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Aus: Ausgabe vom 09.09.2024, Seite 15 / Politisches Buch
Geschichte der Sozialdemokratie

Die unmögliche Idee

Kein Material für sozialdemokratische Apologetik: Eine biographische Studie über Rudolf Breitscheid
Von Leo Schwarz
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Banner bei einer Demo in Gelsenkirchen (16.4.1971)

Rudolf Breitscheid gehört zu den interessanteren Politikern aus der ersten Reihe der SPD in der Zwischenkriegszeit. Er dürfte auch der einzige sein, nach dem sowohl in der DDR als auch in der alten Bundesrepublik Straßen und Plätze benannt worden sind – wobei es wohl nur in der DDR tatsächlich so war, dass auch viele Menschen außerhalb der historischen Zunft ein oder zwei Dinge über Breitscheid wussten.

80 Jahre nach seinem Tod im KZ Buchenwald ist nun eine Biographie des einstigen Chefs der SPD-Reichstagsfraktion erschienen. Verfasst hat sie der Journalist Peter Pistorius. Für ihn ist es die Rückkehr zu einem vertrauten Gegenstand: Ende der 60er Jahre wurde er an der Kölner Universität mit einer biographischen Studie über Breitscheid promoviert. Eine nennenswerte Deutungskonkurrenz hat sich seither nicht eingestellt – diese Arbeit blieb die einzige umfassende Darstellung in der Bundesrepublik.

Das nun im Marburger Schüren-Verlag herausgekommene Buch, das der Autor als »überarbeitete und gestraffte Fassung« seiner damals nicht veröffentlichten Dissertation bezeichnet, ist weniger eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stoff als eine von Sympathie getragene Darstellung der »glanzvollen« und »tragischen« Abschnitte in Breitscheids Leben, die sich an ein breiteres Publikum richtet. Die Feststellung von Pistorius, zum Erkenntnisstand der 60er Jahre zu Breitscheid sei seither »wenig umstürzend Neues« hinzugekommen, ist ein bisschen waghalsig – die Forschungen etwa zum deutschen Exil oder zur Parteigeschichte der SPD in den 20er und 30er Jahren sind zwischenzeitlich doch etwas vorangekommen. Eher darf man diese Aussage als Bekundung des Autors ansehen, dass er seine Auffassungen nicht wesentlich modifiziert hat.

Da Breitscheids Leben aber eben nicht durchgehend Material für die übliche sozialdemokratische Apologetik liefert, ist das nicht unbedingt ein Schaden. Vorangestellt ist dem Text ein Interview mit dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Martin Schulz, in dem darauf hingewiesen wird, dass sich die westdeutsche SPD »Breitscheid gegenüber eher distanziert verhalten hat«, da schon der Prager Exilvorstand Breitscheids Versuche, im Pariser Exil ein antifaschistisches Bündnis unter Einschluss der KPD zu organisieren, »mit größtem Misstrauen« betrachtete. Schulz bevorzugt die Erklärung, dass die »dominante Persönlichkeit« Kurt Schumachers hier das Problem war.

Breitscheid, das wird bei Pistorius deutlich, war eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Erscheinung. Er war ein rhetorisch und publizistisch hoch befähigter Politiker mit Prinzipien und bürgerlichem Habitus (»Lord Breitscheid«), der den Weg vom Linksliberalismus zum Sozialismus ging – der Normalfall war im 20. Jahrhundert und ist noch im 21. Jahrhundert der umgekehrte Weg – und sich wenige Jahre später in der USPD wiederfand. 1920 rief er als Reichstagsabgeordneter »unseren Brüdern in Sowjetrussland unsern Gruß und unsern Glückwunsch« zu, um kurz danach den Beitritt der USPD zur Kommunistischen Internationale entschieden abzulehnen und 1922 zur SPD zurückzukehren.

Von da an machte er »Politik auf dem Boden der Republik«, was ihn ab 1930 in die Duldung des autoritären Notverordnungsregimes führte. Sein Redetalent stellte er bei unterschiedlichen Gelegenheiten in den Dienst antikommunistischer Polemik. Noch am 31. Januar 1933 wandte er sich im Parteiausschuss gegen das »Spiel mit der meiner Meinung nach unmöglichen Idee einer Diktatur des Proletariats«. Diese verhängnisvolle Rede zielte – ganz auf der Linie des Parteivorstandes – gegen jeden Gedanken einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten: Zwar wolle man eine »Einheitlichkeit der Arbeiterschaft«, aber keine »Einheitlichkeit mit der Kommunistischen Partei und deren Leitern«. Bezeichnend ist, dass gerade der Umstand, dass Breitscheid späterhin zu anderen Auffassungen kam, für die Nachkriegs-SPD ein Problem war.

Interessant ist der Hinweis von Pistorius, dass Breitscheid Tagebücher hinterlassen hat, zu deren Freigabe sich die 1968 verstorbene Witwe seinerzeit nicht habe »entschließen können«. Heute sind diese Aufzeichnungen verschollen.

Peter Pistorius: Rudolf Breitscheid 1874–1944. Kampf um Wahrheit und Macht. Schüren, Marburg 2024, 232 Seiten, 28 Euro

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