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Aus: Ausgabe vom 25.05.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Krieg gegen Gaza

Khan klagt an

Vom Internationalen Strafgerichtshof beantragte Haftbefehle gegen israelische Führung und Hamas-Spitze verdeutlichen Doppelmoral Berlins
Von Wiebke Diehl
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Gegenüber den USA und Israel braucht man Chuzpe: Chefankläger Karim Khan (Caracas, 22.4.2024)

Es war ein Paukenschlag: Am Montag beantragte Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Joaw Gallant und drei hochrangige Hamas-Mitglieder. Jahja Sinwar, Gazachef der Hamas, dem Anführer ihres militärischen Flügels Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (Mohammed Deif) und dem Leiter ihres Politbüros Ismail Hanija wirft Khan Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit vor. Sie trügen die Verantwortung für Mord, Ausrottung, Geiselnahme, Vergewaltigung und andere Akte sexualisierter Gewalt, so die Erklärung des Chefanklägers auf der offiziellen Webseite des IStGH. Außerdem werden ihnen Folter, andere unmenschliche Handlungen, grausame Behandlung sowie Verletzung der persönlichen Würde vorgeworfen.

Netanjahu und Gallant sollen demnach ebenfalls wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit strafverfolgt werden, die »auf dem Territorium des Staates Palästina (im Gazastreifen) ab mindestens dem 8. Oktober 2023« begangen worden seien. Explizit erwähnt werden das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegführung, das vorsätzliche Verursachen großer Leiden oder schwerer Körper- und Gesundheitsverletzungen, vorsätzliche Tötung, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausrottung und/oder Mord sowie Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen. Man gehe davon aus, dass die Verbrechen im Rahmen eines »weitreichenden und systematischen Angriffs auf die palästinensische Zivilbevölkerung gemäß der Staatspolitik« und »im Rahmen eines gemeinsamen Plans« begangen wurden, so die Erklärung, die detailliert auf die von Israel verhängte, im Zentrum der Argumentation stehende Komplettblockade gegen den Gazastreifen eingeht, weiter.

Der Zivilbevölkerung in Teilen Gazas seien »absichtlich und systematisch Gegenstände vorenthalten« worden, »die für das menschliche Überleben unverzichtbar sind«, darunter Nahrungsmittel und Medikamente, Wasser und Strom. Israel habe »Hunger als Kriegsmethode« und Kollektivstrafen angewandt, in einigen Gebieten Gazas herrsche bereits eine Hungersnot, in anderen drohe eine solche auszubrechen. Genannt werden auch israelische Angriffe auf humanitäre Helfer sowie ein Zitat von UN-Generalsekretär António Guterres, der von einer »menschengemachten Katastrophe« und der »höchsten jemals registrierten Zahl« hungernder Menschen gesprochen hat. Zum Vorwurf des Völkermords, den unter anderem Südafrika vor den Internationalen Gerichtshof (IGH), das Hauptrechtssprechungsorgan der Vereinten Nationen, gebracht hat, äußerte sich Khan nicht.

Über den Antrag des Chefanklägers hat jetzt eine aus drei Richtern zusammengesetzte Kammer des IStGH zu entscheiden, eine festgelegte Frist gibt es dafür nicht und die Kammer kann auch Haftbefehle nur über Teile des Antrags ausstellen. Aufhalten kann Israel das Verfahren, indem eigene Ermittlungen aufgenommen werden, denn Untersuchungen des IStGH sind nationalen Ermittlungen nachrangig. Dabei müsse es sich aber um ein »unabhängiges, unparteiisches Gerichtsverfahren« handeln, betonte Khan. Auch der UN-Sicherheitsrat hat die Möglichkeit, eine Untersuchung oder Strafverfolgung um ein Jahr aufzuschieben – mit der Option auf Verlängerung. Darüber hinaus könnte politischer Druck seine Wirkung erzielen: Khan hatte kurz nach seiner Wahl zum Chefankläger des IStGH die Ermittlungen seiner Vorgängerin Fatou Bensouda zu von US-Soldaten in Afghanistan begangenen Kriegsverbrechen eingestellt. Zuvor hatte die Trump-Administration Sanktionen gegen Bensouda verhängt.

Dass sich die Bundesregierung durch die Haftbefehle in ein Dilemma gebracht fühlt, zeigt ihr lautes Schweigen. Auf Nachfrage sieht sich Regierungssprecher Steffen Hebestreit zwar gezwungen, die eigene Verpflichtung, »Recht und Gesetz« einzuhalten, zu beteuern. Er will auch nicht ausschließen, dass Deutschland einen Haftbefehl gegen den israelischen Premier vollstrecken würde. Zugleich aber fordert man vom IStGH trotz der von Khan bereits durchgeführten ausführlichen Prüfung Beweise für die gegen Tel Aviv erhobenen Vorwürfe. Schließlich handle es sich bei Israel um einen »demokratischen Rechtsstaat mit einer starken, unabhängigen Justiz«. Der nach Auffassung der Bundesregierung erweckte »unzutreffende Eindruck« einer Gleichsetzung Israels mit der Hamas sei unzulässig. Die aktuelle wie auch vorherige Bundesregierungen haben sich – wo politisch genehm – mit ihrer Unterstützung des IStGH und der internationalen Gerichtsbarkeit gebrüstet. Ihre trotz der israelischen Verbrechen im Gazastreifen weiter praktizierte Nibelungentreue zu Tel Aviv allerdings verträgt sich damit schlecht. Das gilt nicht zuletzt, weil die klaren Worte Khans auch ein neues Licht auf die Berlin vorgeworfene und von Nicaragua vor den IGH gebrachte Beihilfe werfen, die sich insbesondere in Waffenlieferungen, aber auch der bedingungslosen politischen Unterstützung für Israel manifestiert.

International isoliert sich die Ampelkoalition mit ihrer Politik der Doppelstandards immer weiter. Und auch innenpolitisch hat die Erklärung Khans die Bundesregierung diskreditiert. Das gilt für ihre Diffamierung der Studentenproteste wie auch für aus ihrer Mitte vorgetragene, oft haltlose Antisemitismusvorwürfe und Repressionen gegen jegliche Kritik an israelischen Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen – die der IStGH-Ankläger am Montag in unmissverständlicher Deutlichkeit bestätigt hat.

Hintergrund: Palästina und der IStGH

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag wurde im Jahr 1998 gegründet und nahm zwei Jahre später die Arbeit auf. Seine vertragliche Grundlage ist das Römische Statut. Als vertragsbasierter Gerichtshof ist der IStGH, der ausschließlich gegen Einzelpersonen ermittelt und in dessen Zuständigkeit die Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Angriffskriegen fällt, weitgehend auf die Anerkennung durch die Nationalstaaten angewiesen. Er kann grundsätzlich nur solche Verbrechen verfolgen, die auf dem Gebiet eines seiner Mitgliedstaaten (Territorialitätsprinzip), oder aber von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (aktives Personalitätsprinzip) begangen wurden. Unabhängig davon sind Ermittlungen auch nach Überweisung durch den UN-Sicherheitsrat entsprechend Artikel 13 und 14 des Römischen Statuts möglich.

Israel ist kein Vertragsstaat. Dass der IStGH im Gazakrieg dennoch ermitteln kann, ist Folge der langjährigen palästinensischen Bemühungen um Einbindung in völkerrechtliche Vertragssysteme. 2009, als Palästina lediglich mit einem allgemeinen UN-Beobachterstatus ausgestattet war, versuchte die Palästinensische Autonomiebehörde erstmals, eine Anerkennung der Zuständigkeit des Gerichts für auf dem Gebiet Palästinas begangene völkerrechtliche Verbrechen zu erreichen. Im Jahr 2012 allerdings befand der damalige IStGH-Chefankläger Luis Moreno Ocampo, als »Nichtstaat« könne sich Palästina nicht auf Artikel 12 des Römischen Statuts berufen.

Mit der Zuerkennung des Status eines UN-Beobachterstaates durch Resolution 67/19 der Generalversammlung änderte sich die Situation. Im Januar 2015 erklärte Palästina erneut seine rückwirkende Anerkennung der IStGH-Gerichtsbarkeit und hinterlegte eine Ratifikationsurkunde beim UN-Generalsekretär. Am 1. April 2015 trat das Römische Statut für Palästina in Kraft. (wd)

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  • Leserbrief von Hansonet (25. Mai 2024 um 10:52 Uhr)
    Der bürgerliche Humanismus gerät an die Grenzen des Kapitalismus/Imperalismus und dessen inhumanen Profitinteressen, der auch einen dritten Welkrieg als Option vorbereitet. Im Dunst von bewusstseinserweiternden Drogen und dem Urwunsch der Menschen friedlich zusammenzuleben, entand u. a. auch die Grüne Partei und das IStGH. Der bürgerliche Humanismus benebelte das Klassenbewusstsein dahingehend, dass selbst der Marxist Gorbatschow und Andere, von der Friedfertigkeit des Kapitals überzeugt waren.

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