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Aus: Ausgabe vom 05.05.2025, Seite 12 / Thema
Literatur

»Kann sich ein Drecksack ändern?«

Herrenamoralismus ohne Mitleid, oder: Wann wird der Mensch gut? Überlegungen zu George Saunders, Leo Tolstoi und Bertolt Brecht
Von Hans Otto Rößer
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Sich selbst retten oder dem Knecht helfen? Verloren im Schnee. Zeichnung von Charles Copeland (1899)

Als ich mich Ende des vergangenen Jahres auf die Moderation einer Veranstaltung zu Anton Tschechows Erzählungen vorbereitete, bekam ich einen Hinweis auf George Saunders’ »Bei Regen in einem Teich schwimmen. Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen«.¹ Der Band enthält sieben Erzählungen russischer Autoren, drei von Tschechow, zwei von Leo Tolstoi und je eine von Iwan Turgenjew und Nikolai Gogol sowie Saunders’ Analysen unter den drei im Untertitel genannten Aspekten. Saunders schreibt unterhaltsam und für interessierte Laien gut lesbar. Er äußert sich nicht als Literaturwissenschaftler, sondern als einer, der selbst schreibt.

Saunders ist studierter Ingenieur und US-amerikanischer Erzähler. Außerdem unterrichtet er kreatives Schreiben an der Syracuse University im Staat New York. Wer jetzt abwinkt, weil er oder sie sich selbst nicht als Autor bzw. Autorin sieht, wird von Saunders auf die »konkrete Verbindung« zwischen Schreiben und Lesen hingewiesen. Die Konstruktionsregeln gelingenden Schreibens bilden zugleich jene Elemente im Text, an denen entlang sich ein verstehendes Lesen zum Verständnis des Gesamttextes entwickeln kann. Daher wendet sich dieser Band nicht nur an künftige Autoren, sondern an Leserinnen und Leser und dabei besonders an Liebhaber der russischen Erzählprosa.

Die russischen Erzählungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hat Saunders deshalb als Muster gewählt, an denen er gutes Schreiben (und Verstehen) lehren will, weil sie für ihn zur »Hochphase des Genres« zählen, sie »einfach, klar, elementar« geschrieben sind und dabei die »Grundprinzipien« einer Erzählung sichtbar werden lassen. Einen weiteren Grund nennt er eher beiläufig: Im Blick auf die Tolstoi-Erzählung, um die es im Folgenden geht, spricht er von der strikten Faktenorientierung dieser Erzählweise (zu den Fakten gehören natürlich auch die erzählten Gedanken und Gefühle der Figuren). Damit meint er vor allem, dass sich der Autor aus der Erzählung »heraushält«, dass er das Erzählte nicht kommentiert.

Zu den Vorzügen der Saundersschen Lektionen gehört auch die Beschränkung auf wenige Grundprinzipien. Während sechs der sieben dokumentierten Erzählungen als zusammenhängender Text präsentiert werden, zerteilt er die erste Erzählung des Bandes in Abschnitte, denen sich seine Erläuterungen anschließen. Damit will er ein wesentliches Grundprinzip des Schreibens klarmachen: Für ihn ist entscheidend, mit welchen Mitteln ein Autor Erwartungen aufbaut, die die Leser in die Geschichte hineinziehen und sie »bei der Stange« halten. Auf der Seite der Rezeption entspricht dem die Lesestrategie, Fragen an den Text zu stellen, den bisherigen Stand der Lektüre zusammenzufassen und Vorhersagen über den weiteren Verlauf einer Erzählung zu treffen. Zur Technik des Erwartungsaufbaus zählt Saunders folgende Aspekte: Die Elemente einer Erzählung müssen in einem sinnvollen Zusammenhang stehen (»Kausalität«). Elemente, die dem nicht dienen, sind überflüssig. Die Darstellung der einzelnen Figuren soll im Lauf einer Erzählung eine zunehmende Spezifizierung hin zu komplexen Charakteren erfahren und die steigernde Konstruktion von Erzählpassagen und der Erzählung insgesamt soll dem Muster der klassischen Dramatik folgen: von der Klärung der Voraussetzungen einer Handlung (»Exposition«) über Spannungsaufbau zum Höhepunkt des Konflikts, schließlich über die abfallende Handlung zur Lösung.

Der Herr und sein Knecht

Im vierten Kapitel von Saunders’ Buch geht es um Tolstois Erzählung »Herr und Knecht« aus dem Jahr 1895. Es ist die Geschichte einer dreifachen Irrfahrt, vor allem aber eine der inneren Umkehr, eine Saulus-Paulus-Geschichte mit tödlichem Ausgang.

Die erzählte Zeit gibt Tolstoi mit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts an, sie liegt also nach der Aufhebung der Leibeigenschaft im zaristischen Russland. Aus dem Gesinde sind freie Lohnarbeiter geworden. Trotzdem können die Herren Verhaltensweisen des Feudalismus weiterhin praktizieren, solange die Knechte keine realen Aussichten haben, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Geschichte beginnt an einem Feiertag. Es liegt Schnee, man muss mit Schneestürmen rechnen. Trotzdem will der Herr Wasilij Andrejitsch Brechunow auf einem Pferdeschlitten zu einem Gutsbesitzer in ein zehn Kilometer entferntes Dorf fahren, um ihm einen kleinen Wald abzukaufen. Auf Drängen seiner Frau nimmt er seinen Knecht Nikita als Begleiter mit.

Wasilij ist ein Kaufmann der zweiten Gilde, das heißt, er betreibt zwar keinen internationalen Handel, unterscheidet sich aber deutlich von einem Kleinbürger. Er hat zwei Güter gepachtet, besitzt einen Laden, eine Mühle, Schenken und einen Getreidehandel. Seine »gesamten Geisteskräfte« widmet er der Vermehrung seines Eigentums, darum will er unbedingt konkurrierenden Holzhändlern beim Erwerb des Waldes zuvorkommen. Er sieht sich als fleißigen, unermüdlichen Geschäftsmann, einen großen Teil seiner Klassengenossen, vor allem aber die Unteren, die Bauern und Tagelöhner, hält er dagegen für Faulenzer und Dummköpfe.

Der 50 Jahre alte Knecht Nikita ist ein seit einigen Wochen trockener Alkoholiker und am Tag der Fahrt der einzig nüchterne unter den Knechten. Wasilij hat ihn trotz seiner vorigen Exzesse als Knecht behalten, da er seinen Fleiß und seine Geschicklichkeit, vor allem seine Anspruchslosigkeit, schätzt. Er bezahlt ihm nur die Hälfte des Lohnes und davon einen Teil in überteuerten Lebensmitteln aus seinem Laden. Sie gehen zum großen Teil an Nikitas Frau, die mit einem Lebensgefährten und den Kindern getrennt von ihm lebt. Während sich der Herr mit zwei Pelzen auf das Wetter einstellt, ist Nikita deutlich schlechter bekleidet. Seine geflickten Stiefel bedeckt er mit Stroh.

Schon bald nach Beginn der Fahrt stehen sie vor einer Kreuzung. Der Herr fragt Nikita nach seinem Rat. Der Knecht ist für den längeren Weg, weil dieser im Schnee besser befahrbar ist. Der Rat wird ignoriert, die Erfahrung des Knechtes hat gegen den Willen des Herren, zu einem schnellen Geschäftsabschluss zu kommen, kein Gewicht. Fortan resigniert Nikita, über den es später heißt, er habe sich daran gewöhnt, anderen zu gehorchen und keinen eigenen Willen zu haben. Er macht ein Nickerchen, und gleich darauf merkt der Herr, dass er sich verfahren hat.

So landen sie im Dorf Grischkino, nur fünf Kilometer von ihrem Ziel entfernt. Das Übernachtungsangebot eines Bekannten schlägt der Herr aus. So verirren sie sich erneut und landen schließlich wieder in Grischkino. Sie machen Rast in einem Gehöft und wärmen sich auf. Der Herr trinkt Schnaps, während Nikita seine Ab­stinenz durchhält und heißen Tee zu sich nimmt. Wieder lehnt der Herr ab, zu übernachten.

Gegen Nikitas inneren Vorbehalt brechen sie auf und landen bei dichtem Schneefall in einem zerklüfteten Gelände. An eine Weiterfahrt in der Nacht ist nicht zu denken. Nikita wickelt sich notdürftig in eine Packleinwand, Wasilij vergräbt sich in seine beiden Pelze. Sie fallen in einen unruhigen Schlaf.

Der Kaufmann gerät durch eine immer stärker werdende Angst in eine Unruhe, die er nur überwinden kann, wenn er etwas tut. Er beschließt, allein mit dem Pferd aufzubrechen, und nimmt dabei den Tod des Knechtes in Kauf. Wasilij verliert jedoch die Orientierung, das Pferd bricht in einer Schneewehe ein und geht ohne Reiter weiter. Als dieser ihm folgt, gelangt er zurück zu dem Schlitten, der nur fünfzig Schritte von der Stelle seines Sturzes entfernt steht. Als ihn Nikita wahrnimmt und ihm mit schwacher Stimme sagt, dass er sterben werde, scharrt der Herr mit »Entschlossenheit« den Schnee von Nikita und legt sich auf ihn, so dass sein durch die Aktivitäten erhitzter Körper den Knecht wärmen kann. Dann deckt er sich mit den beiden Pelzen zu. Er bemerkt noch, dass das Pferd ohne Bedeckung dasteht und am ganzen Leib zittert.

Am nächsten Mittag schaufeln Bauern den Schlitten frei. Das Pferd und der Herr sind tot, der Knecht aber hat die Nacht überlebt. Ihm werden zwei Zehen amputiert, und er lebt danach noch zwanzig Jahre. Ihr Schlitten befand sich wenige Schritte von der Landstraße entfernt in der Nähe eines Dorfes.

Die Verwandlung

Die größte Anstrengung in seiner Kommentierung verwendet Saunders auf die Frage, ob es Tolstoi gelingt, Wasilijs Verwandlung plausibel darzustellen, oder ob sie so unwahrscheinlich ist, dass die Geschichte zerfällt. Es geht um die Kohärenz der Erzählung. In Saunders’ Worten: »Er (Tolstoi) muss eine Verwandlung hinkriegen, die wir glauben können.« Tolstoi hat nach Saunders »einen überzeugenden Fiesling« erfunden, der eine radikale moralische Erweckung erfährt. Indem dieser »Fiesling« und »Schwadroneur« sein Leben für das Leben des Knechtes opfert, begeht er eine Tat, die sogar über das moralisch Gebotene hinausgeht. Moralisch geboten ist, dem Anderen keinen Schaden zuzufügen und ihm in seiner Not, sofern man es kann, zu helfen. Keine Moral der Welt verlangt von einem moralischen Subjekt, dass es sein Leben opfert. Daher wird dieses Verhalten in der Ethik supererogatorisch genannt. Saunders selbst rückt Wasilijs Verwandlung ins Religiöse und Märtyrerhafte. Die Geschichte ende schließlich »mit der größten Heimkehr« Wasilijs in die moralische Vervollkommnung und »in den Himmel«.

Saunders bejaht dennoch die Frage nach dem Gelingen der Verwandlung, und zwar deshalb, weil Wasilij in der Geschichte »kein komplett neuer Mensch« werden muss, der seinen »Kraftquellen« abschwört. Diese Kraftquellen sind seine Handlungsbereitschaft. Er muss sich genau darauf besinnen, um die Angst zu vertreiben, die ihn in der Winternacht erfasst. Daher reitet er allein weg und lässt Nikita im Stich, um sein eigenes Leben zu retten. Als dieser Ausweg scheitert und Wasilij zum Schlitten und zu Nikita zurückkehrt, kehrt auch die Angst zurück. Seine Angst vor der Angst ist größer als die Angst vor dem Tod. Also muss er etwas tun, und dieses Tun besteht in der oben beschriebenen Rettung des Knechtes. Für Saunders ist das »nur« eine Umlenkung, »nur« eine Umsteuerung seiner habituellen Energie, Dinge anzupacken, diesmal aber nicht zu seinem eigenen Nutzen. Allerdings empfindet Wasilij bei seiner selbstlosen Tat, so die Erzählung, zugleich »eine seltsam feierliche Rührung«. Die Imagination der eigenen Grandiosität ist die Droge, unter deren Wirkung er zur Selbstaufopferung bereit ist.

Saunders notiert eher beiläufig, dass Tolstoi Wasilijs Verwandlung einführt, ohne ihre »innere Logik« zu erzählen. Nähme er diese Wahrnehmung ernst, müsste er zu dem Schluss kommen, dass Tolstoi das Erzählen durch Propaganda ersetzt. Im Anschluss an eine Charakterisierung Tolstois durch Vladimir Nabokov bemerkt er: »Tolstoi suchte auf zwei Wegen nach der Wahrheit: als Schriftsteller und als Moralprediger.« Diese Beobachtung legt die Annahme nahe, dass dieser Widerspruch auch das Schreiben Tolstois selbst erfasst und zu einem Bruch in seiner Erzählweise führt. Wasilijs Verwandlung bricht mit dem Realismusanspruch der Erzählung.

Es geht um den Realismus

Die innere Logik der Erzählung Tolstois und die wohlwollende Interpretation durch Saunders sind nur die eine Seite des Problems. Die andere besteht darin, dass Literatur zwar nicht »wie das reale Leben« funktioniert, aber ein Modell des Lebens entwirft. Realistische Erzählungen ähneln der Welt »da draußen«. Darin besteht nach Saunders die »Essenz des ›Realismus‹«. Daher stellt sich für ihn mit der Wandlung Wasilijs die »allgemeinere« Frage: »Kann sich ein Drecksack ändern?«

Saunders folgt einer richtigen Intuition, wenn er Änderungen bei erwachsenen Personen allenfalls von einer geringen Umsteuerung der Persönlichkeitseigenschaften erwartet. Da er in Wasilijs Tatendrang eine stabile Grundlage seiner Persönlichkeit sieht, wären hier vor allem die darauf gerichteten selbstkritischen Überlegungen des Herren in Betracht zu ziehen. Die Defizite seiner Handlungsbereitschaft resultieren im wesentlichen aus einer Unbedachtheit, die durch seinen Herrendünkel befeuert wird. Die Einforderung bedingungsloser Gefolgschaft, seine Rücksichtslosigkeit und die bornierte Ansicht, dass die Korrektur einer Entscheidung ein Zeichen von Schwäche sei, die sich ein Herr nicht leisten dürfe, machen ihn immun gegen Ratschläge von seinesgleichen, besonders aber gegen Ratschläge, die von Untergebenen kommen. Erst nach dem dritten Verirren gesteht er sich ein, dass seine Entschlüsse wenig durchdacht sind und keine Folgenkalkulation kennen. So bedauert er nun, da ihm die Folgen bewusst werden, gleich zweimal, dass er nicht in Grischkino über Nacht geblieben ist. Aber diese Einsicht kommt zu spät. Anders verhält es sich mit einer zweiten Diagnose, die zur klarsten gehört, die er in dieser Krise trifft: »Zusammen hätten wir es wärmer«, bemerkt er zu Nikita. Diese Einsicht, die zum lebensrettenden Ausweg hätte führen können und die merkwürdigerweise von Saunders noch nicht einmal erwähnt wird, lässt er jedoch gleich wieder fallen, und zwar mit einem durchaus läppischen Einwand: »Aber zwei können hier (auf dem Schlitten) nicht sitzen.« Nikita greift den rettenden Gedanken seines Herren nicht auf, sondern lässt sich lediglich auf das völlig irrelevante Platzproblem ein: »Ich werde schon einen Platz finden.«

Der deprimierende Verlauf dieses Dialogs zeigt, dass die selbstkritischen Gedanken Wasilijs keine stabile Wirkung haben. Zugleich verweist er auf sein (Nicht-)Verhältnis zur Moral. Saunders’ Hinweise auf Wasilijs Habitus als »Macher« machen plausibel, dass er die Initiative ergreift und bis an das Ende seines Lebens ein Handelnder bleibt. Sie erklären aber nicht die moralische Wende, die plötzliche moralische Motivierung seines Handelns.

Keine Moral für die Unteren

Wenn man sich aus guten Gründen nicht auf die problematischen Grundlagen geläufiger Theorien zur Persönlichkeit einlassen will, könnte der Bezug auf Aspekte der Moraltheorie weiterhelfen. Diese kennt zwei Grade der Distanz zu einem moralischen Bewusstsein. Zum einen identifiziert sie Menschen, denen jegliche Motivation fehlt, moralisch zu handeln. Diese haben einen »lack of moral sense«. Das Unvermögen, sich selbst und andere als Teile eines moralischen Universums zu sehen, muss nicht unbedingt ein Fall von Psychopathologie sein. Der Philosoph Ernst Tugendhat sieht darin eine »Möglichkeit«, man könnte auch sagen: eine Verführung, »die uns (…) dauernd begleitet«². Solche Menschen verhalten sich moralkonform, solange es ihnen nützt. Sie verletzen moralische Pflichten aber dann, wenn es ihnen nützlich erscheint und sie damit rechnen können, nicht ertappt zu werden. Insoweit wäre die kontraktualistische Quasi­moral das Konzept, das diesen Handlungsweisen am ehesten entspricht. Dass Wasilij zu diesem Typus zählt, könnte man daraus schließen, dass er auch vielen Menschen seiner eigenen Klasse mit Verachtung begegnet. Immerhin gibt es noch Menschen seines Milieus, die er zu respektieren scheint. So redet er den alten Besitzer des Gehöfts in Grischkino als »Bruder« an. Zugleich legt er größten Wert darauf, moralisch gut dazustehen. Wasilij ist »der Überzeugung«, Gutes zu tun, wenn er Nikita den Lohn halbiert, wohl, weil er den (jetzt ehemaligen) Trinker überhaupt beschäftigt und weil man seine Bezahlung mit Naturalien als Erziehungsmaßnahme in Nikitas eigenem Interesse und dem seiner Familie verstehen könnte.

Eindeutiger, als es der Befund des »lack of moral sense« wäre, kann man Wasilij einen selektiven, klassengebundenen Amoralisten nennen.³ Er hat eine partikulare Pseudomoral gegenüber Menschen seiner eigenen Klasse, schließt aber die Unteren aus dem moralischen Universum aus, benutzt sie als Instrument seiner Interessen und lässt sie rücksichtslos fallen, wenn sie ihm als nicht mehr nützlich erscheinen. Am deutlichsten wird dieser klassengebundene Amoralismus, bevor noch bei Wasilij der Plan heranreift, Nikita im Stich zu lassen. Beim Blick auf den nur unzulänglich vor der Kälte geschützten Knecht denkt er: »Wenn der Mensch nur nicht erfriert, seine Kleider sind gar zu schlecht. Dann werde ich noch dafür verantwortlich gemacht. Es ist wirklich ein dummes Volk. Ganz ungebildet.« Diese Bemerkung zeigt keinen Funken von Mitleid, nur die Angst davor, den Ruf zu verlieren. Das daraus resultierende Unbehagen mindert er jedoch dadurch, dass er diejenigen, bei denen er diesen Ruf verlieren könnte, verächtlich macht. Als er sich schließlich dafür entscheidet, wegzureiten, und sich eine Chance auf Rettung ausrechnet, weil das Pferd es mit nur einem Reiter schaffen könnte, die Ortschaft zu erreichen, demonstriert er nicht nur seine völlige Empathielosigkeit, sondern offenbart die Grundlagen seines Amoralismus, indem er Nikitas Recht auf Leben, zumindest die Gleichwertigkeit aller Leben, negiert: »Nikita kann es ganz gleich sein, ob er stirbt. Was hat er für ein Leben! Um so ein Leben brauchts ihm nicht leid zu tun, aber ich habe, Gott sei Dank, soviel, dass ich mein Leben genießen kann.« Würde er auf die »Dummköpfe« hören, der schwachen Regung der Angst vor der Schande nachgeben und Nikita beistehen, würde er sein Leben »für nichts und wieder nichts« aufs Spiel setzen.

Angesichts dieser Zuspitzung erscheint seine moralische Umkehr tatsächlich als drastischer Bruch in der Erzählung, als unmotiviertes Wunder. Saunders’ Einsicht, bei Erwachsenen mit nur minimalen Veränderungen im Kern der Persönlichkeit zu rechnen, würde es eher entsprechen, wenn Wasilij aus seiner Erkenntnis, dass er und Nikita es zusammen wärmer hätten, die Konsequenzen gezogen hätte. Hätten beide sich auf der Seite liegend aneinander gewärmt, dadurch die geringstmöglichen Anteile ihrer Körperoberfläche der Bodenkälte ausgesetzt und sich mit den beiden Pelzen des Herren geschützt, hätten sie bessere Überlebenschancen gehabt. Gemessen an dieser rationalen Kalkulation der Überlebensinteressen beider erscheint Wasilijs Aufopferung nicht nur als unmotiviert, sondern auch als undurchdacht. Die Erzählung basiert auf einer dunklen Ironie: Beiderseitig eigennütziges Handeln hätte Wasilijs Leben gerettet, moralisch-supererogatorisches Handeln kostete ihn das Leben.

Nach der »inneren Logik« der Erzählung hätte es keiner moralischen Umkehr bedurft. Beide hätten sich zum je eigenen Nutzen wechselseitig instrumentalisiert und damit die bestmögliche Chance zum gemeinsamen Überleben ergriffen. Im Falle des Überlebens beider hätte Tolstoi natürlich die Geschichte anders beenden müssen. Vor allem hätte er damit seine Lehre von der Läuterung der Menschen auf den Prüfstand stellen müssen. In ihre Individualitätsformen zurückgekehrt, aus denen sie der Notfall für einen Moment hinausgeworfen hatte, hätten sie wieder in einem asymmetrischen Verhältnis der Ungleichheit zueinander gestanden. Selbst wenn Wasilij fortan gegen Nikita milder gestimmt gewesen wäre, hätte er in seinem eigenen Interesse diese Ungleichheit aufrechterhalten müssen, in der er sich Teile von Nikitas Arbeit als Gewinn angeeignet hatte. Auch hätte er Nikita entlassen müssen, wenn dieser nicht mehr funktionieren oder wenn den Herrn ein drohender Geschäftsrückgang dazu zwingen würde. Selbst der christlichste oder menschenfreundlichste Unternehmer müsste so handeln und könnte sich damit rechtfertigen, dass er zumindest einen Teil »seiner Hände« »in Lohn und Brot« halte, wenn er andere entlasse.

Die Probe, die Tolstoi durch den wunderbaren Schluss seiner Erzählung verweigert, lässt Bertolt Brecht in dem Stück »Der gute Mensch von Sezuan«, an dem er bis 1942 gearbeitet hat, durch drei Götter vornehmen, die in einem soziologischen Experiment überprüfen wollen, ob auf der Welt genügend (moralisch) gute Menschen leben, die zugleich ein gutes und menschenwürdiges Leben führen können, so dass die Welt so bleiben kann, wie sie ist. Beim Scheitern dieses Experiments müssten sie (und die Zuschauer) den Umkehrschluss ziehen, nämlich, dass die Welt verändert werden muss.⁴

»Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?« Als Versuchsperson wählen sie die Prostituierte Shen Te, der sie durch ein Geldgeschenk ermöglichen, einen Tabakladen zu erwerben. Shen Te merkt schnell, dass die von ihr freudig begrüßten ökonomischen Grundlagen für ihre Mildtätigkeit nicht ausreichen, um der Größe des Elends wirksam zu begegnen. Mehr noch: Ihre guten Taten gefährden die ökonomische Basis ihrer Existenz und Mildtätigkeit. Während sie weiterhin versucht, Gutes zu tun und freundlich zu sein, erfindet sie daher einen Vetter, Shui Ta, in dessen Rolle und hinter dessen Maske sie all das tut, was ihr die ökonomischen Verhältnisse diktieren: »Er« vertreibt die Obdachlosen, die sich in Shen Tes Laden niedergelassen und eingerichtet haben, und pfercht sie in eine Notunterkunft, in der sie billige Arbeitskräfte für die Fabrik werden, die er aufbaut. Er betrügt, lügt und erpresst, wie es auch die Unteren tun, um überleben zu können.

Unnötige Helden

Da also unabhängig von ihrer moralischen Disposition und sozialen Lagen die Menschen dazu gedrängt werden, unmoralisch zu handeln – das ist das, was Tugendhat die andauernde »Möglichkeit« des »lack of moral sense« nennt –, kommt es nicht auf die Befindlichkeit der Individuen an. Die Frage, ob sich ein Drecksack ändern kann, mag für die Mikrostruktur persönlicher Verhältnisse wichtig bleiben. Sie geht aber am Problem vorbei, wenn es um die Sozialstrukturen von Klassengesellschaften geht, die eben belohnen, dass Menschen Drecksäcke werden. Diese Strukturen verlangen eine kopernikanische Wende der Problemstellung von Saunders: Die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem in der Ökonomie, müssen so geändert werden, dass sie den Menschen erlauben, gute Kooperationspartner zu sein. Sie müssen »moralisches Handeln leicht machen, anstatt es zu einer Heldentat werden zu lassen« (Kurt Bayertz).

Das bedeutet aber zugleich auch, dass Egoismus (weitgehend) überflüssig wird, weil die nötige und zu befürwortende Eigenliebe sich nicht mehr gegen andere richten kann. »Ganz allgemein sollte gelten, dass jedes Land, in dem besondere Sittlichkeit nötig ist, schlecht verwaltet ist«, lässt Brecht seinen Me-ti sagen.⁵ Diese Überlegungen zum notwendigen und wünschenswerten Ende der Helden in der Moral und in anderen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens münden im Lob der »ganz gewöhnlichen Leute in Mittelgröße«. Brecht legt dieses Lob in den Mund des vor den Nazis geflohenen Physikers Ziffel.⁶ In solidarischen, menschenfreundlichen und -würdigen Verhältnissen und beim gegebenen Stand der Produktivität lebend, brauchen die Menschen nicht besonders tugendhaft, entsagungsvoll, fleißig oder tapfer zu sein, sie können auch einmal faul, feige, wehleidig, genusssüchtig, kurz: glücklich sein.

Anmerkungen

1 Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. München 2012

2 Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt am Main 1993, S. 61f.

3 Kurt Bayertz: Warum überhaupt moralisch sein? München 2006, S. 215ff.

4 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 4. Frankfurt am Main 1967, S. 1492

5 Brecht: Me-ti. Buch der Wendungen. In: ebd., Bd. 12, S. 456

6 Brecht: Flüchtlingsgespräche. In: ebd., Bd. 14, S. 1497. – Diese Ansicht hat einen Gegner in Ernst Jüngers reaktionärem, vorzivilisatorischem Anarchismus, der den Ausnahmezustand auf Dauer stellt. Jünger träumt vom heldenhaften Mann, vom Familienvater, der sich nicht auf die Verfassungsnorm der Unverletzbarkeit der Wohnung verlässt, sondern »der, von seinen Söhnen begleitet, mit der Axt in der Tür erscheint«, wenn es klopft. Ernst Jünger: Der Waldgang. Frankfurt am Main 1951, S. 109

Hans Otto Rößer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 23. Februar 2024 über Erich Kästner: »Lernt Schwimmen!«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Torsten Andreas S. aus Berlin (5. Mai 2025 um 13:36 Uhr)
    Die Literatur entwirft ein Modell des Lebens. Wir sollten einmal nachfragen, welche Formen, Arten, Realitäten der verschiedenen Literaturen sich hier bestimmt sehen: zum Thema passend – was heute als amerikanische Literatur gelehrt wird. Alle Sprachen und Äußerungen der UreinwohnerInnen Nordamerikas eingeschlossen. Aber mit dem ewigen Anspruch: USA = gesamt Amerika. Passend: Gorkis Bücher als Lebensmodell. Abba: Beispiele, egal wie viele, erklären kein Problem eines Modells.

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