EU-Aufrüstung per »Ausweichklausel«
Von Jörg Kronauer
Drei der fünf großen EU-Mitgliedstaaten weisen das Angebot der Kommission zurück, sich zwecks beschleunigter Aufrüstung stärker als eigentlich zulässig verschulden zu dürfen. Das zeigt eine Zwischenbilanz, die die EU-Kommission vergangene Woche gezogen hat. Das Angebot ist im Weißbuch der EU zur Zukunft der europäischen Verteidigung enthalten, das die Kommission am 19. März vorstellte. Es sieht vor, dass alle EU-Staaten Militärausgaben von bis zu 1,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung nicht auf ihre Schuldenquoten anrechnen müssen. Prinzipiell sind in der EU Schulden nur bis zu einem Gesamtstand von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und jährliche Neuschulden nur bis zu drei Prozent des BIP erlaubt. Die neue »nationale Ausweichklausel« soll den Spielraum für eine beispiellose Aufrüstung schaffen, ohne Sozialkürzungen in einer Höhe vornehmen zu müssen, die in der Bevölkerung zu ernster Unruhe führen könnte.
Laut Angaben aus Brüssel haben bis zum Ablauf der Frist am 30. April zwölf EU-Staaten in aller Form angekündigt, auf die »Ausweichklausel« zurückgreifen und entsprechend massiv aufrüsten zu wollen. Als erstes Land hatte dies Deutschland bei der Kommission angemeldet; es folgten unter anderem Polen, die baltischen Staaten, Belgien und Portugal, aber auch Ungarn und die Slowakei, die die antirussische Politik der EU nur beschränkt mittragen. Vier weitere Staaten haben angekündigt, sich bei der Kommission nachmelden zu wollen, die im Juli die zusätzlichen Rüstungsschulden formal absegnen will. Einige Mitgliedstaaten, etwa die Niederlande und Schweden, sind so niedrig verschuldet, dass sie auch ohne Rückgriff auf die »Ausweichklausel« für immense Summen Waffen kaufen können.
Nicht auf die »Ausweichklausel« zurückgreifen wollen vor allem drei Staaten: Frankreich, dessen Schulden sich aktuell auf gut 110 Prozent des BIP belaufen, Italien, bei dem die Schuldenquote rund 136 Prozent erreicht, und Spanien, bei dem sie zuletzt auf ungefähr 108 Prozent anstieg. Die Regierungen der drei Länder fürchten, wenn sie sich noch stärker verschuldeten, dann könnten die Risikoaufschläge auf ihre jeweiligen Staatsanleihen steigen und zu einer Schuldenkrise führen, wie sie die EU bereits Anfang der 2010er Jahre erlebte. Sie sprechen sich deshalb für die Aufrüstung mit EU-Mitteln aus, die etwa durch Euro-Bonds beschafft werden könnten. Diese wiederum werden seit eh und je von Berlin blockiert.
Die faktische Spaltung des Staatenkartells beim Rückgriff auf die »Ausweichklausel« ist vor allem deshalb politisch folgenreich, weil sich Deutschland dank der Klausel eine vollkommen ungehemmte Aufrüstung leisten kann, während Frankreich, dessen Streitkräfte bislang als schlagkräftiger galten, sich aufgrund der erwähnten Umstände eher zurückhalten muss. Damit rückt das Ziel Berlins, die Bundeswehr zur Nummer eins innerhalb der EU hochzurüsten, in Reichweite.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Mai 2025 um 22:50 Uhr)Zeit für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur, jedoch ohne Hochrüstung! Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen über drei Jahre. Doch noch immer dominiert das Denken in militärischen Kategorien: Aufrüstung statt Diplomatie, Abschreckung statt Verständigung. Wer jedoch einen dauerhaften Frieden will, muss auch die europäische Sicherheitsordnung neu denken – und zwar gemeinsam mit Russland und ohne Hochrüstung. Die bisherigen Wege, geprägt von Hochrüstung und gegenseitigem Misstrauen, haben keine Stabilität gebracht. Im Gegenteil: Sie haben Gräben vertieft. Wäre Abrüstung, gepaart mit diplomatischer Neutralität und ohne neue Bündniszwänge, nicht der nachhaltigere Weg? Europa hat seinen geopolitischen Zenit möglicherweise überschritten. Gerade deshalb braucht es eine strategische Neuausrichtung. Gemeinsam mit Russland könnte Europa ein ernstzunehmender wirtschaftlicher und politischer Pol im globalen Gefüge werden – als Gegengewicht zu Nordamerika, China und dem Indopazifik. Ohne Russland riskiert Europa ökonomische Marginalisierung, Russland hingegen droht – isoliert – in die völlige Abhängigkeit Chinas zu geraten. Es ist Zeit für eine europäische Politik des Friedens. Zeit, die militärische Logik hinter sich zu lassen. Sicherheit entsteht nicht durch Panzer, sondern durch Vertrauen. Es braucht Mut, alte Denkmuster zu hinterfragen, Feindbilder zu überwinden – und eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Wirtschaftsordnung zu entwickeln. Nicht in Konfrontation, sondern in Kooperation liegt die Zukunft Europas.
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vom 05.05.2025