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Aus: Ausgabe vom 05.05.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Marxistische Debatte

Die Neoklassik überwinden

Klar strukturiert und gut lesbar: Klaus Müllers Buch über die »marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert«
Von Manfred Hieke
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Mit Geldfunktion? Produktion von goldhaltigen Doré-Barren in Kasachstan (Warwarinskoje, 16.4.2025)

Klaus Müllers neues Buch ist für Leserinnen und Leser geschrieben, die sich für ökonomische Theorie, vor allem für das Werk von Karl Marx interessieren. Für junge Leute beispielsweise, die einen Einstieg suchen. Und ebenso für Marx-Kenner, die neuere Wortmeldungen in der weitgefächerten Diskussion kennenlernen wollen. In den Mittelpunkt stellt Müller die Frage, ob die Marxschen Theorien in der Gegenwart Bestand haben und helfen, den Kapitalismus der Gegenwart zu verstehen. Er findet einen gangbaren Weg, die Vielfalt der Meinungsäußerungen zu ordnen, das Wichtigste herauszuheben, andere Auffassungen zu kritisieren und Angriffe zurückzuweisen. Trotz der herausfordernden Thematik ist das Buch klar strukturiert und gut lesbar.

Auf fast einem Drittel der Seiten befasst sich Müller mit den Grundbegriffen Arbeit, Wert und Wertgrößen, was nicht verwundert, denn die ersten drei Kapitel des ersten Bandes des »Kapital« werden noch immer kontrovers diskutiert – von Marxisten und ihren Gegnern. Dabei sind die Grundaussagen eigentlich nicht so schwer zu verstehen. Für Marx war immer klar: Die Ware ist ein Arbeitsprodukt. Die konkrete Arbeit führt zum Gebrauchswert, die abstrakte zum Wert: »Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.«

Das sehen längst nicht mehr alle so. Für die Gruppe »Exit« zum Beispiel ist die Marxsche Lehre und darüber hinaus die gesamte Ökonomie eine Pseudowissenschaft und gehört gestrichen. Allenfalls an die Physik könne man anknüpfen. Die »neue Marx-Lektüre« – eine »unpolitische«, vor allem in akademischen Institutionen erfolgreichere Strömung – lehnt die ökonomische Wissenschaft als solche nicht ab. Es gibt aber große Differenzen zu Grundauffassungen von Marx, etwa hinsichtlich der abstrakten Arbeit. So wird behauptet, es könne nur die konkrete Arbeit gemessen werden, weshalb abstrakte Arbeit und Wert erst durch den Tausch zustande kommen. Nicht nur Wolfgang Fritz Haug hat die »neue Marx-Lektüre« eine »Entführung aus dem Marxismus« genannt. Müller hält dieser Strömung zutreffend entgegen: Die Abstraktion von den verschiedenen konkreten Arbeiten erfolgt nicht erst im Tausch, »sondern dort, wo Arbeit, konkret und abstrakt, verausgabt wird, in der Produktion«. Das ist nicht nur ein akademischer Disput, sondern hat praktische Konsequenzen. Bei den regelmäßigen Freudenbekundungen darüber, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigungen wieder einmal zugenommen hat, wird vergessen, dass das nur Dienstleistungen betrifft, während Industriearbeitsplätze weiter abwandern, was eben auch werttheoretisch relevant ist. Ein Land wird nicht »reich«, wenn alle sich gegenseitig die Haare schneiden.

Als ausgewiesener Geldtheoretiker behandelt Müller die Notwendigkeit des Geldes, nichtmarxistisches Geldverständnis, Tauschlegende, Kreditgeld, Arbeitsgeld und anderes. Geld ist ein Streitgegenstand, wie vieles in der Wirtschaftstheorie. Manche linke Autoren meinen, dass auch heute das Gold seine Geldfunktion behalten habe. Sieht man sich die aktuellen Goldpreise an, könnte da etwas dran sein. Doch klar ist, dass heute nicht mehr das Gold, sondern Zentralbanknoten als Zahlungsmittel fungieren. Trotz aller Unklarheiten und Diskussionen sollte für Marxisten klar sein, dass Geld eine Wertgrundlage braucht, die es heute nicht mehr hat. Das »Fiatgeld« führt zu wachsenden Disproportionen. Wer sich für Geld interessiert, sollte diesen Abschnitt unbedingt lesen.

Auch der Abschnitt über die Reproduktionstheorie ist deshalb lesenswert, weil volkswirtschaftliche Reproduktion ein immer wichtigeres Thema wird. In der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft ist darüber kaum etwas zu erfahren. Müller befasst sich auch mit der erweiterten Reproduktion, die schon bei Marx ein schwieriges Thema war.

Müller schließt sein Buch mit dem Kapitel »Marx zwischen Klassik und Neoklassik«. Die Neoklassik beherrscht die bürgerliche Wirtschaftslehre und hat die Klassik und Marx zurückgedrängt. Wer heute wie Thomas Piketty noch glaubt, es gebe einen sehr einfachen ökonomischen Mechanismus, der für ein Gleichgewicht sorge, das Gesetz von Angebot und Nachfrage – und das ist die Grundaussage der Neoklassik –, wird den Anforderungen nicht gerecht. Müllers Fazit lautet: Die Marxsche Theorie ist nach wie vor aktuell und wird gebraucht, um die Neoklassik zu überwinden und eine zukunftsfähige Wirtschaftstheorie zu etablieren.

Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhundert. Mangroven, Kassel 2024, 462 Seiten, 36 Euro

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