»Man hört nie auf, der zu sein, der man war«
Von Irmtraud Gutschke
Ein Buch, verfasst wie ein Vermächtnis. Aber nicht zum Ruhme der eigenen Person, wie es oft bei Memoiren ist, sondern um das eigene Leben zu begreifen. Aus einem Abstand zu sich selbst, was wohl nur wenigen gelingt. Wolfgang Engler, bekannt durch seine glänzenden soziologischen Analysen – »Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land«, »Die Ostdeutschen als Avantgarde«, »Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus«, »Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen«, um nur einige zu nennen – hat einen Text geschrieben, den ich so nicht erwartet hätte. Kein Sachbuch, sondern eine essayistische Erzählung, in deren Titel zugleich Inhalt und Machart stecken: »Brüche«. Aus neunzehn Texten entsteht das Mosaik eines Lebens in seiner Zeit. Unvermutet schon der Beginn: Das Kapitel »Ein Schlag ins Gesicht« zeigt den Autor in der Psychiatrie. »Das Virus war der Auslöser, aber nicht die Ursache eines Zustands, der mir schließlich keine andere Wahl ließ, als mich selbst dort einzuliefern.«
Frühere Prägungen
Verhohlenes, Verschwiegenes zum literarischen Thema zu machen – Wolfgang Engler ist nicht der erste, der das tut. Aber als Wissenschaftler will, muss er durchdenken, was ihm geschieht. Wie er sich an Kindheitsscham erinnert, hat vielleicht mit therapeutischer Ermunterung zu tun. Ebenso mit Lektüre. »Anleitung ein anderer zu werden« von Édouard Louis hatte er als einziges Buch mit in die Klinik genommen. »Sozialer Aufstieg, Seitenwechsel, Klassenverrat, Rache – französische Autoren besitzen eine besondere Affinität zu diesen Themen«, die er nun ganz persönlich nimmt.
»Man hört nie ganz auf, der zu sein, der man einmal war.« Wer dieses Buch liest, kann dem Autor nur zustimmen. Aber wer war, wer ist man? Mit schonungsloser Aufrichtigkeit tritt Wolfgang Engler sich selbst gegenüber, erzählt von seiner Kindheit, seinem Schulalltag in der DDR. »Wir waren Kinder der Ordnung.« Und einige Seiten weiter: »Wir lebten immer in der Zukunft.« Wie ist es, wenn einem dieses Zukunftsgefühl abhandenkommt? Es wird ihm durchaus klar gewesen sein, dass er mit seinen persönlichen Erinnerungen die DDR erklärt. Auch und vor allem vielleicht sogar denen, die sie nicht kannten. Und immer noch nicht kennen wollen, die von oben herab urteilen und von uns aus dem Osten als Bedingung für ein Mitreden Distanzierung verlangen. Wie können sich heutige und frühere Prägungen vermischen, ist die Frage.
Die stellt sich besonders scharf, weil es für die Ostdeutschen diesen Systemwechsel gab. Von einer Ideologie in die andere, die beide Anpassung forderten. Sich das in Bezug auf Persönlichstes bewusst zu machen, kann Selbstbilder erschüttern. Aber Menschen werden in Verhältnisse hineingeworfen und sind nur bedingt frei, sich ihren Platz darin auszusuchen. Die meisten schwimmen einfach mit, aber manche rudern besonders schnell im Wunsch nach besseren Plätzen. Dieses Rudern ist heute besonders hektisch, denn wer sich nicht anstrengt, geht unter. In einer »Gesellschaft der sozial weitgehend Gleichen«, wie Engler schreibt, war solche Bedrohung zwar weniger stark, aber es gab dennoch den »Kampf um Unterschiedsgewinne«.
Die »arbeiterliche Gesellschaft« der DDR, dieser von ihm geprägte Begriff wird hier noch einmal ausführlich und fasslich erklärt. Der Werktätige war nicht »Arbeitnehmer«, sondern »Arbeitsplatzbesitzer«. Gewinn zu erwirtschaften, »war weder Bedingung für das Arbeitsverhältnis des einzelnen noch für die Existenz der Betriebe«. Das Recht auf Arbeit stand in der Verfassung, und das Arbeitsgesetzbuch (in der BRD gibt es kein solches!) enthielt weitreichende Garantien. Heute absolut undenkbar ist »die enge Verbindung von Arbeit und Kultur«. Da spricht Wolfgang Engler sogar von einem »Kultursozialismus«, der sich in Stadt und Land gleichermaßen entwickelte und der, rein betriebswirtschaftlich gesehen, »geradezu verschwenderisch« war.
Der wirtschaftliche Kahlschlag nach 1990 »entwertete die Erfahrungen und Kompetenzen von Millionen Ostdeutschen. Jetzt gab es Konkurrenz, Gewinner und Verlierer, und beinahe jede und jeder mussten sich neu einsortieren.«
Auch der Autor selbst, der allein schon durch seinen Reisepass in der DDR ein Herausgehobener war. Steile Karriere: EDV-Facharbeiter, Studium der Philosophie, Promotion; und vom Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR der Sprung zum Institut für Schauspielregie, wo er es über die Jahre bis zum Rektor der Schauspielhochschule »Ernst Busch« brachte. Dazwischen immer wieder Gastdozenturen im Ausland. »Vielleicht sah ich nicht herab, aber ich sah weg, hörte weg, als die arbeiterliche Gesellschaft zertrümmert wurde. Sah weg, als der kollektive Protest der Ostdeutschen gegen die Enteignung losbrach.« Nicht sofort als Ostdeutscher identifiziert zu werden, empfand er mitunter gar als Lob. »Ich schwebte über den ›Lagern‹ …« Sich »den Herrschenden als Sachverständiger« empfehlen – das war sein Erfolgsrezept.
Chance zum Aufbruch
Aber wie kann, wie darf denn im bundesdeutschen Mainstream über die DDR geredet werden? Wem wird da eine Stimme gegeben? Und was geschieht mit einem selbst, wenn man Konzessionen macht? Wie skandalös abseitig es ist, auf welch selbstverständliche Weise Westdeutsche unter sich bleiben, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht, wurde einmal mehr in den Debatten nach der Bundestagswahl deutlich. Immer noch dieser Alleinvertretungsanspruch, immer noch das Angelernte aus Zeiten des Kalten Krieges. Wie dadurch ostdeutsches Ressentiment herausgefordert wird, nicht mal das wird ihnen bewusst. Aber auch Ohnmachtsgefühle und Groll werden ja inzwischen politisch bewirtschaftet. Wolfgang Engler führt uns vor Augen, »Wer wir sind«. So hieß das Buch, das er 2018 zusammen mit Jana Hensel veröffentlichte. Wichtiges hat er geleistet, damit wir sehen, welches kulturelle Kapital uns dennoch bleibt, auch wenn es uns am ökonomischen fehlt. Sein neues Buch baut auf den früheren auf und weist doch darüber hinaus. Wir erleben keinen gebrochenen Mann. Sich Brüche bewusst zu machen bietet schließlich die Chance zu neuem Aufbruch.
Von Philosophen wie Luhmann, Lyotard, Bourdieu bis zur Spitzeljagd Anfang der 90er Jahre, von der Frage nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bis zum Ukraine-Krieg reichen des Autors Überlegungen. Verbunden mit Erinnerungsarbeit, in der er sich nicht verlieren, mit Selbstauseinandersetzung, die ihn nicht noch weiter ins Dunkle treiben durfte. Am Schluss steht »Nach uns«, beginnend mit einem Gedanken des Soziologen Norbert Elias: Was von einem Menschen »überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat«. Vielleicht meint Wolfgang Engler, sein letztes Buch geschrieben zu haben. Aber nicht nur ich will hoffen, dass er mit 73 Jahren uns noch einiges zu geben hat. Lesen, forschen, denken – so lange wir lebendig sind.
Wolfgang Engler: Brüche – Ein ostdeutsches Leben. Aufbau-Verlag, Berlin 2025, 347 Seiten, 22 Euro
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- dts Nachrichtenagentur/IMAGO18.01.2025
Osten auf der Streichliste
- Montecruz Foto07.10.2024
Über allem stand der Frieden
- imagebroker/imago07.10.2023
Nördlicher Mezzogiorno
Mehr aus: Feuilleton
-
Aus dem Beinhaus
vom 02.05.2025 -
Am Ende versöhnt
vom 02.05.2025 -
Zum Knuddeln süß
vom 02.05.2025 -
Nachschlag: Azrael
vom 02.05.2025 -
Vorschlag
vom 02.05.2025