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Aus: Ausgabe vom 07.05.2024, Seite 16 / Sport
Nachruf

Ein Maximum an Freiheit

Zum Tod des Fußballdenkers César Luis Menotti
Von Leonhard Furtwängler
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»Beim Fußball der Linken spielen wir nicht einzig und allein, um zu gewinnen, sondern um besser zu werden, um Freude zu empfinden, um ein Fest zu erleben, um als Menschen zu wachsen.« – César Luis Menotti

Mit einigem Recht galt er als Philosoph auf der Trainerbank: César Luis Menotti ging es nie nur ums Gewinnen, sondern immer auch um den möglichst eleganten Weg zum Sieg. »Der Ball ist für den Spieler, was für den Dichter die Worte sind: Am Fuß oder am Kopf kann er sich in ein Kunstwerk verwandeln«, sagte er einmal. »Der Fußball hat mir eine Möglichkeit gegeben, mich auszudrücken.« Jetzt ist der argentinische Weltmeistertrainer von 1978 im Alter von 85 Jahren gestorben.

»Eine der großen Figuren unseres Fußballs hat uns verlassen«, schrieb Argentiniens Fußballstar Lionel Messi auf Instagram. Lionel Scaloni, der 44 Jahre später die Albiceleste Ende 2022 in Katar zum dritten WM-Titel führte, schrieb: »Wir haben einen Meister des Fußballs verloren, danke für die liebenswerten Gespräche, mit denen du uns geprägt hast.« Auch im argentinischen WM-Triumph 2022 in Katar findet sich Menottis Handschrift. Sein Credo lautete: »Ein Minimum an Ordnung und ein Maximum an spielerischer Freiheit.« Menottis Philosophie sog auch ein Pep Guardiola nicht nur bei einem gemeinsamen Abendessen in einer Parrilla in Buenos Aires stundenlang auf. Seine Maxime »Gewinnen ist nicht das Einzige« spaltet die Argentinier jedoch bis heute angesichts des ergebnisorientierten Fußballs von Carlos Bilardo, Weltmeistercoach 1986.

Bereits mit seinem ersten Trainertitel 1973 mit dem Club Huracán in der argentinischen Liga definierte »El Flaco« (der Dünne) seinen Stil: »Offensiv, sauber, fröhlich« – im Gegensatz zu einem rein ergebnisorientierten Spiel. »In der Erinnerung bleiben die Teams, die mit gutem Spiel gewonnen haben«, sagte er einmal der Zeitung Clarín. Das sei »linker« Fußball. Im Gegensatz zum »rechten«, der Fußball nur kämpfen statt spielen will und dem Erfolg alles unterordnet. Menotti: »Beim Fußball der Linken spielen wir nicht einzig und allein, um zu gewinnen, sondern um besser zu werden, um Freude zu empfinden, um ein Fest zu erleben, um als Menschen zu wachsen.« Denn: »Der rechte Fußball denkt an Gewinnmaximierung, der linke an die Vermittlung von Lebensfreude.«

Dabei fällt Menottis größter Triumph ausgerechnet in die Zeit der Militärdiktatur in Argentinien. Von der Weltmeisterschaft 1978 im eigenen Land erhoffte sich die Junta um Diktator Rafael Videla internationale Anerkennung und Stabilität daheim durch Patriotismus. Und der Kommunist Menotti – er war in seiner Heimatstadt Rosario in die KP eingetreten – sorgte für den Erfolg: Im Finale setzte sich die Albiceleste mit 3:1 gegen die von Ernst Happel, einer anderen Trainerlegende des schönen Spiels, betreuten Niederlande durch und wurde erstmals Weltmeister. Nicht dabei war Diego Armando Maradona, dem Menotti im Jahr zuvor noch zu seinem Länderspieldebüt verholfen hatte. Der spätere Weltstar war damals gerade 16 Jahre alt, er führte das Nationalteam dann 1986 zum nächsten WM-Titel. Ohne Menotti.

Menotti kritisierte die Militärs zwar nicht offen, ließ seine Ablehnung der Junta aber ziemlich offen durchscheinen. »Es war ein unschlagbares Team, die Mannschaft des Volkes«, sagte er nach dem WM-Sieg. Und: »Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt.« Was eine versteckte Spitze gegen die Militärs war, keine Polemik gegen Strategie und Taktik auf dem Platz. Ohne Struktur keine Kreativität, belehrte ausgerechnet der Deutsche Joachim Löw bei der WM 2010 Menottis früheren Schützling Maradona, der als Trainer die Voraussetzungen des schönen Spiels ignoriert hatte.

Nach dem Scheitern der argentinischen Nationalmannschaft bei der WM 1982 in Spanien musste Menotti seinen Posten räumen. Mit dem FC Barcelona holte er 1983 den spanischen Pokal, den Ligapokal und 1984 die Supercopa, doch bei anderen Stationen, wie als Nationaltrainer Mexikos (1991–1992) oder bei seiner letzten Trainermission 2007 bei Tecos FC blieben die Erfolge aus. Im Alter von 80 Jahren erhielt Menotti noch mal einen Job beim argentinischen Fußballverband und wurde Generaldirektor der diversen Nationalmannschaften seines Landes.

Schon 2011 wäre der passionierte Raucher fast an einer Lungenentzündung gestorben. Jeden Morgen lag eine Schachtel Zigaretten auf seinem Tisch. Als der Kettenraucher bei zwei Packungen pro Spiel angekommen war, wollte der »Idiot« (Menotti über Menotti) dem Laster mit Lutschern ein Ende setzen: »Aber dann musste ich zum Zahnarzt, und ich habe den Versuch wieder eingestellt.«

Bis zuletzt war Menotti vor allem ein großer Erklärer und Liebhaber des Fußballs, der seine Gedanken in zahlreichen Kolumnen und Interviews formulierte. Er wetterte gegen die Marktlogik im Sport, gegen die Ökonomisierung des Spiels. Deren Folgen sah er klar: »Die Welt der Utopien ist gestorben. Wir leben in einer Nützlichkeitsgesellschaft, und da ist der Fußball zur Welt der großen Geschäfte verdammt. In der dritten Welt nimmt man den Menschen das Brot, in den Industrienationen stiehlt man ihnen die Träume.« Eine akute Anämie brachte ihn Ende März ins Krankenhaus, wo noch eine Thrombose hinzukam. Nun ist er tot. Was bleibt, sind sein Stil und seine Einsichten: »Fußball ist ein Spiel der Freiheit, der Visionen und Gefühle. Fußball macht mich glücklich. Wenn ich auf ein Fußballfeld komme, und dort liegt ein Ball, dann will ich mit ihm spielen. Das Stadion ist ein Ort der Kreativität.«

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  • Leserbrief von Falco aus capri (7. Mai 2024 um 15:32 Uhr)
    »Der rechte Fußball denkt an Gewinnmaximierung, der linke an die Vermittlung von Lebensfreude.« Der Mann hat nicht nur den Fußball verstanden!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Wilhelm W. aus Wien (7. Mai 2024 um 13:44 Uhr)
    César Luis Menotti ... stand für »linken« Fußball, schrieb die ZEIT anläßlich seines Todes. Wer ein bißchen mehr über den »Linkverbinder« Menotti erfahren will, dem sei Harald Irnbergers »César Luis Menotti - Ball und Gegner laufen lassen« empfohlen. Leider ist das Bändchen nur noch antiquarisch erhältlich.

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