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Aus: Ausgabe vom 25.11.2024, Seite 11 / Feuilleton
Nahost

Routinierte Empörung

Nächster Skandal: Die Fotografin Nan Goldin kritisiert in Berlin den Gazakrieg
Von Peter Merg
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Die Empörung von Politik und Kulturinstitutionen kam wie auf Knopfdruck. Dabei ist schon lange bekannt, dass sich die US-amerikanische Fotokünstlerin Nan Goldin für die Rechte der Palästinenser einsetzt. Dass sie die Eröffnung einer ihr gewidmeten Retrospektive in der Neuen Nationalgalerie in Berlin am Freitag dazu nutzte, gegen die israelische Kriegführung in Gaza und Libanon zu protestieren, konnte also kaum überraschen. Dass der Anlass ein ebenfalls palästinasolidarisches Publikum anzog, auch nicht.

Doch die Aufregung ist mal wieder groß, man möchte meinen: routiniert. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) und Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) bezeichneten Goldins Rede als »unerträglich« respektive »kaum hinnehmbar«. Der Vorwurf: »geschichtsvergessene Einseitigkeit« (Chialo). Dass sich der Direktor der Neuen Nationalgalerie, Klaus Biesenbach, mit seiner Entgegnung zunächst nicht Gehör verschaffen konnte gegenüber Zuhörern, die »Freiheit für Palästina« forderten – aggressives »Niederbrüllen« und »nicht unser Verständnis von Meinungsfreiheit«, wie sich Hermann Parzinger ausdrückte, der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zu der die Nationalgalerie gehört. Was er verschweigt: Biesenbach konnte seine zu Protesten wenig Anlass gebende, lauwarme »Einerseits, andererseits«-Rede ein zweites Mal halten, man hörte ihm zu.

Die 71jährige Nan Goldin ist eine der angesehensten Fotokünstlerinnen der Gegenwart, die Retrospektive »This Will Not End Well« (bis 6. April 2025) zeigt die Breite ihres Werkes, behandelt jedoch nicht den Nahostkonflikt. Goldin begann ihre Rede mit einer vierminütigen Schweigepause, um der Toten in den palästinensischen Gebieten und im Libanon sowie der ermordeten Zivilisten in Israel zu gedenken. Anschließend erklärte sie: »Ich habe mich entschlossen, diese Ausstellung als Plattform zu nutzen, um meine moralische Empörung über den Völkermord im Gazastreifen und im Libanon zu bekräftigen.« Deutschland sei die Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas, »dennoch werden Proteste mit Polizeihunden bekämpft«.

»Hast du Angst, das zu hören, Deutschland? Dies ist ein Krieg gegen Kinder«, sagte Goldin, die selbst Jüdin ist: »Meine Großeltern entkamen den Pogromen in Russland. Ich bin mit dem Wissen über den Naziholocaust aufgewachsen. Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind.« Und ergänzte: »Die gesamte Infrastruktur Palästinas ist zerstört worden. Die Krankenhäuser, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken. Es ist auch ein kultureller Völkermord. Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?«

Weil, wenn die Waffen sprechen und die Musen nicht schweigen wollen, man sich noch immer die Ohren zuhalten und laut »Vor diesen radikalen Äußerungen werden wir nicht weichen« singen kann. Oder den Künstlern das Wort verbieten. Nicht wahr, Herr Chialo?

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