Detektiv der Wirklichkeit
Von Matthias Reichelt»Notate« nennt Ralf B. Korte seine meist in größeren Absätzen formulierten Gedanken, Assoziationen, Beobachtungen und Teile aufgeschnappter Gespräche, die er in seinem Buch mit dem doppelbödigen Titel »tagewaise« im Jahr 2023 veröffentlichte. Man könnte es als Tagebuch bezeichnen, mit Einträgen, die freilich zu lang sind, um als Aperçu durchzugehen, obgleich Kortes Reflexionen einer aphoristischen Charakteristik als »geistreicher Bemerkung« in nichts nachstehen.
Seine Notate sind Aufnahmen politischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit in einer Zeit, in der die »Kriegstauglichkeit« propagiert und auf allen Ebenen eingeübt wird. Autobiographische Bemerkungen mischen sich mit klugen und aufmerksamen Beobachtungen zu dem Irrsinn des Stadtumbaus mit Gentrifizierung und Vertreibung durch Kapitalisierung – zu einer alles durchdringenden Werbung und Marktgängigkeit.
Und immer wieder blitzt der Ukraine-Krieg in den Texten auf, die durchgängig in Kleinschreibung gehalten sind, als ob die kleine literarische Form ihre Entsprechung in der Schreibweise finden müsste. Faktisches, Zitate aus Nachrichten oder Büchern, etwa aus Eva Illouz’ »Gefühle in Zeiten des Kapitalismus« oder Grégory Pierrots »Dekolonisiert den Hipster«, Gedanken zu Luhmann, Theorien über Netzwerke, über den Poststrukturalismus, ziehen stets Kortes eigene Verarbeitung des Gelesenen in Form von Reflexionen, Selbstbefragungen, weiterer Beobachtung nach sich.
Es sind dichte Texte, die manches Mal fast schon ins Poetische gleiten und als sich nicht reimende Lyrik laut gelesen werden könnten. Einige Sätze sind haikuhaft kurz, einige Absätze, beinahe ohne Interpunktion auskommend, Aneinanderreihungen kritischer Anmerkungen zu gesellschaftlicher Entwicklung, Deformation, Zurichtung für eine vollständig ökonomisierte Wirklichkeit. Korte schreibt: »in einem geschäftshaus an der friedrichstrasse ist das dach ausgebaut wie fast alles übergebaut ist inzwischen auf diese nachwendekriegsreparatur vorübergehend erhabener adressen.« Der komplizierte Satz ist beispielhaft für die Verdichtung von Beobachtung, Reflexion und Geschichte, die sich zuhauf in Kortes Notaten finden.
Unmöglich, das weite politische und philosophische, kulturanthropologische wie popgeschichtliche Feld zu umreißen, das Korte hier »beackert«. Assoziationen über den Internetwahnsinn, Anglizismen, modische Wendungen in der Sprache durchziehen die Texte, die Sprache wird seziert, der Sprachwitz kommt nicht zu kurz. Bei seinen Gängen durch die Stadt und ihre Kieze »lauscht« er Menschen, hängt eigenen Gedanken und Assoziationen nach und bringt all das einem Stream of Consciousness gleich in hochkondensierter Form zu Papier. Ein Detektiv auf den Spuren der Wirklichkeit ist er. Nichts weniger.
Ralf B. Korte: tagewaise. notate. Ritter-Verlag, Klagenfurt 2023, 160 Seiten, 23 Euro
Solidarität jetzt!
Das Verwaltungsgericht Berlin hat entschieden und die Klage des Verlags 8. Mai abgewiesen. Die Bundesregierung darf die Tageszeitung junge Welt in ihren jährlichen Verfassungsschutzberichten erwähnen und beobachten. Nun muss eine höhere Instanz entscheiden.
In unseren Augen ist das Urteil eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit in der Bundesrepublik. Aber auch umgekehrt wird Bürgerinnen und Bürgern erschwert, sich aus verschiedenen Quellen frei zu informieren.
Genau das aber ist unser Ziel: Aufklärung mit gut gemachtem Journalismus. Sie können das unterstützen. Darum: junge Welt abonnieren für die Pressefreiheit!
Mehr aus: Feuilleton
-
Im Kummer vereint
vom 15.08.2024 -
Das übliche Schlachtvieh
vom 15.08.2024 -
Sommerliche Schlössertour: Wernigerode
vom 15.08.2024 -
Nachschlag: »Tiefer Staat«
vom 15.08.2024 -
Vorschlag
vom 15.08.2024