie zu schreiben« fuhr Xatar fort und erklärte: »Dvořák lebte ein Jahr lang in den USA. Er lebte im Wilden Westen. Er lebte unter Cowboys, Nutten und Indianern. Er lebte mit richtigen Gangstern zusammen und dann ist er zurückgekommen und hat diese wunderbare Musik geschrieben. Er hat das alles benutzt, was er gesehen hat und genauso musst du das auch machen. Du musst hierbleiben und dir alles genau anschauen. Du musst das hier jetzt durchziehen und dann musst du nach Hause gehen und dann schreibst du deine Symphonie aus der neuen Welt!« Die Augen des jungen Studenten begannen zu leuchten. Er richtete sich auf. Er hob den Kopf. Er schaute in die Zukunft. »Das werde ich machen«, sagte er und stand auf. Ganz gerade stand er und mit fester Stimme sagte er: »Genau das werde ich machen.«

Die Szene wurde gefilmt, erzählte Xatar. Der Kameramann hatte sie festgehalten. Sie stand zwar so nicht im Drehbuch der Scripted-Reality-Show, aber sie war gut. Xatar hatte einen Jackpot gelandet, so dachte er. Das war die beste Szene in der ganzen Serie, dachte er, die Schlüsselszenen der kompletten Staffel. Doch sie wurde nie gesendet. Später am Abend setzte sich die Aufnahmeleiterin der Serie zu Xatar und meinte, dass sie die Aufnahmen leider nicht verwenden könnten. Sie würden nicht ins Bild passen. Ein Kanake, der Antonín Dvořák kennt, wo gibt’s den sowas? Xatar ist doch der harte Gangster. Das wollen die Leute sehen. Die wollen doch keinen Ausländer sehen, der irgendwas von Antonín Dvořák erzählt. Glaubt doch kein Mensch.

In diesem Sinne verlässt uns mit Xatar wohl einer der verkanntesten Künstler der jüngeren Rapgeschichte. Ein Mensch, der wahrscheinlich nie so hart war, wie es seine Umwelt von ihm verlangte, wie sie ihn sehen wollte und nicht zuletzt wie auch er selbst sich sehen wollte und inszeniert hat. Ein sensibler Künstlertyp, der immer um seine Anerkennung gekämpft hatte und um das Recht, mit am Tisch sitzen zu dürfen. Ein kleiner Junge mit sehr, sehr großen Träumen. Rastlos. Maßlos. Alles oder nix eben. Bis zum Schluss.

Rest in Power Giwar.

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