Nur zweite Wahl
Von Nico Popp
Friedrich Merz hat seinen langen Marsch ins Kanzleramt über die Ziellinie gebracht – wenn auch mehr taumelnd als fürbass einherschreitend. Sah es am Dienstag zunächst so aus, als würde die Krönungsmesse im Bundestag mit dem anschließenden Termin beim Bundespräsidenten ohne Komplikationen abrollen – Bild, das Zentralorgan der neuen Regierung, verbreitete bereits, Merz habe höchstpersönlich ein »10-Liter-Fass bestes Pils aus seiner Heimat im Sauerland« nach Berlin transportiert und kalt gestellt –, gab es gegen 10 Uhr Getuschel und lange Gesichter im Plenum: 18 der 328 Abgeordneten, über die Union und SPD verfügen, hatten Merz im ersten Wahlgang nicht gewählt. Sechs Stimmen fehlten also zur absoluten Mehrheit von 316 Stimmen. Eine Premiere in der Geschichte der Bundesrepublik: Seit 1949 kamen die Kandidaten für das Kanzleramt immer im ersten Wahlgang durch – selbst dann, wenn die Mehrheiten der Koalitionsparteien noch knapper waren.
Merz hatte sich noch am Montag überzeugt gezeigt, dass das auch diesmal so laufen wird. Am Dienstag war ihm folglich die Überraschung anzusehen; er verließ unverzüglich den Plenarsaal und zog sich in sein Büro zurück.
Das anschließende Hin und Her spricht dafür, dass diese Situation tatsächlich nicht antizipiert worden war. Zunächst verlautete, es finde am Dienstag definitiv kein weiterer Wahlgang mehr statt. Gegen Mittag schwenkte die Union dann um. Man könne »jetzt nicht tagelang warten, sondern wir brauchen schnell Klarheit«, erklärte Generalsekretär Carsten Linnemann. Alle Oppositionsfraktionen hatten da bereits signalisiert, dass sie einem schnellen zweiten Wahlgang nicht im Wege stehen werden. Ein Antrag, der gemeinsam von Union, SPD, Grünen und Linkspartei eingebracht wurde, machte den Weg frei. Ihm stimmte auch die zu den Verhandlungen der Fraktionsführungen nicht zugelassene AfD zu.
Besonders erzürnt über die zunächst misslungene Installation der neuen Regierung hatte sich zuvor Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow (Die Linke) gezeigt. Der ehemalige Thüringer Ministerpräsident warf sich in seine Lieblingspose – die des Staatsmannes, der alle auftauchenden Fragen unter dem Gesichtspunkt der »staatspolitischen« Verantwortung diskutiert. Gegenüber dpa beschrieb Ramelow seinen Gemütszustand ob des angerichteten »Chaos« als »krachsauer«. Auch viele andere Stellungnahmen der parlamentarischen Opposition fielen am Dienstag betont staatstragend aus – alle Beteiligten, so schien es, wollten Friedrich Merz so schnell wie möglich im Kanzleramt sehen. Viele bei der Linkspartei werden am Rande mit Freude registriert haben, dass die Union die angebotene Zusammenarbeit bei der dafür nötigen »Abweichung« von der Geschäftsordnung akzeptiert hat.
Bis zum späten Nachmittag wurde das »Chaos« mit vereinten Kräften reguliert. Im zweiten Wahlgang erhielt Merz 325 Stimmen. 289 Abgeordnete stimmten mit Nein. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass der Stolperer von Merz gewichtigere Folgen haben wird als ein paar verschobene Protokolltermine. Die Angelegenheit ist für Merz peinlich, aber es spricht kaum etwas dafür, dass er fortan mit grundsätzlichen Vorbehalten in den Regierungsfraktionen wird rechnen müssen. Einzelne Leute, die aus jeweils unterschiedlichen Gründen verstimmt sind und ein »Zeichen« setzen wollen, sind kein politischer Faktor. Es ist vorläufig auch offen, ob die nominelle Opposition im Bundestag ein solcher Faktor ist.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (7. Mai 2025 um 09:17 Uhr)Zweite Wahl – fürs Weiter-so? Aller guten Dinge sind offenbar zwei – Friedrich Merz hat es im zweiten Anlauf ins Kanzleramt geschafft. Ein Novum in der Geschichte der Bundesrepublik, ein Stolperstart für den selbsternannten Macher. Doch nun ist er da: Merz – der beste Kanzler, den wir gerade haben. Weil wir eben keinen besseren gewählt haben. Der Mann, der einst versprach, die Steuererklärung auf einem Bierdeckel unterzubringen, bringt heute statt Steuervereinfachung vor allem einen Kasten Sauerländer Symbolpolitik mit. Mit 69 Jahren ist er gereift, gewiss – nicht zuletzt durch Jahre im Aufsichtsrat von BlackRock. Dort lernte er, wie Kapitalflüsse funktionieren. Ob das automatisch auch zur Regierungsfähigkeit qualifiziert, ist allerdings eine andere Frage. Die neue alte Große Koalition – CDU/CSU und SPD – wirkt weniger wie ein Aufbruch als wie ein Griff ins Parteienstaubarchiv. Man nennt es Stabilität, wenn Stillstand gemeint ist. Der politische Reflex auf eine unruhige Gesellschaft scheint klar: Wenn alles in Bewegung gerät, liefern wir eben das Gegenteil. Merz’ politische Agenda liest sich wie ein konservativ-liberaler Wunschzettel: Steuersenkungen für Unternehmen, Kürzungen beim Bürgergeld, strengere Migrationspolitik. Kein Aufbruch, kein Risiko – sondern das Versprechen, dass alles bleibt, wie es war. Es ist die Politik der ruhigen Hand in einer Zeit, die eigentlich entschlossene Antworten verlangt. Während die AfD immer stärker wird, setzt Deutschland auf einen Kanzler, der sich wie ein Bollwerk gegen jede Veränderung geriert. Ob das ausreicht, um die politische Balance zu halten? Die Geschichte wird das vielleicht nicht beantworten. Aber die Wählerinnen und Wähler – schon bald.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (7. Mai 2025 um 06:46 Uhr)Es dürfte Blackrock völlig egal sein, in welchem Wahlgang Friedrich Merz zum deutschen Bundeskanzler gewählt wurde. Für sie bleibt er dennoch erste Wahl, mit absolut fester Profitgarantie. Wetten?
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Leserbrief von kwf (6. Mai 2025 um 21:53 Uhr)Ohne diesen Artikel zu kennen, hatte ich den selben Gedanken: Ab jetzt heißt es, soll es heißen: Merz, die zweite Wahl!!!
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Leserbrief von Ronald Prang aus Berlin (6. Mai 2025 um 21:29 Uhr)Ja, damit hat wohl keiner gerechnet, 18 Stimmen der eigenen Koalition fehlten. Viele Gründe wurden diskutiert, persönliche Karrierewünsche, kleinliche Rache seiner Parteigänger, unzufriedene Sozi's und viele andere Dinge wurden über Stunden diskutiert. Ich dachte sofort an die Äußerungen von Jens Spahn zum »normalen Umgang« mit der AfD. Ich denke, der alte Franz von Papen hat viele Enkel in der CDU, wie lange sich die SPD »am Nasenring durch die Arena führen lässt« kann man erst in der Rückschau sehen. Das »ranwanzen« vom neuen Kanzler an die AfD ist noch nicht vergessen, seine sogenannte »Migrationspolitik« hat er doch 1:1 von der AfD abgeschrieben. Viele seiner »Parteigänger«, die ihren Kopf im Wahlkampf für die Schuldenbremse zum Markt getragen haben, die in übelster Art und Weise gegen »die Grünen« gehetzt haben und heimlich schon lange die gleichen rassistischen und nationalistischen Vorstellungen haben, liebäugeln doch schon lange zur AfD. Gauland, Maasen und wie viele Unbekannte haben nach Jahren in der CDU endlich in der AfD ihre politische Heimat gefunden?? Die Wähler, die aus Frust, aus Angst oder einfach nur aus Dummheit oder Protest die AfD gewählt haben, kann man vielleicht zurückgewinnen, aber die verbohrten Antikommunisten, die strammen »Rechtskonservativen «, die Nationalisten und versteckten Rassisten in der CDU - eher NICHT. All diese »Enkel des Franz von Papen« sind noch aus Karriere-Gründen in der CDU, aber wie lange noch?? Das ist das Traurige an einer Demokratie, man kann sie ganz demokratisch Abschaffen. Sicherheit für Demokratie gibt es nur mit einer starken und demokratischen Linken. 2 Versuche des demokratischen Sozialismus sind in Prag und in Chile an der Gewalt gescheitert, vielleicht schafft die Welt es im 3 Versuch, ich fürchte nur ich erlebe es nicht mehr. ...doch es lohnt, sich dafür einzusetzen.
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